Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
Ausland

D


as Haus der Familie Arab ist an
diesem Donnerstagmittag voller
Menschen. Verwandte, Nach-
barn und Freunde sind gekom-
men, um Mohammed al-Arab, dem zweit-
ältesten Sohn der Familie, die letzte Ehre
zu erweisen.
Mohammed al-Arab war aus Syrien in die
Türkei geflohen, einer von Millionen Kriegs-
flüchtlingen. In einer Schuhfabrik in Istanbul
hatte er Arbeit gefunden, um seine Familie
zu ernähren, die in Afrin, im Nordwesten
Syriens, zurückgeblieben war. »Mohammed
war ein guter Junge«, sagt sein Onkel Ah-


mad am Telefon. »Er wollte nicht kämpfen,
deshalb ist er in die Türkei gegangen.«
Sein Tod hat bei seiner Familie nicht
nur Trauer, sondern auch Wut ausgelöst.
Mohammed sei nicht einfach gestorben,
sagt sein Onkel. »Er wurde ermordet.« Er
ist ein Opfer der Härte Europas, so sieht
es die Familie.
Mohammed al-Arab, bei seinem Tod ge-
rade einmal 22 Jahre alt, war unter jenen
Tausenden Männern, Frauen und Kindern,
die sich vergangene Woche von Istanbul
aus nach Griechenland aufmachten, nach-
dem Präsident Recep Tayyip Erdoğan er-
klärt hatte, dass die Türkei den Weg nach


Norden nicht mehr blockiere. Beim Ver-
such, die türkisch-griechische Grenze zu
überwinden, wurde Mohammed al-Arab
am frühen Montagmorgen von einem Ge-
schoss am Hals getroffen. Noch ist unklar,
ob es sich um eine Gewehrkugel handelte
oder um ein Gummigeschoss. Unklar ist
auch, wer auf ihn geschossen hat.
Ein Augenzeuge erzählte dem SPIEGEL,
griechische Grenzschützer hätten das Feu-
er eröffnet. Auch die türkischen Behörden
geben Griechenland die Schuld an Arabs
Tod. Die Rechercheagentur Forensic Archi -
tecture mit Sitz am Goldsmith College in

London hat Videos ausgewertet, die unmit-
telbar vor und nach der Tat entstanden
sind. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass er
im Grenzgebiet offenbar erschossen wurde.
Die griechische Regierung bezeichnet die
Anschuldigung, eigene Polizisten oder Sol-
daten hätten ihn erschossen, dagegen als
»Falschmeldung«.
Klar ist nur: Ein Mann ist tot.
Wenn es stimmt, was die Zeugen vor
Ort und die Rechercheure in London sa-
gen, dann stellt der Tod Mohammed al-
Arabs einen Einschnitt dar: Dann hätten
Grenzschützer einen Flüchtling an der EU-
Außengrenze erschossen. Es wäre ein wei-

terer Tiefpunkt eines politischen und
menschlichen Dramas, über das die Euro-
päer die Kontrolle verloren haben.
In dem Willen, die Grenzen dichtzuma-
chen, offenbart sich ein Kontinent, der ver-
härtet ist. Am Mittwoch sollen bei Schüs-
sen durch griechische Sicherheitskräfte er-
neut fünf Menschen verletzt und einer ge-
tötet worden sein.
Erdoğan hat mit seiner Grenzöffnung
eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, auch
wenn sich zunächst nur einige Tausend
Menschen tatsächlich auf den Weg mach-
ten, viele in Bussen, die von der Regierung
gechartert worden waren. Doch das genüg-
te schon, um Europas Politiker in Panik
zu versetzen.
Die Erinnerung an das Jahr 2015 wurde
wieder wach, als fast täglich Flüchtlings-
boote im Mittelmeer kenterten, Frauen
und Kinder starben. Hunderttausende
machten sich in langen Trecks auf den Weg
nach Norden, die Bilder von Menschen-
gruppen, die über Landstraßen und Auto-
bahnen wanderten, haben sich ins Ge-
dächtnis des Kontinents gebrannt. In vie-
len Ländern nutzten Rechtspopulisten die
Angst, um gegen Einwanderer zu hetzen.
Am Donnerstagabend einigten sich Pu-
tin und Erdoğan auf einen Waffenstillstand
und eine Pufferzone in der Rebellenpro-
vinz Idlib. Das verschafft den Hunderttau-
senden Flüchtenden dort womöglich eine
Pause. Aber es ist fraglich, ob der Deal die
Situation der Menschen dauerhaft verbes-
sert, da die beiden Autokraten schon zu-
vor Stillstandsabkommen schlossen, die
sie oder ihre Verbündeten missachteten.
Griechenland hat seine Grenze zur Tür-
kei inzwischen fast komplett abgeriegelt.
Soldaten und Polizisten wehren mit Trä-
nengas und Schlagstöcken Schutzsuchen-
de ab. Laut Uno sitzen gut 13 000 Men-
schen im Grenzgebiet zwischen der Türkei
und Griechenland fest, fast die Hälfte da-
von Familien mit Kindern. Sie sind zur
Verhandlungsmasse im Ringen zwischen
der türkischen Regierung und Europa ge-
worden. Der türkische Präsident will
Europa mit seinem Manöver zur Koope-
ration in Syrien nötigen; er fordert noch
mehr Geld für die Versorgung der Flücht-
linge in der Türkei.
Griechenland hat diese Woche verkün-
det, das Recht auf Asyl für einen Monat

76 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020


Vor verschlossenen Toren


MigrationAn Europas Außengrenze in Griechenland offenbart sich das Drama eines Kontinents.
Seit der türkische Präsident Erdoğan Flüchtlinge nach Norden durchwinkt,
ist die Angst groß, dass sich die Krise von 2015 wiederholt. Schafft die EU das Asylrecht ab?

MURAT CETINMUHURDAR / PPO / REUTERS
Politiker Erdoǧan: Flüchtlinge als Druckmittel
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