M O R D FA L L R E B E C C A ( 1) Schlagzeile des »Express« im August 2002 nach der
Verhaftung von Guido S. (2) Nach einem gemeinsamen Besuch im Kölner Bordell
Pascha gestand der Mörder gegenüber dem V-Mann die Tat.
Der V-Mann und Anis Amri Kontakte von Murat Cem mit dem späteren Weihnachtsmarktattentäter
- Nov. 2015
Cem trifft Amri
in Duisburg.
Amri wolle
»hier auch
was machen«,
gibt der
V-Mann
später zu
Protokoll.
- Dezember
Amri will in Frank-
reich Waffen kaufen
und zeigt dem
V-Mann Chatkon-
takte. Er wolle daher
ein Auto stehlen
und verkaufen. Amri
bekräftigt, in Deutsch-
land einen Anschlag
begehen zu wollen.
8./22. Dez.
Amri bezichtigt
Cem, dieser
arbeite für die
Polizei oder den
Geheimdienst.
Cem bestreitet
das energisch.
- Nov.
Amri gibt an,
er könne in
Neapel für
1500 Euro
eine Ka-
laschnikow
kaufen.
- März
Cem will Amri
einen Rucksack,
den dieser in
Dortmund ver-
gessen hat, mit
der Post nach
Berlin schicken.
Amri nennt ihm
eine Adresse.
- Februar
Amri fährt nach Berlin.
Die Polizei soll ihn nur
beschatten, kontrolliert
ihn aber und nimmt
ihm das Handy ab.
V-Mann Cem ist nun
in Gefahr: Er hat den
Beamten gesagt, wann
und wie Amri nach
Berlin reisen wird.
22./24. Febr.
Amri kauft ge-
meinsam mit dem
V-Mann ein neu-
es Handy. Cem
fährt mit Amri
nach Berlin. Auf
der Fahrt dorthin
sagt der Tunesier,
man müsse Un-
gläubige töten.
Expertenkommission des Bundesjustiz -
ministeriums empfahl bereits 2015 »die
Schaffung einer gesetzlichen Ermächti-
gungsgrundlage für den Einsatz von V-Per-
sonen«. V-Leute griffen in die Grundrechte
von Bürgern ein. Diese Eingriffe nur auf
die sogenannte Ermittlungsgeneralklausel
der Polizei zu stützen sei zu wenig, so die
Juristen.
Es war ein Arbeitsauftrag an die Ge-
setzgeber. Doch die reagierten bislang
nicht. »Es ist eines Rechtsstaats unwür-
dig, dass er sich scheut, wichtige Ermitt-
lungsinstrumente gesetzlich zu normie-
ren«, sagt Nikolaos Gazeas, der Strafrecht-
ler aus Köln. Seiner Ansicht nach muss
geregelt sein, dass V-Leute keine Straf -
taten begehen dürfen und niemand, der
Verbrechen begangen hat, V-Mann wer-
den kann. »Vor einem solchen Gesetz
fürchten sich die Ermittler aber, weil sie
dann viele Quellen nicht mehr einsetzen
können«, sagt er.
Auch die innenpolitische Sprecherin der
Grünen im Bundestag, Irene Mihalic,
selbst Polizeibeamtin in Nordrhein-West-
falen, sagt, dass es keinen »absichtlich ge-
schaffenen Graubereich für den Einsatz
von V-Leuten geben darf«.
Noch weiter geht die Berliner Richterin
Anna Luise Decker. Sie kommt in ihrer in
Münster vorgelegten Doktorarbeit zu dem
Schluss, die jahrzehntelange Praxis sei ver-
fassungswidrig. »V-Leute sind hochwirk-
same, aber gleichzeitig hochgefährliche
Beweismittel«, so Decker. Sie würden
ohne Regelung und effektive Kontrolle tief
in die Privatsphäre der Ausgeforschten ein-
dringen, müssten für ihre Aufgaben kei-
nerlei Qualifikation vorweisen, zugleich
seien ihre Aussagen von Polizei oder Ge-
richt kaum zu überprüfen.
