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rgendwann steht Alexander Dobrindt
ansatzlos auf und läuft zum Bespre-
chungstisch. Dort liegen ein paar Pa-
piere, der Chef der CSU-Landesgruppe
im Bundestag sucht kurz, nimmt eines da-
von, läuft zurück und setzt sich wieder. In
der Hand hält er die Bundestagsdruck -
sache 19/17513, einen Antrag der Grünen-
fraktion. Dobrindt sieht darin geeignete
Munition.
Es ist Mittwochnachmittag, die Grünen
wollen den Antrag am Abend im Bundes-
tag zur Abstimmung stellen, es geht um
die dramatische Lage in Griechenland. Sie
fordern, »ein Kontingent von 5000 beson-
ders schutzbedürftigen Menschen« auf -
zunehmen, etwa »unbegleitete Kinder,
Schwangere, allein reisende Frauen, Al-
leinerziehende und schwer Traumatisier-
te«. Dobrindt zitiert ein bisschen aus dem
Papier, dann sagt er: »Die Grünen können
da gar nicht aus ihrer Haut. Das ist Teil ih-
res Gesellschaftsmodells, ihres Gencodes.«
Was genau meint er?
»Sie werden nie eine Partei sein, die die-
sen Reflex der offenen Grenzen kontrol-
liert bekommt.«
Offene Grenzen? Ein Reizbegriff ist zu-
rück in der deutschen Politik.
Eine Zeit lang spielte das Thema Migra-
tion innenpolitisch keine große Rolle mehr.
Selbst in der Union, die sich im Streit über
dieses Thema fast zerlegt hätte, war es ru-
higer geworden. Doch damit ist es vorbei.
Spätestens seitdem die Türkei die Tore
geöffnet und damit dramatische Bilder von
der Grenze zu Griechenland erzeugt hat,
ist das Thema wieder inmitten des Parteien -
streits. Die AfD hofft, daraus Kapital schla-
gen zu können, in der CDU werden die
Kandidaten für den Vorsitz nun auch da-
ran gemessen, welche Tonart sie in Migra-
tionsfragen anschlagen. Und manche in
der Union wittern eine Gelegenheit, auf
die sie lange gewartet haben: die Grünen
wieder unter 20 Prozent zu drücken.
Die Unionsstrategen sehen seit Länge-
rem, dass die Grünen sich in der Mitte fest-
setzen – und mit den Vorsitzenden Anna-
lena Baerbock und Robert Habeck zwei
potenzielle Kanzlerkandidaten haben.
Deshalb nehmen die Angriffe aus der
Union auf die Grünen zu, es wird giftiger.
Bislang hatte das kaum einen Effekt, doch
nun ist jenes Thema zurück, das die Ge-
sellschaft polarisiert wie kein anderes.
Kann es zum entscheidenden Punkt beim
Kampf um die Mitte werden? Oder spaltet
es am Ende doch wieder die Union?
Dienstagvormittag, die bayerische Lan-
desvertretung in Berlin, Alexander Do -
brindt hat eingeladen, um bei Weiß -
würsten und Brezen ein paar Botschaften
unter die Medien zu bringen. Kurz geht
es um das Coronavirus, dann ist Dobrindt
dort, wo er hinwollte: bei der Lage in Grie-
chenland.
Zuvor hat die Fraktionschefin der Grü-
nen, Katrin Göring-Eckardt, auf Twitter
geschrieben: »Die Bereitschaft zu helfen
ist da.« Nun legt Dobrindt los: Was von
der Grünenspitze verbreitet werde, sei
»verantwortungslos, weil es vollkommen
falsche Hoffnungen in die Welt setzt«. Es
sei »zynisch, so zu tun, als hätte es 2015
und seine Auswirkungen nicht gegeben«.
Und: »Es ist falsch, sich auf den Weg zu
machen, und es gibt keine Chance, nach
Deutschland zu kommen.«
Es ist der Sound des Jahres 2015 und
danach. Man hat ihn länger nicht gehört,
auch von der CSU nicht.
Eigentlich hatten die Christsozialen aus
dem Landtagswahlkampf 2018 gelernt.
Damals hatten sie versucht, sich der AfD
rhetorisch anzunähern – was allein die
Rechten stärkte. Ministerpräsident Mar-
kus Söder gibt sich seither als Mann der
Mitte und übernimmt in der Umweltpoli-
tik Grünenpositionen. Das Kalkül: Kon-
servativen liegt die Bewahrung der Schöp-
fung womöglich noch mehr am Herzen als
Grünenwählern aus der Großstadt.
Auch wirtschafts- und sozialpolitisch
bieten die Grünen unter Habeck und Baer -
bock wenig Angriffsfläche. Stattdessen ha-
ben die Parteistrategen der CSU mehrere
Themen identifiziert, bei denen sie den
Grünen ihren Status als bürgerliche Partei
absprechen wollen. Das aus ihrer Sicht
Wichtigste: die Migration. Eine Willkom-
menskultur wie 2015, davon sind die Kon-
servativen überzeugt, ist in der bürger -
lichen Mitte nicht mehrheitsfähig.
An der CDU-Spitze sieht man die Mög-
lichkeit ebenfalls, doch hier kämpft man
32 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020
Union der Angst
ParteienDer Streit um die Flüchtlinge ist zurück in der deutschen
Politik. Die Union will das Thema nutzen, um die
Grünen endlich anzugreifen. Doch sie ist selbst tief zerstritten.
INGO PERTRAMER / DER SPIEGEL PETER RIGAUD / DER SPIEGEL
Politiker Dobrindt, Laschet, Merz: Der Sound des Jahres 2015
MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL