Die Welt - 05.03.2020

(Joyce) #1

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05.03.20 Donnerstag,5.März2020DWBE-HP


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6 POLITIK *DIE WELT DONNERSTAG,5.MÄRZ


S


eit Samstag sind auf Befehl
des türkischen Staatschefs
Recep Tayyip Erdogan die
Grenzübergänge nach
Griechenland geöffnet.
Grund dafür ist laut Erdogan die Eska-
lation in Syrien, vor der bereits rund
eine Million Menschen geflohen sind.
Sein Land könne „eine neue Flücht-
lingswelle nicht bewältigen“, so der
türkische Präsident. Deshalb bringt
die Regierung seit Tagen Flüchtlinge
in Richtung Griechenland, aus Istan-
bul werden sie mit Bussen an die
Grenze gefahren, wo sie von den grie-
chischen Sicherheitsbehörden gewalt-
sam zurückgedrängt werden.

VON MARC PFITZENMAIER

Nach WELT-Informationen sind es
aber nicht vor allem Syrer, die versu-
chen, die Grenze zu überqueren. Die
meisten Flüchtenden in der Region
stammen aus Afghanistan, gefolgt von
Menschen aus dem Iran. Und selbst
wenn es diese Gruppen nach Europa
schaffen: In Deutschland etwa, hätten
sie, verglichen mit syrischen Flüchtlin-
gen, schlechte Chancen auf ein dauer-
haftes Bleiberecht.

Laut der Internationalen Organisati-
on für Migration der Vereinten Natio-
nen (IOM) hatten sich bis Samstag-
abend insgesamt 13.000 Menschen an
der 212 Kilometer langen Grenze ver-
sammelt.
An mehreren Orten war es zu Ausei-
nandersetzungen zwischen Flüchtlingen
und den griechischen Sicherheitsbehör-
den gekommen. „Öffnet das Tor, wir wol-
len nach Griechenland“, hatten hunderte
Migranten am Grenzübergang Pazarkule
skandiert. Als stundenlang nichts ge-
schah, versuchten sie, die Grenze zu stür-
men. Die griechische Bereitschaftspolizei
antwortete mit Wasserwerfern und Trä-
nengas. „Die meisten hier kommen aus
dem Iran und Afghanistan“, sagte ein jun-
ger Mann aus Aleppo. „Wir Syrer sind ein-
deutig in der Minderzahl.“
Bis zum späten Montag hatten grie-
chische Behörden 183 Personen an der
Landgrenze zur Türkei verhaftet und
wegen illegaler Einreise angeklagt.
Rund 24.000 Einreiseversuche sollen
seit Samstag verhindert worden sein.
Unklar ist allerdings, wie die Behör-
den zu dieser Zahl kommen und was
genau als „Versuch“ des Grenzüber-
tritts gewertet wird. Allein zwischen
Sonntag- und Montagmorgen erreich-

ten zudem fast 1.000 Menschen die
ägäischen Inseln.
Dienstagmorgen in der Nähe von Ip-
sala, einem der Grenzübergänge zu
Griechenland: Eine Gruppe, zumeist Af-
ghanen und einige Iraner, rasten an ei-
nem Wasserlauf. Die Frauen sitzen ab-
seits der Männer im Gras, alle wirken
erschöpft und müde. Sie hatten es
schon an die Grenze geschafft, wurden
dann aber von griechischen Soldaten
wieder zurückgeschickt. Aufgeben
kommt hier aber für keinen infrage.
„Wir wollen nach Europa und werden
noch weiter versuchen, über die Grenze
zu kommen“, sagen die Afghanen, die
einmal in Kabul gelebt haben. „Ja, hier
sind viele unserer Landsleute unter-
wegs“, sagt einer aus der Gruppe.
Tatsächlich berichten laut der Nach-
richtenagentur AP auch griechische Be-
amte, dass nur sehr wenige der Neuan-
kömmlinge Syrer sind. Demnach seien
die meisten am Montag verhafteten
Personen Afghanen, Pakistanis und Ma-
rokkaner. Die Zahlen vom Januar, vor
der Verschärfung der Kämpfe in Syrien,
zeigen, dass 35 Prozent derjenigen, die
aus der Türkei nach Griechenland ein-
gereist sind, Afghanen waren. Der An-
teil der Syrer betrug nur 14 Prozent.