Im Unterschied zu verdeckten Ermitt-
lern der Polizei sind V-Leute keine Beam-
ten und auch keine Angestellten des Staa-
tes. Man habe es »nicht mit Klosterschü-
lern zu tun«, sagt NRW-Innenminister
Reul. »Wenn Sie mit den Falken fliegen
wollen, dürfen Sie keine Taube sein.«
Oder wie Murat Cem es formuliert: »Wer
wird denn V-Mann außer Kriminellen und
Verrückten?«
Doch Cem war anders. Er brachte etwas
mit, das selten war in seiner Zunft: Er war
verlässlich. Das Oberlandesgericht Celle
attestierte ihm später, die jahrelange »in-
tensive und umfassende Beweisaufnahme«
im Fall Abu Walaa, der »Nummer eins«
des IS in Deutschland, habe »keine Anzei-
chen erbracht, dass die Angaben der VP
unrichtig sein könnten«. Darüber hinaus
hätten Cems VP-Führer ihn als jemanden
beschrieben, der immer die Wahrheit ge-
sagt und sich stets an Absprachen gehalten
habe. An Cems »persönlicher Integrität«
bestehe »kein Zweifel«.
Murat Cem war ein Juwel, ein Glücks-
griff für die Polizei, weil er Gegensätzli-
ches vereinte: Er war kriminell genug, um
in der Szene zu funktionieren, und zu-
gleich anständig genug, um für die Behör-
den arbeiten zu können. Das wussten sei-
ne VP-Führer und schützten ihn, wo sie
nur konnten – egal wie.
In den Akten der Staatsanwaltschaft Bo-
chum findet sich ein Urteil des Landge-
richts aus dem Jahr 2011. Es geht um eine
Bande kurdischer Heroindealer, die Cem
nach einem monatelangen Undercover-
Einsatz hatte auffliegen lassen. Um darzu-
legen, wie glaubwürdig der eingesetzte
Spitzel war, ist in dem Urteil eine Charak-
terisierung des V-Mannes enthalten. Sie
beruht auf Aussagen seiner VP-Führer.
Der V-Mann habe »kleine Vorstrafen,
wobei er nie in Haft war«, heißt es in dem
Papier. Dass Murat zu diesem Zeitpunkt
bereits achtmal verurteilt worden war, ein-
mal wegen gemeinschaftlicher Einfuhr
und Handel von Drogen im großen Stil,
teilten die Beamten dem Gericht wohl
nicht mit. Auch seine Lebensum stände
beschrieben sie solider, als sie waren.
Cem arbeite »seit ca. Mitte 1999 für die
Polizei«, heißt es weiter in dem Urteil,
»wobei er bis zu einem Einsatz pro Jahr
hatte«. Das hatte mit der Realität wenig
zu tun. Denn Cem war schon damals viel
häufiger im Einsatz.
Vermutlich wollten die Beamten den
Anwälten der Dealer keine Angriffsfläche
bieten. Auch wenn Cem gute Arbeit ge-
leistet hatte, allein der Anschein, dass ein
Spitzel unglaubwürdig war, konnte ein
Verfahren gefährden.
Es war 2008, als Murat Cem das erste
Mal mit Islamisten in Berührung kam und
sich ein Milieu erschloss, in dem Jahre spä-
ter sein berühmtester Fall spielen würde.
Ein Bekannter interessierte sich für den
Islam, wie Cem erzählt. Der Mann be-
suchte Vorträge der radikalen und bei
Jugend lichen beliebten Salafisten Pierre
Vogel und Sven Lau. Er fragte Cem, ob er
ihn begleiten wollte.
Cem hatte wenig Lust, er brannte mehr
für die handfeste Kriminalität, Drogen-
und Waffenhandel zum Beispiel. Seine VP-
Führer allerdings waren elektrisiert: Gute
Quellen in dieser Szene waren selten.
Also fuhr Cem über Monate zum Frei-
tagsgebet nach Mönchengladbach, wo Lau
eine maßgebliche Rolle in dem Verein
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