Heinsberg
D
as Buch, das dem Landrat von
Heinsberg einfällt, wenn er an
Coronaviren denkt, heißt »Herr
der Fliegen«. Er will damit nicht
sagen, dass in seinem Landkreis Verro-
hung herrsche wie in diesem Roman, dass
der Mensch zum Tier werde, dass die Zi-
vilisation am Ende sei.
Der Landrat Stephan Pusch will sagen,
dass der Mensch, das soziale Wesen, unter
Druck unsoziale Züge annehmen
kann. Dass man also vorsichtig mit
ihm umgehen muss im Fall einer
Krise wie in Heinsberg, im äußers-
ten Westen Nordrhein-West -
falens gelegen. Man muss mit-
denken, dass es Momente ge-
ben kann, in denen der Mensch
die Zivilisation vergisst.
Es ist Dienstag Morgen, der
Landrat schaut auf die Uhr: 9.20
Uhr, im Moment sind 84 Corona -
virus-Fälle in seinem Kreis registriert, bis
Donnerstag werden es 197 sein.
Vor einer Woche, am Faschingsdienstag,
wurden die ersten Erkrankten registriert,
sie hatten zehn Tage vorher in der Gemein-
de Gangelt Karneval gefeiert, die zum
Kreis Heinsberg gehört. Das Ehepaar war
der erste Covid-19-Fall in diesem Bundes-
land, der bekannt wurde. Spätestens als
dann der Bundesgesundheitsminister bei
ihm anrief, wusste Pusch: Das ist etwas
Großes.
Heinsberg ist die Blaupause für die ge-
samte Republik – wie verhält sich dieses
Land in einer solchen Krise? Wie kommt
es mit ihr zurecht?
Der Landrat schüttelt einem zur Begrü-
ßung nicht die Hand, er macht den Heins-
berger Gruß: Ellbogen an Ellbogen. Gleich
wird der Krisenstab tagen, die erste von
zwei oder drei Sitzungen an diesem Tag.
Die ärztliche Versorgung wird wieder The-
ma sein, es läuft nicht besonders gut. Pusch
sitzt in einem Konferenzraum im Kreis-
haus von Heinsberg, einer wuchtigen Ver-
waltungsburg, vor der nun ratlose Bürger
stehen. Aber die Verwaltung ist für sie ge-
schlossen.
Vieles im Landkreis ist nicht wie sonst.
Der Kreis Heinsberg ist flaches Land,
Straßendörfer mit geklinkerten Reihen -
häusern, Einfamilienhäuser mit Schotter-
gärten davor, gut 250 000 Einwohner.
Die Straßen sind leer, es fehlen die Men-
schen, die zu Hause in Quarantäne sind,
und die Niederländer, die sonst gern zum
Einkaufen kommen. Es fehlen auch die -
jenigen, die hier wohnen und gesund sind,
aber Angst haben, vor die Tür zu gehen.
Die sich bedroht fühlen von einer unsicht-
baren Gefahr.
Ein Café, das sonst bis 18 Uhr geöffnet
hat, schließt um 14 Uhr, ein Fitnesscenter
macht gar nicht erst auf, Buchhand-
lungen und Schuhgeschäfte haben
kaum etwas zu tun.
Eine Apothekerin reicht Sal-
beibonbons und sonstige Medi-
zin durch eine Lücke zwischen
den Glastürscheiben, in Hand-
schuhen.
Im Krankenhaus von Heinsberg
werden selbst junge Väter gestoppt,
die ihre Babys und deren Mütter se-
hen wollen, sie werden nach ihren
Kontakten gefragt und ob sie Fieber haben.
Im Zweifel wird gemessen.
Die Justizvollzugsanstalt lässt keine Be-
sucher zu.
Ein Trödelmarkt für Kindersachen fällt
aus, ein Seniorennachmittag auch, am
Wochenende werden im ganzen Kreis kei-
ne Fußballspiele stattfinden.