WELT sprach am Dienstag mit Cig-
dem Cidamli, die im Auftrag der Frau-
enschutzorganisation Womens Defence
Network im Grenzgebiet humanitäre
Hilfe leistet. Die Projektkoordinatorin
berichtete, dass sich auch in der Puffer-
zone vor dem Grenzübergang und dem
grenznahen Dorf Doyran vor allem
Menschen aus Afghanistan und Iran
aufhalten. „Konserven, Windeln, Hygie-
netücher – wir versorgen die Menschen
mit dem Nötigsten“, so Cidamli. „Syrer
haben wir dabei kaum getroffen.“ Ange-
sichts der 3,6 Millionen geflohenen Sy-
rer, die sich laut UNHCR in der Türkei
aufhalten, ist das bemerkenswert.
Grund für die verhältnismäßig gerin-
ge Zahl könnte sein, dass diese oft
schon seit Jahren in der Türkei sind,
dort zwar unter schlechten Bedingun-
gen leben, aber mitunter Arbeit und ei-
ne Unterkunft gefunden haben. Wer ei-
ne Lebensgrundlage hat, sei sie noch so
bescheiden, setzt das Erreichte nicht
leicht noch einmal aufs Spiel.
„Syrer waren zunächst willkommen
in der Türkei“, erklärt der Migrations-
experte Herbert Brückergegenüber
WELT. Viele hätten Verwandte in der
Türkei und insgesamt bessere Chancen
gehabt „sich ökonomisch und sozial zu

integrieren“ als andere Nationalitäten,
so der Direktor des Berliner Instituts
für empirische Integrations- und Migra-
tionsforschung (BIM).
Zudem haben syrische Kriegsflücht-
linge einen eigenen, temporären Schutz-
status in der Türkei. Menschenrechtsor-
ganisationen beklagen zwar, dass auch
dieser zunehmend missachtet wird.
Doch Afghanen, Iraner oder Pakistaner
bekommen grundsätzlich keinen solchen
Zugang zum Schutz- und Versorgungs-
system. Für jene ist die Türkei deshalb
meist nur eine Durchgangsstation.
Das Nationalitäten-Verhältnis an der
Grenze zu Griechenland könnte sich je-
doch bald grundlegend verändern, be-
tont Experte Brücker. „Ganz entschei-
dend“ sei, ob der Großteil der Syrer, die
momentan noch nahe der Landesgrenze
zur Türkei leben, ebenfalls bald Richtung
Griechenland durchgewinkt werden.
CDU-Politiker Friedrich Merz warnte
angesichts der Ereignisse vor einer Si-
tuation wie im Jahr 2015. Seiner Ein-
schätzung nach müsse es ein Signal an
die Flüchtlinge geben, dass es „keinen
Sinn hat, nach Deutschland zu kom-
men“, so Merz gegenüber dem MDR.
Ein „Kontrollverlust“ wie in den Jahren
2015 und 2016 dürfe sich nicht wieder-
holen, betonte Merz.
Grünen-Chefin Annalena Baerbock
rief dagegen die EU zur Aufnahme von
Flüchtlingen an der türkisch-grie-
chischen Grenze auf. Zudem solle
Deutschland zunächst 5.000 besonders
schutzbedürftige Menschen aus Flücht-
lingslagern der griechischen Inseln auf-
nehmen. Sie erinnerte daran, dass
Deutschland 2016 die Aufnahme von
2 7.000 Schutzsuchenden aus Italien und
Griechenland zugesagt hatte. Es seien
aaaber im Rahmen der EU-Vereinbarungber im Rahmen der EU-Vereinbarung
nur gut 10.000 aufgenommen worden.
Forderungen von Politikern sind die
eine Sache, die realistischen Chancen
für Asyl sind jedoch eine andere. Sie las-
sen sich aus der Statistik des Bundes-
amts für Migration ablesen: So beka-
men im vergangenen Jahr 83,7 Prozent
aller Syrer entweder Flüchtlingsschutz
oder subsidiären Schutz gewährt, wäh-
rend es bei den Afghanen nur 38 Pro-
zent waren, gefolgt von Iranern mit
20,2 Prozent. Im Januar 2020 stiegen
die Zahlen jeweils noch leicht an.
Einen Flüchtlingsschutz bekommen
all jene, die die ihr Land „aus Furcht vor
Verfolgung“ verlassen mussten. Die
Mehrheit der Menschen, deren Asylan-
trag erfolgreich ist, erhält diesen Status
als anerkannter Flüchtling. Unter subsi-
diärem Schutz muss ein Antragsteller
nachweisen, dass ihm im Herkunftsland
„ernsthafter Schaden“ droht, beispiels-
weise wegen eines Bürgerkriegs. Wenn
sich die Umstände im Heimatland dann
deutlich zum Positiven verändern,
könnte der Schutzstatus unter Umstän-
den aberkannt werden.
Der Weg nach Europa ist ohnehin alles
andere als frei: Die griechische Regierung
hat angekündigt, einen Monat lang keine
neuen Asylanträgeannehmen. Das teilte
Regierungschef Kyriakos Mitsotakis am
Sonntag auf Twitter mit. Zugleich ver-
stärkte Griechenland weiter seine Ein-
heiten entlang der Grenze zur Türkei.

