Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

wie er heute sagt, das Abenteuer, für den
Moment des Glücks, wenn ein Spezialein-
satzkommando heranbretterte und alle
Verdächtigen zu Boden riss. Die Arbeit als
V-Mann war für Cem Lebensinhalt und
Berufung zugleich. »Wenn mich einer ge-
fragt hätte: Liebst du deine Familie oder
die Polizei? Ich hätte gesagt: ›Ich liebe die
Polizei.‹«
Die Ermittler machten Murat Cem Ende
der Neunzigerjahre zu ihrem Mann, als er
mit einem Bein bereits im Gefängnis stand.
Sie waren seine Rettung, er wurde ihr
Werkzeug. Ein guter Deal, wie er fand.
Als Sohn türkischer Gastarbeiter wuchs
Cem in einem Problemviertel in Nord-
rhein-Westfalen auf. Das »Tal der langen
Messer« nannten sie die Gegend. Dort
wohnte die Familie in einem Hochhaus,
elf Menschen in einer Vierzimmerwoh-
nung, der Vater starb früh.
In der Schule hänselten sie Cem für
seine Mädchenschrift, er galt als klug und
fleißig. Er schaffte den Realschulabschluss
und machte eine Ausbildung zum Elek-
troinstallateur. Doch er blieb ein Kind des
Problemstadtteils. Fahren ohne Fahrerlaub-
nis, Drogen, Körperverletzung in Tatein-
heit mit Beleidigung und Bedrohung,
Cems Vorstrafenregister wuchs schnell.
Zwölfmal wurde er inzwischen verurteilt,
erst kürzlich kam die bislang letzte Be-
währungsstrafe hinzu – wegen Diebstahl.
»Entweder ich jage Straftäter«, sagt Murat
Cem, »oder ich begehe Straftaten.« Ein
Dazwischen gibt es nicht.
Mit 19 Jahren stiegen Cem und sein bes-
ter Freund im großen Stil in den Drogen-
handel ein. Mehr als zwei Jahre lang
schmuggelten sie Haschisch aus den Nie-
derlanden nach Deutschland, es dürften
Dutzende Kilo gewesen sein. Als sie auf-
flogen, so erzählt es Cem, habe er nur zwei
Möglichkeiten gesehen: Entweder er packt
aus und verpfeift seinen besten Freund,
oder er geht sehr lange ins Gefängnis. Cem
verpfiff seinen besten Freund.
Er fand schnell Gefallen daran, mit der
Polizei zusammenzuarbeiten. Zunächst
gab er den Beamten gelegentlich Tipps,
dann lieferte er regelmäßig Informationen,
schließlich wurde er zum V-Mann der Poli -
zei Krefeld. Er war gut, das sprach sich he-
rum, bald forderten ihn Dienststellen in
ganz Nordrhein-Westfalen an.
Es war eine Tätigkeit wie für Cem ge-
macht. Er bewegte sich weiterhin im kri-
minellen Umfeld, dessen Sprache, Gepflo-
genheiten und Regeln er kannte. Er schnüf-
felte in Bordellen, Obdachlosenheimen
und Moscheen. Der Nervenkitzel, den er
schon als Dealer geliebt hatte, blieb ihm
erhalten. Doch jetzt stand er auf der Seite
der Guten, des Staates, ihm drohte kein
Gefängnis mehr. Stattdessen lobten ihn die
Polizisten, er spürte, wie sehr sie auf ihn
angewiesen waren. Er war kein Niemand


DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020 11

Titel

mehr, er war ein Jemand und bekam auch
noch Geld dafür. Weniger zwar, als sich
mit Drogen verdienen ließ, bis zu 100 Euro
pro Einsatztag, bei Erfolg noch eine Be-
lohnung, alles ausgezahlt in einem Um-
schlag in bar. Für ihn aber war es sauber
verdientes Geld. Zusätzlich bezog er noch
Sozialleistungen. Von seiner Nebentätig-
keit für die Polizei erfuhr das Jobcenter al-
lerdings nichts.
Einer seiner ersten Einsätze führte Mu-
rat Cem mitten in einen der spektakulärs-
ten Mordfälle des Jahres 2002. In Köln
war die 15-jährige Rebecca ermordet wor-
den. Jugendliche fanden zwei Monate
nach der Tat ihren verwesten Körper auf
dem Gelände einer ehemaligen Glasfabrik.
Die Polizei verdächtigte Guido S., einen
jungen Mann aus dem Umfeld des Opfers.
Nachweisen konnte sie ihm nichts.
Cems Auftrag war es, sich mit S. anzu-
freunden und ihm ein Geständnis zu ent-
locken. Er bekam eine Wohnung, ein Fahr-
rad und viel Zeit. Wochenlang drückte er
sich in der Gegend herum.

