Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020 133


Nachrufe


Ernesto Cardenal, 95
Es gibt ein berühmtes Foto von 1983, das viel über die
Persönlichkeit des nicaraguanischen Dichters, Priesters,
Mönchs, Politikers, Revolutionärs und Mystikers Ernesto
Cardenal aussagt: Er kniet in Managua vor Papst Johannes
Paul II., der ihn mit ausgestrecktem Zeigefinger ermahnt.
Cardenal blickt seinem Gegenüber herausfordernd ins
Gesicht. Zwei Jahre später suspendierte ihn der polnische
Pontifex und glühende Antikommunist vom Priesteramt:
Cardenal hatte als Befreiungstheologe die sandinistische
Revolution unterstützt und war nach deren Sieg über das
Regime des Diktators Anastasio Somoza 1979 zum Kultur-
minister ernannt worden. 1925 in eine reiche Familie in
Nicaragua hineingeboren, studierte er zunächst in Mexiko
Lite ratur. Cardenals Buch »Das Evangelium der Bauern von
Solentiname« wurde zu einer Bibel für viele junge Men-
schen, die aus aller Welt nach Nicaragua strömten, um das
Revolutionsregime der Sandinisten zu unterstützen. 1994
sagte sich Cardenal von den Sandinisten los, in »La revolu-
ción perdida« (Die verlorene Revolution) von 2001 rechne-
te er mit ihnen ab. Im vergangenen Jahr hob Papst Franzis-
kus Cardenals Suspendierung auf – eine späte Ge nugtuung.
Ernesto Cardenal starb am 1. März in Managua. JGL

Javier Pérez de Cuéllar, 100
Dafür, dass er nur ein Verlegenheitskandidat an der Spitze
der Vereinten Nationen war, war er erstaunlich erfolgreich.
Er sei die »letzte Wahl« gewesen, hieß es 1981, als er nach
endlosen Verhandlungen zum Generalsekretär der Uno
gewählt wurde. Doch in seinen zwei Amtszeiten bis 1991
half er, den Krieg zwischen dem Irak und Iran zu beenden,
spielte eine Rolle beim Abzug der Sowjetunion aus Afgha-
nistan und bei der Befriedung der Bürgerkriege in Kam -
bodscha, El Salvador und Nicaragua. Er kam in Lima zur
Welt, ging als junger Mann in den diplomatischen Dienst
und war Botschafter Perus. Den Irakkrieg 1991 konnte
er nicht verhindern. Beim Versuch, Präsident Perus zu wer-
den, scheiterte er 1995. Javier Pérez de Cuéllar starb am


  1. März in Lima. RAP


Ulay, 76
Der Künstler Ulay kam
1943 als Uwe Laysiepen in
einem Solinger Luftschutz-
keller zur Welt. Er war 14,
als sein Vater starb. Seine
Mutter, so erzählte er in
einem Interview, zog sich
traumatisiert in ein Haus im
Wald zurück. Die Suche
nach der eigenen Identität
stand im Zentrum seines
Werks. Mitte der Siebziger-
jahre traf er auf die serbi-
sche Künstlerin Marina
Abramović, ihre Verbun-
denheit – beruflich und
privat – dauerte mehr als
zehn Jahre. Es entstanden
legendäre Performances:
In »The Lovers« wanderten
beide von entgegengesetz-
ten Enden der chinesischen
Mauer aufeinander zu, tra-
fen sich nach 90 Tagen, ver-

abschiedeten und trennten
sich, als Künstler und als
Paar. Als Ulay 2010 die Per-
formance »The Artist Is
Present« von Abramović im
New Yorker Museum of
Modern Art besuchte, bei
der sie Besuchern schwei-
gend gegenübersaß, reichten
sie sich nach vielen Jahren
die Hände. Am 2. März
starb Ulay in Ljubljana. CLV

Freeman Dyson, 96
Genie und Irrwitz lagen
dicht beisammen bei dem
Mathematiker und Visionär,
der mehr als 60 Jahre lang
am Institute for Advanced
Study in Princeton, New
Jersey, arbeitete. Sein wohl
größter Geistesblitz kam
dem Briten 1948 auf einer
Fahrt durch Amerika in
einem Greyhound-Bus: die
Vereinheitlichung von zwei
konkurrierenden Theorien
zur Beschreibung von Licht
und Materie – ein Durch-
bruch auf dem Feld der
Quantenelektrodynamik.
Dyson kultivierte seine

Rolle als Außenseiter und
wilderte durch die For-
schungsgebiete, von Astro-
physik über Biologie bis zur
Entwicklung von Atomreak-
toren. Er erarbeitete Pläne
für ein Raumschiff, das zu
Mars und Saturn reisen soll-
te, und setzte sich gegen
Atombomben ein, später
schlug er vor, Kometen mit
gen manipulierten Bäumen
zu bepflanzen. Den Sinn
des Universums sah er im
»Prinzip der maximalen
Vielfalt«, dem Drängen
aller Dinge hin zur interes-
santesten aller möglichen
Welten. Freeman Dyson
starb am 28. Februar in der
Nähe von Princeton. HIL

Freimut Duve, 83
Er zählte zum raren Typus
des sozialdemokratischen
Intellektuellen. Als Sohn
einer anthroposophischen
Steuerberaterin und eines
jüdischen Journalisten kam
er 1936 in Würzburg zur
Welt, wuchs in Hamburg
auf, studierte Geschichte,
reiste früh nach Afrika und
beschäftigte sich mit Kolo -
nialgeschichte. Nach einem
Intermezzo beim »Stern«
begann er 1970 als Lektor
beim Rowohlt Verlag und
begründete rororo-aktuell,
eine einflussreiche Reihe
politischer Sachbücher, in
der er ökologische Vorden-
ker wie Ivan Illich und
Erhard Eppler veröffentlich-
te. 1980 wurde er im Wahl-
kreis Hamburg-Mitte in den
Bundestag gewählt, tat sich
mit Charme und Humor
als kulturpolitischer Spre-
cher der SPD hervor. Nach
18 Jahren im Bundestag
wurde er Medienbeauftrag-
ter der Organisation für
Sicherheit und Zusammen-
arbeit in Europa und setzte
sich für Pressefreiheit ein.
Freimut Duve starb am


  1. März in Hamburg. MBS


SVEN SIMON

ANDREAS ARNOLD / DPA

CHRISTIAN CHARISIUS / DPA
Free download pdf