MITARBEIT: ALFRED HACKENSBERGER, MURAT BAY

Erdogans Flüchtlings-Trick


Wegen des Krieges in


Syrien habe sie keine


andere Wahl, als


Flüchtlinge nach


Europa weiterreisen


zu lassen, behauptet


die türkische


Regierung. Offenbar


lässt sie systematisch


Migranten Richtung


Griechenland bringen.


Doch nach


WELT-Recherchen


sind die meisten keine


syrischen Flüchtlinge


Eine afghanische
FFFamilie, die versuchtamilie, die versucht
hatte, von der Türkei
aus nach Griechen-
land zu gelangen. Ein
Mitarbeiter des türki-
schen Katastrophen-
schutzes hilft ihr

MURAT BAY

Bereits 2015, als Hunderttausende sy-
rische Flüchtlinge in die EU gelangten,
die meisten von ihnen letztlich nach
Deutschland, waren es die östlichen
Mitglieder der Union, die als Erste ihr
Unbehagen darüber äußerten. Dazu
zählten Bulgarien und Rumänien, vor
allem aber die Visegrád-Staaten Polen,
Ungarn, Tschechien und die Slowakei
(V4), die sich gegen einen Verteilungs-
mechanismus für Flüchtlinge einsetz-
ten und es verstanden haben, dies für
ihre Zwecke zu nutzen.
So konnte die polnische nationalkon-
servative Partei Recht und Gerechtig-
keit (PiS) auch deswegen die Parla-
mentswahlen 2015 klar für sich ent-
scheiden. Es waren Bilder von in
Deutschland ankommenden Flüchtlin-
gen, mit denen in Polen Stimmung ge-
macht wurde. Selbst die Parteispitze
schreckte damals vor einer drastischen,
rassistischen Rhetorik nicht zurück.
Der mächtige PiS-Chef Jaroslaw
Kaczynski sprach etwa von „Parasiten“,
die in den Körpern der Migranten keine
Gefahr seien, für Europäer jedoch
schon.
Vieles heute ähnelt der Situation


  1. So finden am 10. Mai in Polen Prä-
    sidentschaftswahlen statt. Amtsinhaber
    Andrzej Duda, Kandidat der PiS, be-
    wirbt sich um eine Wiederwahl. Den-
    noch reagieren Parteipolitiker erstaun-
    lich zurückhaltend, bisher nutzen sie


N


ach der türkischen Grenzöff-
nung für Migranten sind es vor
allem die Länder entlang der
Balkanroute, die sich von der neuen
Flüchtlingskrise betroffen sehen. Grie-
chenland, an dessen Grenze zur Türkei
Flüchtlinge versuchen, in die EU zu ge-
langen, aber auch Bulgarien oder Un-
garn reagierten besonders schnell auf
die Entscheidung des türkischen Präsi-
denten Recep Tayyip Erdogan.

VON PHILIPP FRITZ UND BORIS KÁLNOKY

Ungarns Regierungschef Viktor
Orbán wie auch sein bulgarischer Amts-
kollege Boiko Borissow telefonierten
umgehend mit Erdogan; Borissow reiste
sogar am 2. März nach Ankara und stell-
te sich dort demonstrativ auf die Seite
Erdogans – und damit gegen die EU, de-
ren Mitglied Bulgarien immerhin ist.
Es war ein merkwürdiges Schauspiel:
Entgegen den Tatsachen behauptete Er-
dogan, die EU habe die von ihr im Jahr
2016 zugesagten sechs Milliarden Euro
im Rahmen des sogenannten Flücht-
lingspaktes mit der Türkei „nicht über-
wiesen“. Borissow pflichtete dem bei: Er
könne „nicht verstehen“, sagte er, „wa-
rum die EU das Geld nicht überweist“.
Erdogan belohnte diese Haltung sogleich
und sicherte dem bulgarischen Premier-
minister zu, dass es auf die Grenze zu
Bulgarien keinen Druck geben werde.

