Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

Ruhabi ist ein schüchterner Mann, 24
Jahre alt, mit Dreitagebart, Lederjacke und
müden Augen. Er stammt aus Aleppo, wo
er sich auf ein Ingenieursstudium vorberei-
tete. Vor vier Jahren floh er in die Türkei
und landete in Istanbul, dort schuftete er
zwölf Stunden am Tag in einer Metallfabrik.
Er sagt, er habe keine Zukunft in diesem
Land gesehen. Nach Erdoğans Ankündi-
gung, die Grenzen zu öffnen, sprang er in
einen der Busse Richtung Griechenland.
Nahe der Grenzstadt Edirne drückten ihm
türkische Polizisten ein Schlauchboot in
die Hand, mit dem er und seine Begleiter
den Evros überqueren sollten.
Ruhabi ahnte nicht, dass ihn die grie-
chischen Soldaten auf der anderen Seite
sofort in die Türkei zurückschicken wür-
den. Die Soldaten hätten Warnschüsse auf
ihn und die anderen Flüchtlinge abgefeu-
ert, sagt er, sie hätten ihn und seine Kame-
raden gezwungen, sich auf den Boden zu
werfen. Eine halbe Stunde lang hätten sie
im Regen auf dem Boden gekauert. Die
Männer hätten ihnen Handys und Doku-
mente abgenommen und sie dann auf die
Polizeiwache gebracht.
»Wir wurden in eine Zelle gesperrt, in der
bereits einhundert, zweihundert Menschen
saßen. Syrer, Afghanen, Iraker«, sagt Ruhabi.
Ein Syrer habe um Hilfe für seinen kranken
Freund gebeten. »Lass ihn sterben. Wir ha-
ben genug Gräber für euch«, hätten die Si-
cherheitskräfte geantwortet. Am Samstag-
morgen hätten Soldaten ihn und die anderen
Flüchtlinge aus der Zelle gezerrt, an die
Grenze gekarrt und in einem Boot über den
Evros in die Türkei geschafft. Ruhabi war
keine 24 Stunden auf europäischem Boden.


Nun sitzt er in Istanbul in einer Shisha-
Bar. Er ist dort, wo er vorher war. Zurück
auf Los. Er fühlt sich doppelt getäuscht,
von Erdoğan, der den Flüchtlingen ver-
sprochen hatte, der Weg nach Europa sei
frei. Und von den Europäern, die von Men-
schenrechten redeten, Flüchtlinge aber mit
Gewalt vertrieben. »Die Wahrheit ist, nie-
mand will uns haben«, sagt Ruhabi.
Dass Europa sich in der Migrationspoli-
tik so von Erdoğan vorführen lässt, liegt
nicht nur an dessen Skrupellosigkeit. Die
EU-Staaten haben es versäumt, in den Jah-
ren seit Abschluss des Flüchtlingsdeals
2016 ein funktionierendes, menschenwür-
diges Asylsystem zu schaffen. Nirgends
zeigt sich das so sehr wie auf Lesbos.
Als am Montag Flüchtlinge auf der Insel
ankommen, schlägt ihnen blanker Hass
entgegen. Ein Schlauchboot treibt an den
Pier in der Hafenstadt Thermi. Hunderte
Einheimische sind gekommen, um die An-
landung zu verhindern, sie brüllen auf das
Boot ein, sie wedeln mit den Fäusten.
»Fickt doch nicht wie Karnickel, ihr
Schlampen!«, ruft ein Mann einer schwan-
geren Frau zu. Ein zweiter stößt das Boot
mit einem Stock vom Pier. Längst hat die
Mehrheit der Einwohner von Lesbos die
Geduld mit ihrer Regierung verloren.
Seit Jahren herrscht Chaos auf den grie-
chischen Inseln. Die Flüchtlingslager sind
vielerorts keine Lager mehr, sondern wild
wuchernde Zeltstädte. Im EU-Camp Mo-
ria auf Lesbos, das für 2840 Bewohner aus-
gerichtet ist, hausen mittlerweile fast
20 000 Menschen. Im Winter dringen Käl-
te, Schnee und Regenwasser in die Zelte
ein. Brände brechen aus, weil Menschen

