Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
75

Fall Assange
Kritik am Uno-
Folterexperten

 Im Fall des inhaftierten
WikiLeaks-Gründers Julian
Assange gab es große Auf-
merksamkeit für den Bericht
von Nils Melzer, dem Uno-
Sonderberichterstatter für
Folter. Doch eine der beiden
Frauen, die 2010 in Schweden
bei der Polizei aussagten,
weil Assange sie sexuell
bedrängt habe, wehrt sich
jetzt gegen Melzers Darstel-
lung. Noch nie habe sie sich
»so sehr missbraucht gefühlt«
wie durch ihn, schreibt die
Schwedin Anna A. in einem
Dossier, das sie an Melzers
Büro geschickt hat und das
der SPIEGELeinsehen konn-
te. Melzer hatte von Mani -
pulationen durch die schwedi-
schen Ermittler gesprochen
und die Erfindung einer »Ver-
gewaltigungserzählung«
behauptet. So schiebe er die
Schuld den Opfern zu,
schreibt die Frau; es sei »eine
klassische patriarchalische
Technik, die Bedingungen
dafür zu definieren, wie ›ein

echtes Vergewaltigungsopfer‹
sich zu verhalten habe«. Sie
hält dem Juristen zudem vor,
teilweise die Unwahrheit über
die Ermittlungen verbreitet
zu haben. Dies sei »ein
Grund, seine Tätigkeit bei der
Uno zu beenden«. Anna A.
und Melzer hatten zuvor
E-Mails ausgetauscht. Darin
zeigte sich der Sonderbericht-
erstatter offen für mögliche
Änderungen in seiner Darstel-
lung: »Mein Verständnis der
Sachlage ist vielleicht noch
unvollständig.« Allerdings sei
klar, dass die 2010 gemachten
Aussagen, vor allem die
des zweiten mutmaßlichen
Opfers, »absichtlich verzerrt,
verbreitet und instrumentali-
siert« worden seien, um
Assange zu schaden. Ähnlich
wie Anna A. haben Men-
schenrechtsanwälte und Jura-
professoren aus mehreren
Ländern Melzer bereits scharf
kritisiert. In einem offenen
Brief warfen sie ihm vor,
seine Einlassungen seien »in
Bezug auf sexuelle Gewalt
sowohl rechtlich abwegig als
auch schädlich«. Melzer wies
das mit einer ausführlichen
Begründung zurück. DIP

Israel

»So funktioniert


Populismus«


Am 2. März hat Israel ein
neues Parlament gewählt –
zum dritten Mal binnen einem
Jahr. Zuvor hatte keiner der
Kandidaten eine mehrheitsfähi-
ge Koalition bilden können;
diesmal war das Ergebnis ein-
deutiger. Trotzdem sei eine
vierte Wahl nicht ausgeschlos-
sen, sagt Gideon Rahat, 53,
Politikwissenschaftler an der
Hebrä ischen Universität Jeru -
salem und dem Israelischen
Demo kratie-Institut.

SPIEGEL: Die Likud-Partei von
Ministerpräsident Benjamin
Netanyahu ist stärkste Kraft
geworden. Ist das politische
Patt nun beendet?
Rahat:Das wissen wir noch
nicht. Sein Herausforderer
Benny Gantz vom Bündnis

Blau-Weiß hat die Wahl zwar
verloren – aber das heißt nicht,
dass Netanyahu gewonnen
hat. Im Moment hat Netan -
yahus rechts-religiöser Block
nur 58 Stimmen. Für eine
Mehrheit brauchte Netanyahu
aber 61 Knesset-Sitze.
SPIEGEL: Wie geht es weiter?
Rahat: Netanyahu wird ver -
suchen, Mitglieder anderer
Parteien zum Überlaufen zu
bewegen. Ob das gelingt, wird
sich zeigen. Auch eine vierte
Wahl ist möglich.
SPIEGEL: Netanyahu ist wegen
Korruption angeklagt, trotz-
dem hat eine Mehrheit für ihn
gestimmt. Warum?
Rahat:Netanyahu stellt es
so dar, als hätten sich die
Eliten gegen ihn verschworen:
Medien, Staatsanwälte – alle
seien hinter ihm her. So funk-
tioniert Populismus. Und er ist
sehr erfolgreich darin.
SPIEGEL: Israels Oberster
Gerichtshof will bald darüber

entscheiden, ob Netanyahu
trotz Anklage Minister -
präsident einer Koalition
bleiben darf.
Rahat:Netanyahu kämpft um
sein Leben, darum, nicht ins
Gefängnis zu müssen. Wenn
das Gericht gegen ihn entschei-
det, werden er und seine An -

hänger das nicht einfach hin-
nehmen. Sie werden das
Gericht attackieren, und die
Richter wissen das. Ich kann
mir vorstellen, dass sie deshalb
vor einer solchen Entschei-
dung zurückschrecken. Das
alles ist sehr gefährlich für die
israelische Demokratie. ARV

Europaparlament
Resolution
gegen Babiš

 Das Europaparlament geht
auf Konfrontationskurs zu
Tschechiens Premierminister
Andrej Babiš. Das Parlament
»verurteilt, dass der tsche-
chische Premierminister bei
der Umsetzung des EU-Bud-
gets in der Tschechischen
Republik in seiner Position
als Premierminister aktiv
befasst war und ist, während
er weiterhin als Gründer
eines Treuhandfonds das
Unternehmen Agrofert kon-
trolliert«, heißt es in einer
Resolution, die die Abgeord-
neten kommende Woche
beschließen wollen. Darin for-
dern die Parlamentarier die
EU-Kommission auf, die Zah-
lung von EU-Fördergeldern
»an Unternehmen, die direkt
oder indirekt im Eigentum
des tschechischen Premier -
ministers oder anderer Mit-
glieder der tschechischen
Regierung stehen, gründlich
zu überprüfen«. Der Resolu -
tion ging ein Besuch von Mit-
gliedern des Ausschusses der


Haushaltskontrolle in Prag
voraus. Ein vorgesehenes
Treffen mit Babiš kam dabei
nicht zustande. Stattdessen
beleidigte Babiš die Aus-
schussvorsitzende Monika
Hohlmeier (CSU) als »ver-
rückt« und tschechische Aus-
schussmitglieder als »Ver -
räter«. Babiš werden schon
länger Interessenkonflikte
vor geworfen. Die von ihm
gegründete Firma Agrofert
ist der größte Chemie-
und Nahrungsmittelkonzern
Tschechiens – und einer
der größten Empfänger von
EU-Fördergeldern im Land
(SPIEGEL24/2016). Babiš
habe drei Optionen, sagt der
Haushaltskontrolleur der Grü-
nen, Daniel Freund: »Entwe-
der er verkauft seine Unterneh-
men, verzichtet auf Subventio-
nen, oder er tritt zurück.« MP

ODED BALILTY / AP / DPA
Wahlplakat mit Netanyahu (M.)

FRANCOIS LENOIR / AFP
BabiŠ
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