Focus - 22.02.2020

(Sean Pound) #1
HANDEL

Fotos: dpa (2), REUTERS


FOCUS 9/2020 57

Wie groß ist das Risiko für Europa also
wirklich? Die Informationspolitik Chinas
ist bekanntermaßen undurchsichtig. Bran-
chenkenner rechnen allerdings mit Liefer-
engpässen, falls die Produktion nicht bald
wieder anläuft. „China ist weltweit der
wichtigste Produzent von pharmazeuti-
schen Wirkstoffen“, sagt Eric Bouteiller,
der 17 Jahre in Peking ein internationales
Pharmazie-Unternehmen geleitet hat und
nun als Professor unterrichtet. Da prak-
tisch alle Arzneimittelhersteller ihr Roh-
material aus China beziehen, wird es
zwangsweise zu Versorgungsengpässen
von bisher nie da gewesenem Ausmaß
kommen. Dennoch sieht der Franzose
keinen Grund zur Panik, weil es immer
noch ausreichend Lagerbestände gäbe.

Engpässe bei 277 Medikamenten
„Wenn sich die Situation in den chinesi-
schen Betrieben nicht entspannt, wird das
mittelfristig auch Europa treffen“, glaubt
auch Morris Hosseini, Pharma-Experte
von Roland Berger. Selbst dann dürfte es
aber noch Monate dauern, bis sich Prob-
leme in Europa bemerkbar machen. Lie-
feranten, Apotheken und Großhändler
könnten bis dahin immer noch auf Vor-
räte zurückgreifen; außerdem bräuchten
Lieferungen per Schiff etwa vier Wochen
von Shanghai nach Rotterdam. „Im Ernst-
fall würden wir die Auswirkungen wohl
erst im Herbst zu spüren bekommen“,
sagt Hosseini. Das bedeutet: vor dem
Beginn der nächsten Grippewelle. Dabei
werden Antibiotika gerade in dieser Zeit
dringend gebraucht. Schätzungen des
Robert Koch-Instituts zufolge erkranken
in Deutschland jedes Jahr knapp 55 000
Menschen an resistenten Infektionen,
2400 sterben daran.
Die Behörden geben dagegen Ent-
warnung. Das Bundesamt für Arznei-
mittel und Medizinprodukte (BfArM) in
Bonn sieht bislang keine Hinweise auf
kurzfristige Versorgungsengpässe. Auch
die deutsche Pharma-Industrie gibt sich
gelassen. Ein Sprecher von Bayer erklär-
te, dass die Produktion durch die Coro-
na-Epidemie nicht beeinträchtigt sei,
die beiden Standorte in Peking und in
Guangzhou würden „derzeit nach Plan“
arbeiten. Zudem habe Bayer ausreichen-
de Lagerbestände angelegt, um mögli-
chen Engpässen vorzubeugen.
Alles dann doch nur halb so wild? Viel-
leicht. Doch sollte die Regierung in Peking
die Quarantänemaßnahmen in Hubei
für längere Zeit aufrechterhalten oder

sogar auf weitere Landesteile auswei-
ten, könnte sich die Situation zuspitzen.
Tatsächlich nimmt der Medikamenten-
mangel in Deutschland ohnehin schon seit
Längerem zu. Das BfArM listet auf sei-
ner Website derzeit 277 Medikamente,
die von Lieferengpässen betroffen sind.
Das ist der höchste Stand seit Beginn der
Dokumentation im Jahr 2013. Auf der Liste
stehen unter anderem Blutdrucksenker,
Schmerzmittel sowie Antibiotika. Durch
Lieferschwierigkeiten in Fernost könnte
sich das Problem weiter verschärfen.
Vieles spricht dafür, dass die Corona-
Epidemie nicht nur die Verletzlichkeit der
globalen Arbeitsteilung, sondern auch
eine strukturelle Schwäche der Pharma-
Branche aufdeckt. Bereits vor drei Jahren
stellte die letzte große Antibiotika-Fabrik
in Deutschland in Frankfurt-Höchst den
Betrieb ein. Wegen des extremen Preis-
drucks im weltweiten Wettbewerb haben
Pharma-Konzerne in den vergangenen
Jahrzehnten europäische Produktions-
stätten schließen müssen und beziehen
immer stärker aus dem Ausland, vor
allem aus China und Indien. Genau das
könnte sich nun rächen. „Europa hat
sich viel zu stark von asiatischen Billig-
produzenten abhängig gemacht“, findet
Pharma-Experte Morris Hosseini.

Neue Meldepflicht für Pharma-Konzerne
Die Politik setzt fürs Erste auf kurzfristi-
ge Maßnahmen. Um möglichen Engpäs-
sen vorzubeugen, hat der Bundestag ein
Gesetz beschlossen, das Pharma-Unter-
nehmen und Großhändler zu mehr Trans-
parenz verpflichtet. Sie sollen künftig die
Lieferbestände für kritische Medikamen-
te regelmäßig an die Behörden melden.
Sollten sich dabei Engpässe abzeichnen,
darf der Staat eine Vorratslagerung für
bestimmte Arzneimittel anordnen.
Doch im schlimmsten Fall könnte wo-
möglich selbst das nicht ausreichen.
Spahn fordert deshalb, perspektivisch
den eigenständigen Pharma-Standort
Europa wieder zu stärken. Der Minister
will das Thema während der deutschen
Ratspräsidentschaft in der zweiten Jah-
reshälfte vorantreiben. Es wird gewiss
eine schwierige Mission. Schließlich geht
es um nichts weniger als die Frage, ob
sich die Globalisierung ein Stück weit
zurückdrehen lässt – und wie hoch der
Preis dafür sein wird. n

FABIAN KRETSCHMER / KURT-MARTIN MAYER /
MARCEL WOLLSCHEID

128


20 000


Umsatz der chinesischen Pharma-Industrie 2019

Mitarbeiter hat Bayer in Asien

Registrierte Arzneimittelfirmen in China

Mrd.
Euro

Chinas Pharma-


Branche in Zahlen


„Aus dem Produktions-
stopp kann sich ein akutes

Problem ergeben“


Jens Spahn (CDU)

80 Prozent der wichtigsten
Antibiotika-Wirkstoffe werden inzwi-
schen außerhalb Europas produziert,
ein Großteil davon in China

Krisenmanager
Gesundheitsminister
Jens Spahn, 39, will
Engpässen bei Arznei-
mitteln vorbeugen

Für mindestens

136


Medikamente gibt
es Wirkstoffhersteller
in der abgeriegelten
Provinz Hubei
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