In der Verwaltungsburg sitzt Pusch, ein
öffentlichkeitsgewohnter Herr, der Turn-
schuhe zum blauen Anzug trägt, er erzählt
von der ersten Krisensitzung am Faschings-
dienstagabend, vom Besuch beim Landes-
gesundheitsminister am Tag darauf.
Zu besprechen war der Fall jenes Man-
nes, der mit seiner Frau am 15. Februar
auf der Kappensitzung des Karnevals -
vereins »Langbröker Dicke Flaa« gewesen
war. Er hatte dort im Männerballett ge-
tanzt, nun liegt er im Krankenhaus in Düs-
seldorf, sein Zustand ist immer noch ernst.
Pusch sagt, auch schlechte Nachrichten
wolle er mit den Menschen im Kreis teilen,
er glaube an Transparenz, an Kommuni-
kation. Regelmäßig wendet er sich mit Vi-
deos an seine Bürger, sie sind zu sehen auf
der Website des Kreises Heinsberg und auf
Facebook. Elf Videos werden es an diesem
Dienstag seit Beginn der Coronakrise sein,
er nennt sie »Pusch-Nachrichten«.
Das wirksamste Video war vermutlich
Nummer sechs. Es folgte auf eine Meldung,
die in den sozialen Medien verbreitet wor-
den war: Die Leute hielten sich nicht an
die Quarantäne. Man werde deshalb Sperr-
bezirke errichten.
Pusch sagte seinen Bürgern: »Solange
ich hier was zu sagen habe, wird hier gar
nichts abgesperrt.«
Warum nicht, Herr Pusch? In Italien
wurden doch auch Städte und Ortschaften
blockiert.
»So ein Vorgehen kann man den Bürgern
in Deutschland nicht vermitteln, und ...«
Und?
»Man kann es nicht kontrollieren.«
Covid-19 ist eine Krankheit in der glo-
balisierten Zeit, aber bei der Eindämmung
kommen Maßnahmen vor, die man aus
dem Mittelalter kennt: Quarantäne. Sperr-
bezirk. Im Mittelalter hat man die Häuser,
in denen Pestkranke waren, mit einem
Kreuz an der Tür markiert. Pusch hielt
nichts davon, vor jedes Haus einen Poli-
zisten zu stellen. Er dachte an seine Kapa-
zitäten und die Gefühle der Bürger.
Es brach »Alarmstimmung aus nach der
Falschmeldung«, sagt Pusch, und er glaubt:
»Daraus wäre Panik geworden.« Infizierte
und Nichtinfizierte hätten vermutlich ver-
sucht zu fliehen. Der Kreis hat 78 Kilome-
ter gemeinsame Grenze mit den Nieder-
landen. Pusch behauptet, er hätte die Bun-
deswehr gebraucht, um abzuriegeln.
»Nochmals: Das geht hier nicht. Solche
Krisen können Sie nur gemeinsam mit den
Bürgern lösen, mit Vertrauen.«
Die Frage ist: Wie schlimm ist die Krise
denn nun tatsächlich? Gemessen wird sie
in Zahlen: Bei etwa 80 Prozent der Infi-
zierten, so sagen es Experten, verlaufe die
Infektion mit milden Symptomen oder mit
gar keinen. Die Sterblichkeit liege zwi-
schen 0,3 und 0,7 Prozent.
Ist das wenig? Oder viel? Ist das beru-
higend? Beunruhigend?
Die große Frage hinter der Absage von
Messen, hinter Kursstürzen an der Börse,
Reisestornierungen und Hamsterkäufen –
sie hat Pusch und seinen Kreis Heinsberg
104 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020
Wissen
Ausnahmezustand
Covid-19Die ersten Coronavirus-Fälle in Nordrhein-Westfalen wurden im Kreis Heinsberg
bekannt. Seitdem ist die Region ein Testfall für die ganze Republik:
Wie verhält sich das Land in der Krise? Wie kommt es mit ihr zurecht?
Eine Krankheit der glo-
balisierten Zeit, be-
kämpft mit Maßnahmen
aus dem Mittelalter.