Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

82 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020


Ausland

Karten-
ausschnitt

Assads Armee und Verbündeten
Anti-Assad-Gruppen, darunter Dschihadisten
türkischem Militär
Kurden

Gebiete unter Kontrolle von

Stand: 5. März
Quelle: syria.liveuamap.com

SYRIEN

TÜRKEI

Aleppo

Idlib

Binnisch

Sarakib

aktuelle
Bomben-
angriffe

vereinbarter
Korridor

30 kmm

OMAR HAJ KADOUR / AFP
Angriff des Assad-Regimes in der Provinz Idlib: Europa hielt sich raus

etwa 300 Panzer nach Idlib verlegen. Er-
doğan appellierte an Putin, drohte Assad.
Doch Stadt um Stadt, Kilometer um Kilo-
meter trieben die Angreifer immer mehr
Menschen bei eisigen Temperaturen in die
Flucht gen türkische Grenze.
Donnerstag vergangener Woche dann es-
kalierte die Situation: Am Morgen entkam
ein russischer Jet nur knapp einer Boden-
Luft-Rakete, für die Russlands Militärs die
Türken verantwortlich machten. Am Spät-
nachmittag trafen mehrere Angriffswellen
ein türkisches Infanteriebataillon nahe dem
Ort Baliun im Süden Idlibs, töteten nach of-
fiziellen Angaben aus Ankara 34 Soldaten.
Wer den Angriff geflogen hatte, ob sy-
rische oder russische Jets, ist nicht geklärt
worden. Die Türkei machte umgehend As-
sad verantwortlich, wohl aus dem Kalkül,
sich nicht mit Moskau anlegen zu wollen.
Oder zu können. Und ließ das türkische
Militär zur Gegenoffensive antreten.
Was nun folgte, wirft ein grelles Licht auf
die Art und Weise, wie Moskau Politik
macht. Binnen 72 Stunden äscherten türki-
sche Drohnen, Jets und Artillerie erhebli-
che Teile von Assads Militärarsenal in Nord-
syrien ein, mehr als hundert Panzer, Dut-
zende Geschütze, bis zu acht Hubschrauber,
drei Flugzeuge, zwei moderne Flugabwehr-
systeme aus russischer Herstellung. Russ-
land ließ es geschehen – um ab Montag
seinerseits die Orte zu bombardieren, die
zuvor Assads Jets angegriffen hatten.
Ankara griff weiterhin Truppen des
Regimes an, aber achtete peinlich genau
darauf, russischen Soldaten nicht zu nahe
zu kommen. Die strategisch wichtige Ort-
schaft Sarakib, am Kreuzungspunkt der
beiden großen Fernstraßen M4 und M5
gelegen, hatte zuvor mehrfach den Besit-
zer gewechselt. Sobald Anfang der Woche
russische Militärpolizei dort auftauchte,
unterblieben türkische Angriffe.
Es ist ein zynisches Spiel: Moskau ist
mit Assad verbündet, will sich aber auch
mit Erdoğan gut stellen, lässt mal den ei-
nen, mal den anderen zum Zug kommen
und möchte sich die Rolle des Schiedsrich-
ters bewahren, von dem alle abhängig sind.
Anstatt seine Macht zu nutzen, den
angedrohten Vernichtungszug gegen die
letzte Rückzugsgegend der Opposition
zu stoppen, macht Russland da weiter,
wo Assad Männer und Material ausgehen.
Tiger-Kommandeur Suhail al-Hassan ist
Moskaus Mann im syrischen Militär. Seine
Einheiten sind von Russlands Armee aus-
gerüstet und trainiert, er selbst ist auf der
Luftwaffenbasis Hmeimim mit einem rus-
sischen Orden ausgezeichnet worden.
Am Montag warf die Uno-Unter -
suchungskommission zu Syrien erstmals
Russland explizit vor, Kriegsverbrechen
begangen zu haben. Basierend auf Mit-
schnitten des Piloten-Funkverkehrs, Vi-
deos und Augenzeugenberichten folgerten

geschrumpft. Mittendrin soll nun entlang
der wichtigen Schnellstraße M4 eine zwölf
Kilometer breite »Sicherheitszone« einge-
richtet werden, türkische und russische Sol-
daten sollen gemeinsam patrouillieren.
Trotz militärischer Erfolge der Türkei ge-
gen Assad ist Russland keine Konzessio-
nen eingegangen – es hat nur einer Ein-
stellung der Angriffe zugestimmt.
Kaum ein Außenpolitiker in Europa hat-
te in den vergangenen Tagen eine Idee,
wie die Bomben und die Menge der Flie-
henden zu stoppen wären. Es hängt allein
an der türkischen Armee und an Erdoğan,
die drei Millionen Menschen auf immer
kleiner werdendem Raum vor Tod und
Vertreibung zu bewahren.
Ausgerechnet Erdoğan, der sich mit
seiner Kriegsbesessenheit gegen Syriens
Kurden und dem Schleifen der türkischen
Demokratie als politischer Partner diskre-
ditiert hat. Ausgerechnet Erdoğan, der ver-
gangene Woche das Abkommen mit der
EU brach, in dem er sich verpflichtet hatte,
Flüchtlinge von der Weiterreise abzuhalten.
Das Drama an der griechisch-türkischen
Grenze ist der eindrücklichste Beleg dafür,
dass der Westen auch in Zukunft nicht igno-
rieren kann, was sich in Idlib abspielt.
Assads prominentester Kommandeur
hat mehrfach angekündigt, was den in Idlib
Verbliebenen bevorstehe. Er werde Befehl
geben, »auf dem Schlachtfeld die Kinder
vor den Erwachsenen, die Frauen vor den
Männern umzubringen«, erklärte Suhail al-
Hassan, Kommandeur der »Tiger-Kräfte«,
vergangenen August im Telegram-Kanal
der Armee: »Wir werden es keinem Terro-
risten mehr gestatten, unter uns zu leben.«
Schon im September 2018 hatte es für
eine Weile so ausgesehen, als hätten sich
die beiden Machttaktiker Erdoğan und
Wladimir Putin auf einen Waffenstill-


standskompromiss geeinigt, mit dem auch
Europa und vor allem die Menschen in Id-
lib hätten leben können: Rund um das Ge-
biet sollten russisch-türkische Patrouillen
kontrollieren, Assads und Russlands An-
griffe würden eingestellt. Und die Türkei
werde im Gegenzug die Qaida-nahe Miliz
HTS entwaffnen, die als Nusra-Front be-
kannt geworden war.
Was dann geschah, erlaubt womöglich
einen Ausblick auf das Schicksal des neuen
Waffenstillstands: Weder hielten sich Putin
und Assad an die Einstellung der Angriffe,
noch entwaffnete Erdoğans Militärapparat
die Radikalen. Und Assad: hatte stets ge-
schworen, Syrien bis zum letzten Zenti -
meter zurückerobern zu wollen, was nun
zunehmend die russische Luftwaffe über-
nahm. Europa hielt sich wie immer raus.
Schon ab Februar ließ das türkische Mi-
litär bis zu 7000 zusätzliche Soldaten und
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