Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
Schon im Juni hatte Girkin Russland wis-
sen lassen, dass er schwere Waffen brauche.
So sagt er es in zwei abgehörten Telefona-
ten mit Sergej Aksjonow, dem vom Kreml
frisch ernannten Gouverneur der annek-
tierten Krim, und dessen Assistenten. Man
brauche Panzer, panzerbrechende Waffen,
Flugabwehrsysteme – »schultergestützte
Systeme allein reichen nicht«. Dies bitte
alles mit ausgebildeten Mannschaften. Die
Separatisten haben keine Flugzeuge, die
Lufthoheit hat das ukrainische Militär.
Und tatsächlich ist militärische Hilfe für
die Rebellen offenbar Chefsache im Kreml.
Das geht aus einem Telefonat hervor, das
die Ermittler voriges Jahr veröffentlichten.
Dort ist zum einen die Stimme von Ale-
xander Borodai zu hören, dem »Premier-
minister« der »Volksrepublik Donezk«.
Die Stimme am anderen Ende gehört of-
fenbar Wladislaw Surkow, Putins Ukraine -
berater im Kreml. Der Anrufer erzählt Bo-
rodai, er habe »mit den obersten Genossen
geredet, die für diese militärische Ge-
schichte zuständig sind – höher geht’s gar
nicht«. Eine »Handlung, die die Wende
bringt«, sei in Planung. Mit anderen Wor-
ten: Moskau wird euch helfen.
Das Telefonat ist ein wichtiger Baustein
im Verfahren. Es belastet unmittelbar die
politische Führung im Kreml. Putins rechte
Hand im Ukrainekonflikt ist offenbar per-
sönlich mit dem militärischen Eingreifen
im Nachbarland befasst.
Im Juli wird in Krasnodon, auf ukraini-
schem Territorium, ein Koordinations -
zentrum eingerichtet, geleitet wird es von
einem hochrangigen russischen Offizier

sein, an dem Jack war, bevor er ins Flug-
zeug stieg. Es wird sehr wehtun.
Aber sie wollen wissen, wer verantwort-
lich ist. Die Täter und deren Hintermänner
müssten zur Rechenschaft gezogen werden,
sagt Jon O’Brien, »in der gesamten Befehls-
kette, und zwar so weit hinauf wie möglich«.

Die Verdächtigen
Eigentlich müssten am Montag die vier
Angeklagten im Gerichtssaal nahe dem
Flughafen von Schiphol sitzen. Alle vier
kämpften im Juli 2014 für die Armee der
»Donezker Volksrepublik«. Aber die An-
klagebank bleibt leer, keiner wird sich dem
Gericht stellen.
Der Ranghöchste der vier heißt Igor Gir-
kin, besser bekannt unter dem Pseudonym
»Strelkow«. Girkin ist so etwas wie eine
lebende Legende, er war der bekannteste
Warlord der prorussischen Miliz und »Ver-
teidigungsminister« der selbst ernannten
Volksrepublik. Die übrigen drei Angeklag-
ten dienten unter ihm.
Girkin ist auch der einzige Angeklagte,
mit dem man sich auf einen Kaffee in Mos-
kau treffen kann, die anderen waren nicht
erreichbar oder nicht bereit, sich zu äußern.
Er trägt einen schwarzgrauen Schnurrbart
und wirkt melancholisch. Seit er das Kriegs-
gebiet verlassen hat, im Spätsommer 2014,
lebt er in seiner Heimatstadt Moskau. Er
hat eine junge Kampf gefährtin von damals
geheiratet, sie postet nun kitschige Selfies
mit ihm, man sieht Girkin vor dem Weih-
nachtsbaum, mit Tochter und Igel, kniend
vor der Braut.
Girkin arbeitet jetzt für eine Privatfirma.
Ansonsten lebt er von seiner Rente als ehe-
maliger FSB-Offizier und führt einen Blog,
in dem er Wladimir Putin als »Größtes
Geo-Galaktisches Nano-Genie« verspot-
tet. Girkin glaubt, Putin habe eine Chance
vertan – anstatt die Ukraine als Ganzes
zurückzuholen, habe er gekniffen.
»Die Miliz«, sagt er, und meint damit
die ihm unterstehenden Separatisten, »hat
die Boeing nicht abgeschossen.« Das ist
seine einzige Antwort auf die Anschuldi-
gungen aus den Niederlanden. Er sagt
nicht, wer die Boeing abgeschossen hat.
Er sagt nur: Ich war es nicht. Von den drei
möglichen Tätergruppen – prorussische
Separatisten, ukrainische Truppen, russi-
sche Armee – schließt er nur die erste aus,
nicht die letzte. Man kann darin eine
implizite Bestätigung der Anklage sehen.
Auch sie geht ja davon aus, dass russische
Soldaten die Boeing abgeschossen und Gir-
kins Separatisten nur mitgeholfen haben.
Mehr ist von Girkin nicht zu erfahren.
Wo immer es um die direkte Zusammen-
arbeit von »Rebellen« und russischem
Staat geht, blockt er.
Girkin wirkt wie der hybride Krieger
schlechthin. Er habe 16 Jahre lang im russi-


schen Inlandsgeheimdienst FSB gedient,
sagt er, beim Verfassungsschutz. Nachdem
er entlassen worden war, half er bei der rus-
sischen Annexion der Krim mit. Und noch
etwas später, im April 2014, tauchte er mit
rund 50 Bewaffneten im Donbass auf und
besetzte die Kleinstadt Slowjansk. Er be-
hauptet, das sei nicht im Auftrag des FSB
geschehen. Aber er sei davon ausgegangen,
dass er im Sinne des Kreml handle. »Putin
hatte den Rubikon schon überschritten, mit
der Krim. Ich dachte, er versteht das.«
Wenn Girkin die Wahrheit erzählt, dann
bestenfalls die halbe. Die andere ist: Mos-
kau schürte erst den Konflikt im Nachbar-
land und griff dann unmittelbar ein. Girkins
Truppen kämpften im Verbund mit der
mächtigsten Armee Europas. Was ändert
es, wenn sie nicht selbst auf den Auslöser
der Buk drückten, sondern die Waffe nur
an ihren Ort lotsten? Wer trägt die Schuld
am Tod von Zivilisten in einem Krieg, in
dem Verantwortung bewusst verschleiert
wird?

Die Vorbereitung
Mit seinem Handstreich in Slowjansk im
Frühjahr 2014 hat Girkin, wie er es einmal
formuliert hat, »das Pendel des Krieges in
Bewegung gesetzt«. Bis dahin hatte es im
Donbass Proteste gegen Kiew gegeben,
aber keine Kämpfe. Im Sommer schwingt
das Pendel zurück. Die ukrainische Armee
beginnt eine Offensive, Girkin muss
Slowjansk räumen. Er zieht sich mit seinen
Leuten nach Donezk zurück. Es ist klar:
Moskau muss militärisch stärker helfen.

ZURAB / ITAR-TASS / ACTION PRESS
Trümmerteile am Absturzort am 17. Juli 2014
»Das Pendel des Krieges in Bewegung gesetzt«

88 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020

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