sich mit Feuern und Gaskochern warm hal-
ten. Banden ziehen durchs Lager. Laut
»Ärzte ohne Grenzen« versuchen regelmä-
ßig Menschen, sich das Leben zu nehmen,
auch Kinder.
Die Europäer hätten verhindern kön-
nen, dass es dazu kommt. Der Pakt mit
der Türkei gab ihnen Zeit, doch sie nutzten
sie nicht. Die Zahl der Neuankömmlinge
war stark rückläufig. Aber die EU setzte
das Abkommen nie richtig um.
Auf den Inseln wurden nicht, wie ge-
plant, schnelle Asylverfahren etabliert. Es
fehlte an Beamten und Angestellten, die
zügig Asylentscheide prüften, es fehlten
Richter. Statt wenige Wochen müssen Asyl-
suchende Monate oder Jahre auf ihren Be-
scheid warten. Gerichte verhinderten, dass
abgelehnte Asylbewerber in die Türkei zu-
rückgeschickt wurden. So verwandelten
sich die Inseln in Gefängnisse.
Die EU schien über die Zustände nicht
unglücklich zu sein, schließlich dienten sie
als Abschreckung. Seit vergangenem Som-
mer aber setzten wieder mehr Migranten
aus der Türkei auf die griechischen Inseln
über, trotz der katastrophalen Verhältnis-
se. Insgesamt erreichten voriges Jahr fast
60 000 Asylbewerber Griechenland auf
dem Seeweg, so viele wie seit 2016 nicht
mehr. Diesmal durften sie jedoch nicht in
den Norden weiterziehen, die Grenze
nach Mazedonien ist verschlossen.
Und so genügte der moderate Anstieg
der Flüchtlingszahlen, um das griechische
Asylsystem kollabieren zu lassen.
Premier Mitsotakis versuchte, das Pro-
blem mit Härte unter Kontrolle zu bekom-
men. Er schränkte die Rechte von Geflüch-
teten ein, immer häufiger berichteten Men-
schenrechtsorganisationen über illegale
Abschiebungen in die Türkei. Mitsotakis
kündigte sogar an, Barrieren in der Ägäis
zu installieren, als Bollwerk im Meer.
Die EU scherte sich wenig um die Nöte
der Griechen. Osteuropäische Staaten wie
Ungarn und Polen hatten erfolgreich ver-
hindert, dass Flüchtlinge aus Griechenland
in Europa verteilt werden, wie Brüssel es
einst versprochen hatte. Erst seit Erdoğan
die Grenzen geöffnet hat, kann auch Brüs-
sel den Ausnahmezustand in Griechenland
nicht länger ignorieren. Unterdessen bil-
den sich in Griechenland Bürgerwehren,
die das Recht in die eigene Hand nehmen.
In der griechisch-türkischen Grenzstadt
Feres drängten sich am Dienstagabend
700 Männer vor den Türen des Rathauses.
Viele tragen Uniformen, Frauen sind kaum
zu sehen. Die Männer kommen aus den
Dörfern und Städten auf der griechischen
Seite des Evros. Sie wollen beraten, wie
sie Migranten stellen können, die es über
den Grenzfluss schaffen.
In Gruppen von zehn Leuten wollen sie
patrouillieren, in Acht-Stunden-Schichten.
»Erst kommt das Militär, dann die Polizei,

79

Ausland

Auf der Flucht Registrierte Migranten in Griechenland


GRIECHENLAND

Kapazität:
2840

in den Hotspots:
19 507

5625

1014

7704

648
2332
860

3240
816

Vial, Chios

Vathy, Samos

Moria, Lesbos

Pyli, Kos

Lepida, Leros

TÜRKEI

Stand: 2. März

Stand: 4. März

auf dem Seeweg^6673

auf dem Landweg 1759

Flüchtlinge, die 2020
aus der Türkei nach
Griechenland kamen

Flüchtlinge auf den Inseln insgesamt:42 518 Quellen: Ministerium für Zivilschutz, UNHCR

Free download pdf