DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020 81
der Weißhelme an der syrisch-türkischen
Grenze, um ihnen die Solidarität der USA
zu versichern.
Diese zufällige Gleichzeitigkeit bringt
die Lage in Idlib auf den Punkt: Menschen
werden bombardiert, und der Westen hat
nur einen Händedruck anzubieten. Dabei
liegt hier, in Idlib, der Schlüssel zu der
Flüchtlingskrise, die sich in diesen Tagen
an der Grenze zu Griechenland abspielt.
Am Donnerstag einigten sich die Präsi-
denten Russlands und der Türkei, Wladi-
mir Putin und Recep Tayyip Erdoğan, in
Moskau auf einen Waffenstillstand. Es ist
nicht der erste, und er löst auch keine der
Ursachen für den Krieg und die Fluchtbe-
wegung im Norden Syriens. Die Einigung
verschafft den Menschen in Idlib aber im-
merhin eine Atempause.
Die Region an der türkischen Grenze
ist der letzte Teil Syriens, der noch unter
Kontrolle der Rebellen gegen Präsident
Baschar al-Assad ist. Die dort dominieren-
UMIT BEKTAS / REUTERS
Syrisches Mädchen in Vertriebenenlager der Provinz Idlib: »Horrorgeschichte des 21. Jahrhunderts«
A
ls ein russischer Jet am Montagnach-
mittag ein Bauernhaus in dem klei-
nen Ort Binnisch in Nordsyrien
bombardiert hatte, machte sich ein Kran-
kenwagen auf den Weg, um Verschüttete
zu bergen. Kaum angekommen, hörten
Fahrer und Sanitäter das Geräusch einer
Drohne über sich und rannten um ihr Le-
ben, bevor Augenblicke später die ersten
Geschosse das Fahrzeug trafen.
»Double Tap« heißt diese seit Jahren
bekannte Taktik syrischer und russischer
Piloten über Syrien: ein Gebäude, einen
Markt, ein Krankenhaus, einen Flücht-
lingstreck zu bombardieren, warten, bis
erste Nothelfer eintreffen, um die Opfer
zu bergen, und dann noch mal exakt die-
selbe Stelle beschießen.
Die vier Mitglieder des Zivilschutzes in
Binnisch, international als Weißhelme be-
kannt geworden, überlebten knapp. Am
nächsten Tag traf die amerikanische Uno-
Botschafterin Kelly Craft eine Delegation
den Rebellen sind Islamisten, sie werden
von der Türkei unterstützt. Es leben aber
auch rund drei Millionen Zivilisten in Idlib.
Seit das Assad-Regime in Damaskus mit
russischer Unterstützung die Schlacht um
Idlib eröffnet hat, mussten bereits knapp
eine Million Menschen fliehen – in Rich-
tung türkische Grenze.
Erdoğans Regierung hat seit Beginn
des massiven Vormarschs der syrisch-rus -
sischen Allianz Anfang Dezember immer
drastischer versucht, Idlib vor dem Über-
ranntwerden zu bewahren. Das war nicht
selbstlos: Bis zu drei Millionen weitere sy-
rische Flüchtlinge zu den etwa dreieinhalb
Millionen, die jetzt schon in der Türkei le-
ben, könnte das Land nicht verkraften.
Das war der Auslöser für einen konzer-
tierten Angriff der türkischen Armee, mit
der sie bis Sonntag Assads Offensive zum
Stoppen gebracht hatte. Mit der Einigung
ist die Gefahr aus Erdoğans Sicht kurzfris-
tig gebannt. Doch die Offensive könnte je-
derzeit wieder losgehen. Dann werden die
verzweifelten Massen wohl trotz Mauer
und mutmaßlichem Schießbefehl versu-
chen, in die Türkei zu fliehen.
Nirgends wird in der Vereinbarung der
beiden Präsidenten erwähnt, was aus den
bereits Vertriebenen wird. Oder was aus
ihren Wohngebieten wird, die Assads Ar-
mee erobert hat. Das Rebellengebiet ist
seit dem letzten Waffenstillstand erheblich
Putins Kalkül
SyrienErst seit dem Drama an der griechisch-türkischen Grenze
interessieren sich die Europäer wieder für den Krieg
in Idlib. Dabei liegt hier der Schlüssel zur Flüchtlingskrise.