das Thema nicht aus. Andere, wie der
Bulgare Borissow, setzen auf bilaterale
Treffen mit Erdogan, um eine Situation
wie an der griechischen Grenze in ih-
rem Land zu verhindern.
Andere wiederum, wie Premierminis-
ter Orbán, gehen in die Offensive und
kündigen schon einen Gipfel mit der
Türkei an. Die Ostmitteleuropäer sind

damit nicht, wie 2015, auf einem Kollisi-
onskurs mit der EU oder Deutschland –
was allerdings weniger daran liegt, dass
sie ihre Politik geändert hätten, viel-
mehr ist es die EU, die sich auf Ungarn
oder Polen zubewegt hat.
Vor allem Orbán fühlt sich durch die
Ereignisse bestätigt. Als erster Regie-
rungschef Europas hatte er schon im Ja-

nuar gesagt, dass 2020 eine neue Migra-
tionskrise entstehen würde, und das mit
den Entwicklungen in Syrien begründet.
2015 forderte er, die EU müsse auf
Grenzschutz und weniger auf Einwan-
derung setzen. Diese Position wird heu-
te von den meisten EU-Staaten geteilt.
Orbán warnte zudem, Europa dürfe sich
nicht von Erdogan abhängig machen.
Ausgerechnet Orbán sagte nun, dass
noch im März ein Treffen der V4-Staa-
ten mit der Türkei stattfinden solle. Aus
Polen allerdings, immerhin das größte
Mitgliedsland der Gruppe, ist dazu bis-
her nichts zu hören. Polen liegt nicht an
der Balkanroute und hat demnach bis-
her keine Flüchtlinge an seinen Gren-
zen abgewiesen, wie Ungarn oder aktu-
ell Griechenland.
Darüber hinaus herrscht Wahlkampf.
Präsident Duda hat versprochen, dass
seine Kampagne „kultiviert“ ablaufen
werde. Frontalangriffe auf seine He-
rausforderer oder eine gegen Flüchtlin-
ge gerichtete Rhetorik hat er sich bisher
verkniffen. Stattdessen betonen er und
sein Team die Erfolge der PiS, das Wirt-
schaftswachstum, die Einführung der
Sozialprogramme und legen sogar noch
eine Schippe drauf.
So unterschrieb der Präsident me-
dienwirksam ein Gesetz zur Einführung
einer 13. Jahresrente. In Umfragen liegt
Duda deutlich vorn, einigen Meinungs-
forschungsinstituten zufolge könnte er

sich sogar im ersten Wahlgang die Wie-
derwahl sichern.
Dieser positive Wahlkampf soll nicht
getrübt werden – was indes nicht be-
deutet, dass die Bilder von der grie-
chisch-türkischen Grenze nicht zum
Vorteil für die PiS sind. Die Partei
schließlich hat ein Image als Fürspre-
cherin einer strikten Grenzpolitik,
überbetonen muss sie das nicht mehr.
Es reicht, das Feld den regierungsnahen
Medien zu überlassen.
So hat bereits die Nachrichtenseite
wPolityce.pl Aufnahmen von schreien-
den Männern und Frauen sowie dem
Tränengaseinsatz der griechischen
Grenzer verbreitet und behauptet, die
„Migranten schlagen ihre Kinder und
halten sie dann über ein Feuer“. Eine
Notsituation täuschen sie nur vor, die
Flüchtlinge „wollen die Weltmedien auf
diese Art reinlegen“, so das Portal wei-
ter. Die Stammwählerschaft der PiS
wird so mobilisiert.
AAAuch Orbán kann von der Krise profi-uch Orbán kann von der Krise profi-
tieren. Bereits vor einigen Wochen ent-
schied er, die Sicherheitskräfte an der
Grenze zu Serbien zu verdoppeln. Jetzt
sollen sogar überhaupt keine Asylsuchen-
den mehr in die Transitzonen an der
Grenze gelassen werden. Begründet wird
das mit dem Risiko, dass das Coronavirus
ins Land getragen werden könnte. Dieser
AAAktionismus dürfte auch Orbán weiterktionismus dürfte auch Orbán weiter
RRRückhalt bei seiner Wählerschaft sichern.ückhalt bei seiner Wählerschaft sichern.

Orbán setzt sich durch


Die Situation ähnelt 2015. Aber die EU-Staaten im Osten sind nicht mehr auf Konfrontationskurs mit Brüssel – weil sich die EU auf Ungarn oder Polen zubewegt hat


Harmonisches Nachbarschaftstreffen: Ungarns Regierungschef Viktor Orbán (r.)
und der polnische Präsident Andrzej Duda in Warschau

PICTURE ALLIANCE / NURPHOTO

/MATEUSZ WLODARCZYK

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