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eines Kalaschnikow-Kaufs bewerteten sie
mit »eher auszuschließen« – und sollten
damit recht behalten. 2016 tötete Amri
nicht mit Gewehren, sondern mit Pistole
und einem Lastwagen. Diese Gefahr wie-
derum hatte das BKA nicht vorhergesehen.
Erst nach dem Berliner Anschlag refor-
mierte die Behörde ihre Analysemetho-
den, um das Gefahrenpotenzial von Isla-
misten besser abschätzen zu können.
Die Bundeskriminalisten schienen den
Warnungen aus Düsseldorf grundsätzlich
nicht zu trauen. Die »von der VP geschil-
derten Anschlagspläne« Amris ließen sich
»bisher anderweitig in keiner Weise« be-
stätigen, hieß es in einem als »geheim«
eingestuften Vermerk vom 4. Februar
- Außerdem gebe es eine Sprachbar-
riere zwischen Informant und Islamist,
weshalb deren Kommunika tion »nicht
gänzlich frei von Interpreta tionen der VP
sein dürfte«.
Ganz anders die Einschätzung des nord-
rhein-westfälischen Landeskriminalamts
und des Generalbundesanwalts. Sie wa-
ren restlos überzeugt von ihrer VP01. In
einem Dokument hielten die Düsseldorfer
Beamten fest, es seien »auch nach in -
tensiver Prüfung keine plausiblen Gründe
erkennbar, die die Quelle veranlassen
könnten, die Unwahrheit zu sagen«.
Hinter diesen Zeilen steckten auch stra-
tegische Überlegungen. Cems Aussagen
wurden für das Ermittlungsverfahren ge-
gen Abu Walaa und seine Hassprediger-
Kameraden dringend gebraucht. Ein
V-Mann, vom BKA amtlich zum Auf-
schneider erklärt, wäre für den Fall eine
Katastrophe gewesen.
Um die Zweifel an Cems Glaubwürdig-
keit auszuräumen, schlug das BKA vor,
den V-Mann zu verkabeln, um alle Gesprä-
che aufzeichnen zu können. Cem stimmte
zu, doch seine VP-Führer aus Nordrhein-
Westfalen lehnten ab: Es sei zu gefährlich,
Cems Leben stehe auf dem Spiel.
Der Streit zwischen den Behörden über
die Frage, wie gefährlich Amri und wie
glaubwürdig der V-Mann in seiner Nähe
sei, nahmen zu. Am 23. Februar 2016 kam
es zu einem Krisentreffen in Karls ruhe.
Vertreter des Generalbundesanwalts wa-
ren dabei, Beamte des LKA Nordrhein-
Westfalen, des BKA und ein Ermittler aus
Niedersachsen. Mehrere Teilnehmer be-
schrieben die Diskussion als »hitzig«, man-
che sagten, es sei »lautstark« gewesen.
Am Ende setzten sich der General -
bundesanwalt und das Landeskriminal-
amt Nordrhein-Westfalen durch. In einem
Vermerk war die Rede von »der unein -
geschränkten Vertrauenswürdigkeit der
VP01«. Murat Cems Angaben wurden nun
offiziell als »plausibel« bewertet.
Zugleich verdichteten sich die Hinweise
auf Amris Anschlagsbereitschaft. Im Netz
hatte der Tunesier Dschihad-Seiten ange-
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steuert und Anleitungen zum Bau von
Rohrbomben gelesen.
Für die Ermittler des Düsseldorfer LKA
stand damit fest, dass Amri einen An-
schlagsplan verfolgte. Sie schrieben an den
Generalbundesanwalt und regten die Ein-
leitung eines Verfahrens wegen der Vor-
bereitung einer schweren staatsgefährden-
den Gewalttat an.
Karlsruhe übergab den Fall an die Ge-
neralstaatsanwaltschaft Berlin. Diese er-
öffnete tatsächlich ein Verfahren wegen
versuchter Beteiligung an einem Tötungs-
delikt. Doch die Berliner Polizei ermittelte
ergebnislos, sie überwachte Amri auch
bald nicht mehr. Statt für einen potenziel-
len Terroristen hielten die Beamten ihn
für einen eher durchschnitt lichen Drogen-
chergehen will, ins Paradies zu kommen«,
warnte Cem seine VP-Führer und berich-
tete, dass Amri in den kommenden Tagen
nach Berlin fahren wolle.
Die Düsseldorfer Beamten vom Staats-
schutz alarmierten ihre Kollegen in der
Hauptstadt. Sie baten darum, dass Amri
beschattet würde, aber keinesfalls kontrol-
liert. Man fürchtete, Amri könnte misstrau-
isch werden und Cem, den vermeintlichen
Freund, verdächtigen, seine Reise verraten
zu haben.
Kaum aber war Amri in Berlin aus dem
Flixbus ausgestiegen, es war der 18. Fe bru -
ar 2016, sprachen ihn Berliner Beamte mit
Namen an und kontrollierten ihn. Für
Amri konnte kein Zweifel bestehen: Die
Polizisten hatten auf ihn gewartet. Er war
dealer. Es war eine verheerende Fehlein-
schätzung. Die Warnungen des V-Mannes
verhallten im Durcheinander der zustän-
digen Behörden.
Murat Cem und Anis Amri waren sich
über die Monate nähergekommen. Sie
schliefen zusammen in der Dortmunder
Moschee, Rücken an Rücken, Kopf an
Kopf in einem kleinen Raum. Cem fuhr
mit Amri nach Hildesheim, in die Moschee
zu Abu Walaa. Im Februar 2016 fiel ihm
auf, wie schweigsam der Tunesier war.
Amri wirkte in sich gekehrt. Er hörte Na-
schids, islamistische Gesänge, und sah sich
Prediger auf YouTube an.
War das die Ruhe vor dem Sturm? Be-
reitete sich Amri auf einen Anschlag vor?
»Er ist nur mit Allah und sich selbst be-
schäftigt. Man könnte meinen, dass er si-
gewarnt und alarmierte sofort seine Glau-
bensbrüder in Dortmund. Für Cem konnte
es nun sehr gefährlich werden.
Seine VP-Führer trafen ihren Informan-
ten in einer McDonald’s-Filiale in der
Nähe des Düsseldorfer LKA. Er erinnerte
sich später nicht mehr genau an die Be-
griffe, mit denen die Beamten ihre Ber -
liner Kollegen bedachten. Die Ausdrücke
»Idioten« und »Scheiße« seien wahr-
scheinlich gefallen.
Er sei nun in großer Gefahr, sagte ein
Polizist zu Cem. Schließlich hatte der Spit-
zel kurz vor der Kontrolle noch angerufen,
um zu fragen, wann Amri in Berlin sein
werde. Wahrscheinlich war der Tunesier
nun überzeugt, dass Cem für die Behörden
arbeitete. Der V-Mann versuchte, nicht
darüber nachzudenken. Er war ohnehin
MOISES SAMAN / MAGNUM / AGENTUR FOCUS
S A L A F I S T L A U Der Konvertit Sven Lau, hier 2013 in Ägypten, gehörte jahrelang
zu den Führungs figuren der salafistischen Szene in Deutschland. V-Mann Cem
spähte 2008 die Moschee in Mönchengladbach aus, in der Lau regelmäßig auftrat.