Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1

IRGENDWAS IST JA IMMER


Über Franz Josef Wagner, den Autor und Kolum-
nisten, der täglich via Bild-Zeitung seine Post ver-
schickt, heißt es bei den Gutmeinenden, er schwanke
zwischen Genie und Wahnsinn; zu Letzterem aber
deutlich entschiedener hin. Diejenigen, die es nicht
ganz so gut mit ihm meinen, wie zum Beispiel die
taz, beschreiben ihn als »cholerisch, reaktionär, hys-
terisch, zynisch, chaotisch, mithin unerträglich«. Ja,
mein Gott, der Mann ist Kolumnist! Wer will
Kolumnen lesen, die ein ausgeglichener, liberaler,
entspannter, zahmer, ordentlicher, mithin biederer
Aufschreiber verfasst? Als Schoßhund schreibt man

nichts Bissiges. Wer wüsste das besser als der genia-
lisch-irre Franz Josef?
In seiner jüngsten Post (»Betrifft: Geisterspiele«)
beklagt Wagner den drohenden Tod des Fußballs.
Zuschauer kämpften mit ihren Mannschaften, schreibt
er: »Sie schwenken Fahnen, blasen in Trompeten. Es
sind Zuschauer, die weinen. (...) Ein Fußballspiel
ohne Zuschauer ist kein Fußballspiel mehr. Das ist
wie Mühle. Mensch ärgere Dich nicht. Ohne Zuschauer
wird unser Fußball sterben. Gott schütze die Fans.«
Nun wissen wir nicht, ob Wagner diese Kolumne,
wie wohl manch andere zuvor (so erzählt man sich),

im Zustand der Bewusstseinserweiterung in der Paris
Bar in Berlin-Charlottenburg verfasst hat. Ist auch
egal. Wir möchten ihn einfach mal in den Arm neh-
men und trösten: Der Fußball wird nicht sterben.
Geisterspiele sind nicht sein Tod, sondern die Chance,
ihn ganz neu zu erfahren.
Wenn die Mannschaften einlaufen, ertönt nicht
mehr das martialische Intro von Seven Nation Army
der White Stripes, sondern Sound of Silence von
Simon & Garfunkel. Und bei Flutlichtspielen Stille
Nacht. Vor den Stadien pissen nicht ganze Heerscha-
ren von Fans in umliegende Büsche, nur weil sie es

LIEBE


Sound of Irrsinn: Warum Geisterspiele so toll sind wie Kolumnen von Franz Josef Wagner VON PETER DAUSEND


Peter Dausend
ist Politischer
Korrespondent
im Hauptstadt-
büro der ZEIT

Das ging aber daneben! Unser
Kolumnist Ulf Poschardt über
einen Twitter-Tiefpunkt der Woche

Twitter ist ein Erregungsschaumbad, in dem
jeder Schaumschläger seinen Resonanzraum
findet. Aus der Kritik an den Mächtigen ist eine
Art Pornografie der Fehltritte geworden. Der
Politiker wird in seiner vermeintlichen Frevel-
haftigkeit entblößt und ausgestellt. Friedrich
Merz zum Beispiel. Der Anwärter auf den
CDU-Vorsitz hat sich die Obsession der linken
Twitter-Gemeinde hart erarbeitet und kann
sicher sein, dass ihm nichts verziehen wird.
Jüngster Beleg: der Auftritt von Prosecco-Fla-
schen bei einem heute-journal-Interview.
Merz sagte in dem Gespräch allerlei Be-
merkenswertes: dass unbegleitete und kran -
ke Kinder aufgenommen werden sollten
und den anderen Menschen an der grie-
chisch-türkischen Grenze geholfen werden
müsse. Das aber interessiert den moral-
pornografischen Blick nicht: Dessen Fetisch
ist der Frevel, und der materialisierte sich in
ein paar Holzkisten mit Prosecco-Flaschen
im Bildhintergrund. Die Erregung darüber
kannte kaum Grenzen. Wie immer außer
sich vor Anstand und Mitmenschlichkeits-
verwaltung, befand ein Politiker der Grü-
nen: »Diese Flaschen schreien: Sollen sie in
Lesbos doch Kuchen essen. – Diese neoli-
bertäre Kälte und Arroganz eines Friedrich
Merz kotzt mich an.«
Auch der sich @plaetzchen nennende
Senior-Product-Manager eines nicht eben
antikapitalistischen Unternehmens wie eBay
sah seine Chance gekommen, Bonuspunkte
bei den aufrechten Kämpfern für das Wahre
und Gute zu sammeln. Für die Wahrheit
interessierte er sich ebenso wenig wie Dut-
zende andere Erregungsgierige. Die Auf-
zeichnung des Interviews hatte bei einer
Benefizveranstaltung des Kinderhilfswerks
in einem Vereinsheim in Berlin stattgefun-
den. Und dort hatten sie ein paar Fläschchen
auf dem Kaminsims stehen. Das kommuni-
zierte Merz’ Sprecher danach. Man kann
ihm aber den Vorwurf nicht ersparen, dass
jeder Profi eine solche Kulisse vermieden
hätte. Das ist das kleine PR-Einmaleins.
Leuten wie Merz, dem wohlhabenden,
angenehm wirtschaftsliberalen Merz, wird
weniger schnell vergeben als den Erschie-
ßungsfantasten der Linkspartei. All die An-
tifaschisten und Moraldarsteller aber, die
mit Prosecco westliche Dekadenz und »neo-
libertären Finanzkapitalismus, der über-
haupt dieses arktiskalte politische Klima
schuf«, identifizieren, spielen das Spiel der
AfD: Es geht darum, die Würde der politi-
schen Repräsentanten abseits des eigenen
Randes zu zerstören. An ihrer Seite die
wohlhabenden, gebückten Trittbrettfahrer,
die sich wider besseres Wissen in die Schar
der Ankläger einreihen. Da waren auch Leute
dabei, die sonst einen Prosecco ignorieren,
weil eine Flasche Moët im Kühlschrank liegt.
Na denn Prost, ihr Moralisten!

