Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
ten härter werden und der Mensch in
Bedrängnis gerät, so steht es im »Ge-
sang der Flusskrebse«, könne es passie-
ren, dass der Mensch auf seine Ur -
instinkte zurückfalle, die grausam sein
können. »Manche Verhaltensweisen,
die uns heute brutal erscheinen, haben
das Überleben der ersten Menschen in
einer feindlichen Umwelt gesichert.
Ohne diese Instinkte gäbe es uns nicht.
Sie sind noch immer in unseren Genen
gespeichert, und sie treten in Erschei-
nung, wenn gewisse Umstände es ver-
langen. Zum Teil werden wir immer das
sein, was wir waren, was wir sein muss-
ten, um zu überleben – vor langer Zeit.«
Owens erzählt von der Löwenmut-
ter, die sie in Afrika beobachtet hat. Die
Mutter mühte sich ab, während einer
Dürre ihre Jungen zu versorgen, doch
es wurde immer schwerer, die Rippen
der Jungtiere stachen schon durchs Fell.
Irgendwann kam die Mutter nicht wie-
der. Sie hatte ihre Jungen verlassen. Sie
würden sterben. Die Mutter aber würde
sich woanders unter günstigeren Um-
ständen erneut vermehren.
»Die Natur unterscheidet nicht zwi-
schen richtig oder falsch. Sondern zwi-
schen effektiv und vergeblich«, sagt
Owens. In ihrem Roman kommt dieses
Beispiel auch vor, allerdings anhand
von Füchsinnen. Kya versucht, sich da-
mit die Flucht der Mutter zu erklären,
die, wie sie später erfährt, anders als
vielleicht die Löwin nie wieder in ihrem
Leben froh geworden ist.
Das Buch stecke voller geheimer
Hinweise, sagt Owens in dem alten
Grand Hotel. Hinweise auf den Mörder,
aber auch anderer Art. Und an dieser
Stelle nimmt die ganze Flusskrebs-
Geschichte plötzlich eine interessante
Abzweigung.
Delia Owens hat 22 Jahre zusammen
mit ihrem damaligen Mann Mark in
Afrika gelebt, zunächst in Botswana,
danach in Sambia. Sie hatten sich an
der Universität kennengelernt und sind
als junges Abenteurerpaar zusammen
in die Wildnis gegangen, haben teilwei-
se wochenlang keinen anderen Men-
schen gesehen, nur Tiere. Irgendwann
kippte es. In Sambia fürchtete Owens
um ihr Leben, es war Ende der Achtzi-
ger, die Hochphase der Wilderer. Mark
Owens wollte sich den Wilderern ent-
gegenstellen, Delia beschwor ihn, nur

6 SPIEGEL BESTSELLER / FRÜHJAHR 2020


aufrichtiger Fischerjunge bringt ihr das
Lesen bei, sie wird zur Expertin der
Marsch und ihrer Bewohner, Tiere wie
Pflanzen. Doch im nahe gelegenen Ort
ist sie nur das Marschmädchen, die Ver-
rückte aus dem Sumpf, dort, wo kaum
einer hinkommt und wo nur Spinner,
Neonazis oder Ex-Häftlinge wohnen.
Der zweite Handlungsstrang spielt
1969 und beginnt mit einer Mordermitt-
lung und schließlich einem Prozess, bei
dem das Marschmädchen, die inzwi-
schen 23-jährige Kya, des Mordes an-
geklagt ist. Sie soll den Dorfschönling
Chase Andrews vom Feuerwachturm
im Sumpf gestoßen haben. Zuvor war
Kya erneut verlassen worden, diesmal
von dem Fischerjungen, der ihr das Le-
sen beigebracht hatte und ihre erste Lie-
be geworden war. Emotional unterkühlt
hatte sie eine Affäre mit Andrews be-
gonnen, der ihr die Ehe versprach, aber
längst verlobt war mit einem gesell-
schaftlich akzeptableren Mädchen.
Wäre es tatsächlich denkbar, dass
Kya ihn umgebracht hat? Sie hat ein Ali-
bi – ist der Prozess also nur die Rache
der Zivilisation an jemandem, der nicht
nach ihren Regeln spielen wollte?
Delia Owens sagt, der Roman hand-
le von Isolation, etwas, das sie auch
kenne. Sie hat sich von einem Fahrer
von ihrem Haus zum Hotel fahren las-


sen, sie sagt, sie kenne die Wege noch
nicht so gut.
Wer einmal in Abgeschiedenheit ge-
lebt hat, entweder, weil man in den
Sumpfgebieten North Carolinas zu-
rückgelassen wurde oder in der Seren-
geti-Wüste jahrelang Hyänen studierte,
der habe es schwer, wieder zurückzu-
kehren in die Zivilisation mit ihren
selbst gemachten Regeln. Ihr sei es so
gegangen nach 30 Jahren in der Wild-
nis, sagt Owens, und sie habe heute
noch Schwierigkeiten.
Und so verhandelt »Der Gesang der
Flusskrebse« auf relativ schockierende
Weise auch die Frage, welche Gesetze
zu gelten haben, die der Natur aus dem
Sumpf oder der Steppe Afrikas oder die
der Zivilisation, die moralischen Impe-
rative des Gefühls oder die Maximen
der Vernunft? Das Staatsrecht hat zu
Beginn der Aufklärung diese Frage ein-
deutig beantwortet. Weil der Mensch
dem Menschen ein Wolf sei, müssten
durch Vernunft geborene Gesetze das
Zusammenleben organisieren. Aber
Thomas Hobbes, von dem dieser Satz
stammt, war eben auch kein Zoologe.
Da Delia Owens 30 Jahre das Sozial -
verhalten von Hyänen, Löwen und
Elefanten beobachtet hat, ahnt man
vielleicht, in welche Richtung sie als
Schriftstellerin tendiert. Wenn die Zei-

»Ohne diese Instinkte gäbe es uns nicht.
Sie sind in unseren Genen gespeichert.«

Abenteurerin Owens in Afrika um 1978

Titel
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