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s ist die größte Lebenslüge der Bundesrepublik:
der Glaube an eine tatsächliche Aufarbeitung
der nationalsozialistischen Vergangenheit. Eine
kleine, gebildete, linksliberale Elite hält etwas
für ein gesellschaftliches Phänomen, das zwar im intel -
lektuellen Diskurs tatsächlich existiert, aber im ge -
samtgesellschaft lichen Raum nur rudimentär verankert
ist und zunehmend abgewehrt wird: die ernsthafte Aus -
einandersetzung mit der NS-Zeit, den Abschied vom
eigenen Opfermythos und die Auseinandersetzung mit
der antisemitischen Täterschaft in den meisten Fami -
liengeschichten. Laut einer Studie des Jüdischen Welt-
kongresses Ende 2019 sind 41 Prozent der Deutschen
der Auffassung, Juden sprächen zu viel über den Holo-
caust. Das »kollektiv getragene und komplizenhafte
Verschweigen der Verbrechen durch weite Teile der
Nachkriegsgesellschaft«, von dem der Psychoanalytiker
Wolfgang Hegener spricht, wirkt weiter fort, als es
die auf geklärten Eliten in Politik, Kultur und Medien
wahrhaben wollen. Man hält die eigenen Posi tionen
für gesellschaft liche Realität und übersieht, dass sie nur
die einer kleinen Elite sind.
Die Politikwissenschaftler Claus Leggewie und Erik
Meyer haben die deutsche Selbstfindung in einem titel -
gebenden Zitat ihres 15 Jahre alten Buches über die
Debatte zur Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Ber-
lin zusammengefasst: »Ein Ort, an den man gerne geht«.
Die Bilder sind bekannt, auf denen
Teenager und Erwachsene am Mahn-
mal posieren, als wäre es eine Film-
kulisse. Und seitdem die AfD als
dröhnender Lautsprecher der anti -
semitischen Geschichtsrevisionisten
parlamentarisch verankert ist, fallen
ihre Claqueure auch in NS-Gedenk-
stätten durch antisemitische Parolen
und Leugnung der Schoa auf.
»Ein Ort, an den man gerne geht« –
man möchte nichts wissen über Natio-
nalsozialismus und Schoa, nichts über
die Täterschaft der eigenen Eltern,
Großeltern und Urgroßeltern, aber
dennoch seinen moralischen Profit da -
raus ziehen. Dahinter steckt ein
gefährliches Überlegenheitsdenken.
Es bricht sich nicht nur in of fenem und
latentem Antisemitismus Bahn, sondern auch in einer bevor-
mundenden Haltung gegenüber der Welt, in der man von
Deutschlands Geschichtspolitik lernen solle.
Die Deutschen brachten die antisemitische Vernichtung
über Europa und die Welt. Nun möchten sie, wie es die
Historikerin Ulrike Jureit auf den Begriff gebracht hat, als
»Olympioniken der Betroffenheit« auch ihr Erinnerungs-
modell exportieren. Unter dessen glänzendem Lack findet
sich bei genauerem Hinsehen aber der Rost des deutschen
Opfermythos und antisemitischer Schuldabwehr.
»Ein Ort, an den man gerne geht« – es fasst die deutsche
Alltagserinnerung präzise zusammen. Die abgewehrte
und unaufgearbeitete Schuld und Verantwortung löst die
Schoa in ein nebulöses Verurteilen von Gewalt auf.
Es scheint weder eindeutige Täter noch Opfer zu geben.
Die Täterschaft der eigenen Eltern oder Großeltern
aber verschwindet nicht dadurch, dass sie verleugnet oder
unbearbeitet verdrängt wird. Die infantile Lüge, die schon
Alexander und Margarete Mitscherlich in »Die Unfähig-
keit zu trauern« als psychischen Abwehrmechanismus
beschrieben haben, nach der man im Nationalsozialismus
»nur« dem Führer gefolgt, von diesem verraten worden
und damit selbst zum Opfer geworden sei, wird von der
Kinder- und Enkelgeneration tradiert: als doppelte Lüge
über die Eltern und Großeltern, deren Täterschaft emotio-
nal und symbolisch im Alltag stets präsent geblieben ist.
Etwa in Familienfotoalben mit Wehrmachts- und SS-Uni-
formen und auf Postkartensammlungen »von der Front«.
Durch Waffenschränke, die in den Wohnungen stehen,
und lokale Aufmarsch- und Initiationsorte, die etwa von
Schützen- und Heimatvereinen weiter genutzt wurden.
Durch Vertriebenentreffen mit geschichts- und gebiets -
revisionistischer Rhetorik und völkischer Brauchtumspfle-
ge. Die Generation der Täter wirkt auch nach in NS-Bau-
werken, deren Architektur trotz Entfernung der Haken-
kreuze nazistisch geblieben ist, und durch öffentlich erhal-
tene NS-Kunst, von Leni Riefenstahl bis Arno Breker.
Die Täterschaft der Eltern und Großeltern blieb außer-
dem in den völkischen und antisemitischen Begriffen prä-
sent, die nach dem Krieg weiter verwendet wurden: im
Raunen und Imitieren des vermeintlich Jüdischen oder
im Festhalten an »deutschen Tugenden« wie Ordnung und
Sauberkeit, die vom Nationalsozialismus nicht »miss-
braucht« wurden, sondern ihn vorbereitet haben. Sie blieb
gewahr in den Erziehungsidealen der Härte und Schmerz-
freiheit und im Hass auf Amerika und die Sowjetunion, der
eine Reformulierung des Anti semitismus war. Sie wirkte
nach in der klammheimlichen Freude über die antisemiti-
sche Schmierwelle 1959/60 und der Sympathie für Bundes-
kanzler Konrad Adenauer, der sagte, diesen »Lümmeln«
müsse man nur »eine Tracht Prügel« geben.
J
ede und jeder wusste, dass es unzählige Täter gab,
aber kaum jemand wollte wahrhaben, dass sie
am Abend mit am Esstisch saßen, als »vom Krieg«
die Rede war. Es war jener Krieg, von dem man
dann in der Schule erfuhr, dass es ein deutscher Ver -
nichtungs krieg war, und lernte, dass die Nazis Millionen
Menschen ermordet hatten. Man musste ahnen, dass
es einen Zu sammenhang zwischen Geschichtslernen
und der eigenen Familiengeschichte gibt, wollte ihn sich
aber nie einge stehen. Die ins Unbewusste verdrängte
familiäre Täterschaft brach später oft als Schuldabwehr,
als Israelhass, als un bedingte Palästinensersolidarität
wieder hervor.
Samuel Salzborn
Die Lüge von der
Aufarbeitung
EssayAntisemitismus macht sich wieder breit
in Deutschland. Das hat auch mit dem Glauben zu
tun, die Bürger hätten sich vorbildlich mit
dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt.
Das stimmt leider nicht.
Salzborn,42, ist Politik -
wissenschaftler und lehrt an
der Universität Gießen.
Anfang März erscheint sein
Buch »Kollektive Unschuld.
Die Abwehr der Shoah
im deutschen Erinnern« bei
Hentrich & Hentrich.
DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020
STEFFEN ROTH / DER SPIEGEL
Deutschland