Mord noch einmal. Er habe Sex mit ihr ge-
wollt, doch sie habe sich geweigert. Er
habe sie gefesselt und sich an ihr vergan-
gen. Und »dann mit dem Messer – zapp«,
sagte Guido zu V-Mann Cem. So war es
später in der Aufzeichnung zu hören.
Als die Männer die Wohnung verließen,
raste ein Trupp Polizisten heran. Die Be-
amten warfen Guido S. zu Boden und fes-
selten ihn. Cem lief auf S. zu und versetzte
ihm einen Tritt. »Du Schwein! Du Huren-
sohn!«, schrie er, so erzählt er es heute.
Ein Beamter riss ihn weg.
Der Fall beschäftigt ihn immer noch. Er
sticht aus den etwa 60 Einsätzen heraus,
die er für die Polizei absolviert hat, weil
er einer der ersten seiner Laufbahn war.
Und weil es um einen Teenager ging. Er
hat inzwischen selbst eine Tochter in die-
sem Alter.
Fast 20 Jahre lang sah das Berufsleben
des Murat Cem so aus: Die Polizei zeigte
ihm Fotos seiner Zielperson und nannte
ihm Orte, wo er sie treffen konnte. Meis-
tens gelang es ihm schnell, Vertrauen her-
zustellen, Nähe zu schaffen. Murat Cem
mag Menschen. Und Menschen mögen
Murat Cem.
Manchmal scheiterte er, manchmal
brachte er sich in Lebensgefahr. Einmal
fanden Drogendealer zufällig Papiere mit
seinem echten Namen und führten ihn
grimmig ab. Er dachte, sie brächten ihn
jetzt um, doch sie brachten ihn nur zu sei-
nem Wagen.
Ein anderes Mal ging er mit einem Köl-
ner Zuhälter, auf den geschossen worden
war, über Wochen in Bordelle. Cem sollte
herausfinden, was der Hintergrund der Tat
war. Es folgten Exzesse mit bezahlten Frau-
en, Alkohol und Kokain. Murat Cem lud
grundsätzlich ein. Wenn das Geld weg war,
rief er seine VP-Führer an und besorgte
Nachschub. Dass er die Spesen der Polizei
auch für Drogen ausgab, so Cem heute,
habe er den Beamten damals nicht gesagt.
Sie hätten ihn aber auch nicht gefragt.
Wahrscheinlich war ihnen klar, dass ihr
V-Mann mit einem Zuhälter keine Ausflü-
ge in den Zoo machte.
Die zuständige Beamtin schimpfte ir-
gendwann, man wolle Cems »Fickerei«
nicht mehr bezahlen. Doch der Einsatz lief
weiter, ehe er Monate später ergebnislos
abgebrochen wurde.
Murat Cem führte das Leben eines
Zwielichtigen und Kriminellen. Der Staat
wollte es so. Denn Cem war sehr erfolg-
reich in dem, was er tat.
Mit seiner Hilfe fasste die Polizei Dut-
zende Schwerverbrecher. Einmal spürte
er sogar Kunstgüter auf, die während des
Irakkriegs aus dem Nationalmuseum in
Bagdad gestohlen worden waren.
Dass der Einsatz der geheimen Polizei-
helfer rechtlich problematisch ist, wissen
Bund und Länder schon seit Jahren: Eine

Im Pascha gab es


Sex auf Staatskosten.


Auf dem Heimweg


gestand S. den Mord.


Den ersten Schritt der Annäherung
machte Cem, als er S. wie zufällig vor ei-
nem Kiosk traf. Er kaufte dessen Kumpel
Haschisch ab – und blieb in der Nähe. Bald
waren Cem und der Verdächtige beste
Freunde. Doch was den Mord betraf,
schwieg S. beharrlich.
Cem hatte eine Idee. Er lud seinen neu-
en Kumpel ins Kölner Großbordell Pascha
ein, es gab Sex auf Staatskosten. Auf dem
Heimweg gestand Guido S., Rebecca er-
mordet zu haben.
Murat Cem wähnte sich am Ziel, doch
die Ermittler waren noch nicht zufrieden.
Sie verlangten das Geständnis auf Band,
um es vor Gericht verwerten zu können.
Doch wie ließ sich das arrangieren? Mit
einem kleinen Theaterstück.
Die Beamten verwanzten die Wohnung,
die sie ihrem V-Mann für den Einsatz zur
Verfügung gestellt hatten. Dann nahmen
sie Cem auf offener Straße zum Schein
fest. Als wäre er in höchster Not, gab er in
diesem Augenblick dem Mordverdächti-
gen Guido S. seinen Wohnungsschlüssel
und bat ihn, dort auf ihn zu warten. Bald
kehrte Cem von der Polizeiwache zurück.
Für S. musste er nun noch vertrauenswür-
diger gewirkt haben. Sie spielten Play -
station, und Cem bohrte nach, wie das mit
Rebecca gewesen sei. Da gestand S. den
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