VERTWITTERT

Finger weg von der Bombe!


Eigene Atomwaffen für die Europäische Union? Bitte nicht. Eine Replik auf Tom Enders VON MARKUS KAIM


Jetzt noch böser? Nach 24 Jahren Sendepause startet die britische Puppensatire »Spitting Image« mit


neuen Latexgesichtern. Gespottet wird globaler als früher, über Wladimir Putin, Donald Trump bis hin


zu Greta Thunberg. Das könne Ärger geben, aber der werde sie nicht aufhalten, versprechen die Macher.


Foto: Mark Harrison/Reuters; kl. Fotos: Urban Zintel für DZ; Martin U.K. Lengemann/WELT (r.)

@plaetzchen

Friedrich Merz steht im @heutejournal und
redet darüber, das man Flüchtlinge nicht
aufnehmen könnte und im Hintergrund
steht Schaumwein für mehrere 100 €

getwittert am 8. März 2020 um 22.07 Uhr

60
ZEILEN
...

I


WIDERSPRUCH

Ulf Poschardt ist
Chefredakteur
der Welt- Gruppe.
Sein neues Buch
»Mündig« (Klett-
Cotta) handelt
vom Liberalismus.
An dieser Stelle
schreibt er im
Wechsel mit
Anja Reschke, der
Moderatorin der
ARD- Sendung
»Panorama«

Online mitdiskutieren: Mehr Streit finden Sie unter zeit.de/streit

können, und in den Stadien rollen sie keine Faden-
kreuz-Banner aus, nur weil sie niemand daran hindert.
Kein menschlicher Vollpfosten gibt Affenlaute von
sich, sobald ein Mensch, der weniger vollpfostig aus-
sieht als er selbst, an den Ball kommt. Und wenn sich
Franz Josef Wagner dann im Stadion das Spiel an-
schaut, weil einen Franz Josef Wagner nichts und nie-
mand aufhalten kann, darf er, so oft er will, »dumme
Kuh« brüllen. Es ist ja keine Eva Herman da, die ihn
daraufhin erfolgreich auf 10.000 Euro Schmerzensgeld
verklagen kann. Gott schütze die Geisterspiele. Und
Franz Josef Wagner.

