Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1
Jochen Siemens hat als Teenager
auch traurige Songs gehört, fühlte
sich aber vom gelassensten Lied der
Popgeschichte besser verstanden:
„Let it Be“ von den Beatles. „Und wenn
die Nacht auch voller Wolken ist, ist da immer
noch ein Licht, das auf mich scheint“

Jugendlichen mit einer schon vorhandenen
Disposition kann so ein Traurigsein dann
natürlich auch mehr auslösen.“ Der Profes-
sor sieht aber große Fortschritte in seinem
Alltag. „Ich führe Gespräche mit jugendli-
chen Patienten, die wären vor 20 Jahren so
nicht möglich gewesen. Viele können sehr
genau und reflektiert von sich berichten“,
sagt er. Es seien junge Menschen, die ihre
Störungen gut kennen und die nun daran
arbeiten, sie zu sie beheben. Schämen tue
sich da kaum jemand. „Ich nehme manche
Patienten auch mit zu Vorlesungen, und ich
kann nur sagen: So wie die reden, die ro-
cken den Saal. Und wenn auch diese Musik
sie dazu animiert, ist das nur gut.“

Die Keller der Seele


Wir müssen uns also keine Sorgen machen,
wenn es aus den Airpods auf den Schulhö-
fen klingt wie aus den Kellern der Seele.
Oder wenn eine Billie Eilish im Video zu
dem Lied „Everything I Wanted“ in einem
Auto im Pazifik versinkt. Selbstmord als
Popereignis?
Nein, sagt der Psychiater Schulte-Mark-
wort, „das müssen wir trennen. Die Vor-
stellung, was wäre, wenn ich tot wäre, ist
eine Vorstellung, die viele junge Menschen
mal haben. Es aber tatsächlich zu versu-
chen oder es auch zu machen hängt wie-
der von der Disposition ab. Wer nie an
einen Selbstmord gedacht hat, wird auch
von Billie Eilish nicht dahin getrieben. Wer
schon mal daran gedacht hat, weil er oder
sie auf sich hinweisen will, wir nennen das
den appellativen Suizidversuch, den be-
handeln wir.“ Schulte-Markwort sagt, dass
von 40 solcher Versuche einer gelinge. Ins-
gesamt sei die Zahl aber bei Jugendlichen
rückläufig. Er habe sogar das Gefühl, dass
die Macht von Social Media abnehme: „Das
haben viele schon durchschaut, weil sie
darüber sprechen.“
Teenager seien nicht dumm, im Gegen-
teil. „Über die Schwäche zu reden kann
stark machen, das haben da viele verstan-
den“, so Schulte-Markwort.
Und Lauv kündigt an, dass er in diesem
Jahr auf Tournee gehe und in jeder Stadt,
in der er spielt, ein Krankenhaus oder eine
Einrichtung besuchen werde, die mit De-
pressiven arbeitet.
„Einfach mal reden“, sagt er. 2

te er nicht, warum für ihn der Himmel grau


war, wenn oben das Blau strahlte und die


Sonne schien.


Lauv unterhält sich sehr vernünftig über

all das – ein Popstar, der zugibt, nicht


auf alles eine fertige Antwort zu haben. Er


erzählt etwa, dass sein Gemüt sehr ins


Schlingern kam, als der Ruhm begann. „Da


lieben und liken dich auf einmal sehr viele


Menschen, aber du denkst: Wen liebt ihr


da? Ihr kennt mich doch gar nicht. Ich ken-


ne mich selbst noch nicht einmal.“


Er habe viele seiner Freunde nicht mehr

gesehen, sei nur noch gereist und auf Büh-


nen gestanden. Ein Publikum applaudiert


und jubelt, aber ist es auch ein Freund? Ein


Freund, mit dem man reden kann? Nein.


„Ich ...“ und er sucht ein wenig die Worte,


„ich habe mit meinen Songs angefangen,


weil ich mich in der Musik ausdrücken


konnte. Ich liebe es, im Studio zu sitzen und


zu spielen. Das was dann kam, roter Tep-


pich und so, interessiert mich nicht.“


Die Krankheit vom Stigma befreien


Lauv hat bald gespürt, welche Tore er bei


seinem Publikum öffnet. Die vielen „Trau-


rig“-Zettel wurden ihm zum Ansporn. „Es


ist doch gut, wenn immer mehr darüber


sprechen und wenn sie so die Krankheit


von Stigma und Schweigen befreien“, sagt


er. Neulich hat Lauv alle Einnahmen aus


seinem Song „Sad Forever“ an Organisatio-


nen gespendet, die sich um Depressionen


bei Jugendlichen kümmern. Auf seiner
Homepage gibt es einen „Help“-Bereich
mit zahlreichen Hotline-Nummern für
den Notfall. „Wenn du das selbst hast, wenn
du dich immer depressiv fühlst, sieht das
erst mal nicht wie eine Krankheit aus, und
viele Eltern oder Freunde verstehen dich
nicht. Deshalb müssen es einem diejeni-
gen erklären, die sich auskennen.“
In Hamburg leitet Professor Michael
Schulte-Markwort die Jugendpsychiatrie
des Universitätsklinikums. Er kennt Bil-
lie Eilishs Lieder. „Über sie freue ich mich
sehr, weil das kostenlose Anti-Stigma-
Arbeit ist, die uns sehr helfen kann.“ Auch
in Deutschland liege die Zahl der depres-
siv auf fälligen Jugendlichen stabil bei
etwa 20 Prozent. Aber: Depressive Phasen
seien in der Pubertät völlig normal, das
war schon immer so und war auch immer
Teil einer Kultur. „Ich weiß nicht, was soll
es bedeuten, dass ich so traurig bin ...“,
schrieb schon Heinrich Heine 1824 in sei-
ner „Loreley“, und das zog sich weiter über
„Paint it Black“ von den Rolling Stones
1966 und „Sad Songs“ von Elton John 1984
bis eben heute. Es ist bei vielen Jugendli-
chen auch die Gelegenheit, ein Gefühl
auszuprobieren, oder anders gesagt: das
emotionale Repertoire zu besichtigen.
Und da kann Lachen so wertvoll sein wie
Weinen.
Das geht vorbei, sagt Schulte-Markwort,
will aber dabei nichts verharmlosen. „Bei

Justin Bieber
singt von
dem Schmerz,
der sich hinter
seinem Lächeln
manchmal
verbirgt

5.3.2020 67
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