Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
nicht getan.« Hätte er vielleicht auf eigene
Faust mit Amri nach Berlin gehen sollen,
gegen alle Anweisungen?
Cem fühlt sich heute alleingelassen im
Zeugenschutz. »Am Anfang war es okay,
die Beamten zeigten Interesse an mir
und meiner Familie«, sagt Cem. Doch
wenn er Probleme gehabt habe oder es
ihm nicht gut gegangen sei, habe er keine
Hilfe bekommen. Es habe immer öfter
Streit gegeben. Er sei »nicht der Prinz«,
hätten die Zeugenschützer ihm gesagt, so
Cem. Er habe sein Leben für die Polizei
riskiert. »Und das ist der Dank?«
Die Berichte, wonach ihn seine ehe -
maligen Islamistenkumpane und deren
Anwälte als »Agent Provocateur« bezeich-
neten, als einen, der Straftaten im Auftrag
des Staates provoziert habe, hätten ihm
wehgetan, sagt Cem.
Von den 50 000 Euro, die er für seinen
Islamisteneinsatz als Belohnung bekom-
men sollte, ist kaum etwas übrig geblieben.
Die Beamten des Zeugenschutzes haben
mit dem Geld Cems Schulden bezahlt.
2018 kam er wieder ins Schleudern. Ein
Spediteur und der Inhaber eines Paket-
dienstes beschuldigten ihn, sie beklaut
zu haben. Es ging um Tausende Liter Die-
sel, die verschwunden waren, und um ein
E-Bike. Weil er die Diebstähle vor Gericht
zugab, kam Cem mit einer Bewährungs-
strafe davon. Es war nun wie früher im
»Tal der langen Messer«: Murat Cem, der
Kleinkriminelle.
Die einst offenbar in Aussicht gestellten
deutschen Pässe für ihn und seine Frau
gab es plötzlich doch nicht. Beide leben
als geduldete Türken in der deutschen Pro-
vinz. »Im Moment habe ich ein ziemlich
katastrophales Leben«, sagt er.
Murat Cem hat verstanden, dass er
wahrscheinlich nie wieder als Informant
für die Polizei arbeiten wird. Gewöhnen
kann er sich nur schwer an den Gedanken.
»Irgendwann würde ich gern einmal den
Mann kennenlernen, der beschlossen hat,
mein Leben auszuknipsen«, sagt Cem,
wenn es ihm schlecht geht.
Doch diesen einen Mann gibt es nicht.
Seine Zeit als Spion endete, weil VP01 mit
dem Anschlag des Anis Amri zu einem
Politikum wurde, gefragt von den Unter-
suchungsausschüssen, gesucht von der
Presse. Keine Behörde will sich an ihm die
Finger verbrennen.
Wenn es Murat Cem gut geht, dann
hofft er trotzdem, irgendwann und irgend-
wo wieder als V-Mann arbeiten zu können.
Verbrecher zu jagen, das war eben doch
das Größte.

18 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020

‣Sendehinweis
»Der Terroristenjäger. Deutschlands wich -
tigster V-Mann packt aus«. SPIEGEL TV,
Montag, 9. März, 23.25 Uhr, auf RTL

AMRI-UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS IN BERLIN Das Gremium geht
der Frage nach, wie ein Gefährder unter den Augen der Behörden den bislang
mörderischsten islamistischen Anschlag in Deutschland begehen konnte.

gen und erinnerte den Spitzel an seinen
wichtigsten Auftrag, die Ausspähung von
Abu Walaa und dessen Umfeld. Amri sei
jetzt ein Berliner Problem, sagte einer der
Beamten.
Den Schlusspunkt seiner Beziehung mit
Anis Amri setzte Cem allerdings selbst.
Amri hatte sich am 30. April 2016 bei ihm
gemeldet und um ein Gespräch gebeten.
»Ich habe eine Sache sehr wichtig für Sie«,
schrieb Amri via Telegram. »Was Gutes?«,
fragte Cem. Er fügte seiner Nachricht ei-
nen Smiley hinzu. »Warum lachen Sie?
Stück Scheiße!«, schrieb Amri darauf. Und
dann der altbekannte Vorwurf: Cem sei
ein Spitzel der Polizei, ein Heuchler. »Wa-
rum sagst du so?«, schrieb der V-Mann zu-
rück. »Was ist passiert? Was soll das?«
Amri sei selber ein Heuchler, setzte er hin-
zu. »Du selber Arschloch.«
Anis Amri hatte wohl mitbekommen,
dass Cem in einem schwachen Moment
mit einem anderen Salafisten über den
Tunesier gelästert hatte, über seine Ag -
gressivität und Planlosigkeit. »Du bist ein
Scheißheuchler!«, tobte Amri. »Wenn ich
gucken dich, ich schlachte dich, verstehst
du, pfui, ich verfluche deine Mutter!«,
schrieb er Cem. »Hurensohn, Schweine-
hund, Schwein. Du bist Schwein. Komm
treffen mir in Dortmund. Ich bin in Dort-
mund. Du bist Mann, komm her!«
Die beiden sahen sich nie wieder. So
verlor auch die Polizei den Kontakt zu
Anis Amri. Der Terrorist wurde vier Tage
nach dem Anschlag in Italien auf der
Flucht erschossen. Und für Spion Cem
ging die Zeit unter Islamisten zu Ende.


Am 10. August 2016 durchsuchte die
Poli zei Moschee und Wohnung des Predi-
gers Abu Walaa. Tags zuvor hatte sie ihren
Spitzel VP01 aus der Szene abgezogen.
Abu Walaa war schnell klar, wer ihn ver-
raten hatte. In einem Telegram-Kanal rief
er zum Mord an Murat Cem auf. »Ich
möchte euch heute über einen Spion be-
richten, der seine Religion wegen ein paar
Euro verkauft hat«, sagte er.

»Wir hätten Amri stoppen


können«, sagt Murat


Cem, »aber wir haben es


nicht getan.«


Die Polizei stellte Cem und seine Fami-
lie unter Zeugenschutz, den sie aber eher
als Käfig empfanden. Sie kamen in eine
ihnen unbekannte Kleinstadt, in der es
nicht viel zu tun gab. »Ihr nehmt mir
mein Leben«, sagte Cem den Beamten.
Zur Polizei verlor er langsam den Kontakt.
Im September 2016 telefonierte er mit sei-
nem ehemaligen VP-Führer. Der Beamte
arbeitete inzwischen für den Staatsschutz
in Krefeld und sagte, er müsse jetzt den
Fall Amri bearbeiten. »Passt gut auf den
auf!«, sagte Cem und wiederholte sein ewi-
ges Mantra. »Der ist wirklich gefährlich.«
Murat Cem macht sich immer noch
schwere Vorwürfe. »Wir hätten ihn stop-
pen können«, sagt er, »aber wir haben es

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