n der vergangenen Woche hat Tom Enders in der
ZEIT für den Aufbau einer eigenständigen europäi-
schen nuklearen Abschreckung plädiert. Ich möchte
mit vier Argumenten entschieden widersprechen.
Erstens gibt es für die Behauptung, Europa könne
nicht mehr auf denselben nuklearen Beistandswillen
der Vereinigten Staaten zählen wie noch vor einigen
Jahrzehnten, keinen Beleg. Donald Trump kritisiert
die europäischen Nato-Staaten zwar immer wieder
hart und fordert sie zu höheren Beitragszahlungen
auf – aber gleichzeitig hat die US-Regierung die Bei-
standsverpflichtung des Nato-Vertrages nicht nur in
Worten bekräftigt, sondern auch mit Taten. Die US-
Truppen in Europa wurden seit 2014 von 67.000 auf
74.000 Soldaten verstärkt und ihr Engagement – be-
sonders für die osteuropäischen Nato-Mitglieder –
immer wieder mit Großmanövern bekräftigt. Und
was die atomare Abschreckung betrifft, dringt Wa-
shington bei europäischen Regierungen gerade auf
eine Modernisierung der nuklearen Teilhabe. Warum
sollte Trump das tun, wenn ihm nicht an ihr läge?
Die Mär von der militärischen Abwendung der
USA von Europa wird auch in ihrer beständigen
Wiederholung nicht wahrer, sondern birgt vielmehr
die Gefahr, jene nationalistischen Kräfte in Washing-
ton zu ermutigen, die genau diese sicherheitspolitische
Abkopplung herbeisehnen.
Zweitens suggeriert Tom Enders, eine deutsche
Teilhabe an französischen Nuklearwaffen läge im Inte-

resse aller EU-Länder. Genau das Gegenteil ist der
Fall. Gerade die Staaten Mittelosteuropas, die nicht
Teil der nuklearen Teilhabe sind, beäugen die franzö-
sischen Gedankenspiele mit größter Skepsis. Die
USA gelten dort weiterhin als einzig glaubwürdiger
Garant euro-atlantischer Sicherheit, die sicherheits-
politischen Ambitionen der EU hingegen als Versuch,
die transatlantischen Beziehungen zu schwächen.
Eine deutsch-französische Nuklearkooperation wür-
de Europa deshalb eher spalten als schützen.
Drittens ist das Postulat, eine glaubwürdige Euro-
päische Verteidigungsunion sei ohne nukleare Kom-
ponente schlechterdings nicht vorstellbar, vom fal-
schen Ende her gedacht. Es wiederholt den Grund-
fehler der vergangenen Jahre – nämlich darauf zu
hoffen, dass sich die Bereitschaft der Europäer für
robustes Krisenmanagement schon entwickeln werde,
wenn erst genügend militärische Fähigkeiten aufge-
baut seien. Das ist eine Illusion. Eine gemeinsame
europäische Sicherheitspolitik muss »von oben«
gedacht werden, also von den Regierungen. Lang-
fristig würde dazugehören, sich nicht länger vor der
Vergemeinschaftung der nationalen Verteidigungs-
politiken zu drücken, also sicherheitspolitische Kom-
petenzen komplett an die EU abzugeben. Das wäre
einmal eine deutsch-französische Initiative wert.
Viertens erstaunt, wie sorglos der Autor die Idee
aufwirft, Deutschland könne auch die Anschaffung
eigener Nuklearwaffen erwägen. Deutschland hat

mehrfach den Verzicht auf Atomwaffen bekräftigt:
Mit dem Nichtverbreitungsvertrag (NVV) 1970, um
die nukleare Proliferation einzuhegen, und zuletzt
im Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990, um der Sorge der
internationalen Gemeinschaft vor einem unberechen-
baren Deutschland Rechnung zu tragen. Warum
sollte man diese Bekenntnisse, die nach wie vor zum
Kernbestand deutscher Außenpolitik gehören, ohne
Not zur Disposition stellen?
Es ist eine bittere Ironie, dass der Artikel an je-
nem Tag erschien, an dem sich das Inkrafttreten des
NVV zum fünfzigsten Mal jährte. Wer weniger
Nuklearwaffen auf der Welt will, muss den NVV am
Leben halten, stärken und nicht über deutsche
Atombomben spekulieren. Ohne den NVV gäbe es
keine Grundlage mehr für die deutschen und inter-
nationalen Bemühungen, Iran und andere Aspiran-
ten von Nuklearwaffen abzuhalten.
Es ist richtig, über Nuklearwaffen zu reden, aber
nicht, indem der letzte sicherheitspolitische Schritt
vor dem ersten gemacht wird. Solange Europa nicht
einmal in der Lage ist, die eigene Nachbarschaft zu
befrieden, ist die Forderung nach dem Aufbau einer
eigenständigen europäischen nuklearen Abschreckung
gelinde gesagt voreilig.

Markus Kaim ist Politikwissenschaftler und derzeit
Helmut Schmidt Fellow der ZEIT-Stiftung und des
German Marshall Fund in Washington

14 STREIT 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12

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