Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1

D


ie Bestürzung über den Sy­
rienkrieg hat ein Ventil ge­
funden in einer fasslichen
Forderung: Deutschland soll
Kinder aus den Lagern auf
den griechischen Inseln ret­
ten – wenigstens einige.
So richtig das sein mag, so unverhältnismäßig
bleibt es doch angesichts der Lage in Idlib, wo sich
eine der größten humanitären Katastrophen unse­
rer Zeit vollzieht. Und wo die eigentlichen Ur­
sachen der derzeitigen Flüchtlingskrise liegen. Vier
Millionen Menschen sitzen in der Re gion in der
Falle. Wie wäre ihnen am besten geholfen?
Für den Moment ist es ruhig in Idlib. Nach der
Eskalation der letzten Wochen haben sich Russ­
land und die Türkei vergangenen Donnerstag in
Moskau auf eine Waffenruhe geeinigt. Sogar von
gemeinsamen Militärpatrouillen auf einer strate­
gisch wichtigen Hauptstraße ist die Rede. Doch
das Abkommen wird den Menschen in Idlib wohl
kaum mehr als eine kurze Verschnaufpause ver­
schaffen. Die nächste Runde des Krieges kommt
bestimmt: Trotz der Abmachung von Moskau er­
oberten syrische Truppen in den vergangenen Ta­
gen einzelne Dörfer zurück. Die türkische Armee
bringt bereits wieder Panzer und Soldaten an der
Grenze in Stellung. Dazwischen: die Zivilisten.
Was mit ihnen werden soll – mehr als eine Mil­
lion wurden seit Dezember vertrieben –, wird in
der Vereinbarung von Moskau nicht erwähnt. Den
offiziellen Text gab es nicht einmal auf Arabisch.
Was bereits die Wette offenbart, auf der die Sieger­
mächte ihre Kriegsführung aufgebaut haben: dass
sich um die Syrer jemand anders kümmern wird.
Für Journalisten ist Idlib derzeit kaum zugäng­
lich. Man kann sich ein Bild der Lage machen,
wenn man mit Mitarbeitern von Hilfsorganisatio­
nen spricht oder mit Menschen, die dort einge­
schlossen sind. Mohammed Barakat, 34, ist einer
der Vertriebenen, die an die türkische Grenze ge­
flohen sind. Er schickt Fotos über Whats App: In
der hügeligen Landschaft stehen Zelte, so weit das
Auge reicht, bis dicht an die graue Grenzmauer.
»Ich weiß nicht, wie sie überleben sollen«, sagt
Barakat über diejenigen, die in den Zelten aus­
harren. Er schätze sich glücklich, sagt er, habe er
doch ein festes Dach über dem Kopf.
Barakat lebte mit Frau und zwei Kindern bis
zuletzt in seinem Heimatort westlich von Aleppo.
Doch er sorgte vor: »Wir mussten ja befürchten,
dass das Re gime irgendwann angreifen würde«,
sagt er, also kaufte die Familie schon vor drei Jah­
ren eine Wohnung in Haram, einem der letzten
Dörfer vor der türkischen Grenze. »Wir dachten,
hier würden sie nicht bombardieren.« Jetzt drän­
gen sie sich in der Wohnung mit 20 Verwandten.
Die Katastrophe von Idlib war vorhersehbar.
Der Syrienkrieg ist ein Vertreibungskrieg. Syriens


Machthaber Baschar al­Assad will das Land zu­
rückerobern – nicht unbedingt das Volk. Seine
Armee zerstört mithilfe von Russland und dem
Iran ganze Städte und schlägt Bewohner in die
Flucht. Wer das Land nicht verlassen konnte oder
wollte, zog in die Rebellengebiete. Idlib, das letzte
dieser Gebiete, ist zur Sackgasse geworden.
Der Nachbar Türkei hatte im Syrienkrieg früh
Partei für die Rebellen ergriffen und bot zunächst
jenen Schutz, die Assad vertrieb: Mehr als drei Mil­
lionen Flüchtlinge nahm die Türkei auf. Nachdem
die Stimmung sich gegen die Flüchtlinge wendete,
riegelte die Türkei die Grenze ab. Auch weil man nun
Geister fürchtete, die man selbst gerufen hatte: Idlibs
Rebellen werden heute von Dschihadisten dominiert.
Gegen Assad hatte die Türkei sie den säkularen Re­
bellen vorgezogen. Ankara kann es sich auch darum
nicht leisten, dass dessen Kräfte Idlib überrennen.
Die Türkei schlug Ende Februar erstmals mit eigenen
Truppen zurück.
Mohammed Barakat in Idlib sagt: »Ich habe
alles dafür getan, kein Flüchtling zu werden.« Er
war begeistert von der Idee der Revolution, der

demokratischen Gesellschaft. In seiner Heimat­
stadt leitete er ein Jugendzentrum der oppositio­
nellen Organisation Kesh Malek (»Schachmatt«).
Sie wollten den Diktator stürzen und wurden da­
für von westlichen Regierungen unterstützt. Auch
Deutschland hilft mit Entwicklungsgeldern wei­
terhin ähnlichen Organisationen.
Er habe, so Barakat, darauf gesetzt, dass Assads
Gegner die Rückeroberung Idlibs nicht zulassen
würden. Allen voran die Türkei. »Kommt das Re gime
zurück, dann bringen sie mich um.« Auch Europa
hat sich mit Blick auf Idlib mit einer einfachen For­
mel beruhigt: Weder die Türkei noch Russland
könnten ein Interesse daran haben, die letzte
Rebellenhochburg militärisch aufzulösen. »Statt eine
Strategie zu entwickeln und Außenpolitik zu machen,
hat Europa Idlib behandelt wie ein Grenzsicherungs­
problem«, sagt Tobias Schneider, Syrienexperte am
Global Public Policy In sti tute in Berlin.
Unter dem Eindruck der Bomben der vergange­
nen Wochen war in Brüssel und Berlin wieder von
einer Schutzzone die Rede (siehe Text unten). Die
Idee wurde von der politischen Realität eingeholt:

Man fürchtet den Konflikt mit Russland, und ohne
Russlands Einverständnis geht in Syrien nichts mehr.
Bleibt die humanitäre Hilfe für die Notleidenden.
In diesen Wochen kommt sie über Feldwege.
Mehr als 900 Lastwagen mit Hilfsgütern – Zelten,
Lebensmitteln, Medikamenten – wurden allein im
Februar durch die zwei dafür freigegebenen Grenz­
übergänge von der Türkei aus nach Idlib gefahren.
Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen leisten vor
Ort Hilfe. Koordiniert wird der Einsatz durch die
Vereinten Nationen. Es ist ein gigantischer Kraftakt:
Mehr als eine Mil lion Menschen sind zu versorgen.
Für die kommenden sechs Monate werden Kosten
in Höhe von 500 Millionen US­Dollar veranschlagt.
Auch das ist der Syrienkonflikt: hier die routinier­
te Gewalt, da die routinierte Hilfe. Möglich ist es zwar,
dass das Assad­Regime versucht, das ganze Land mit
Gewalt zurückzuerobern. Wahrscheinlicher scheint
vorerst ein anderes Szenario. Unter Experten wird es
die »Gazafizierung« Idlibs genannt: Der Grenzstrei­
fen, in den sich auch Mohammed Barakat geflüchtet
hat, könnte dauerhaft abgeschottet werden. Drinnen
hätten weiter die Dschihadisten die Kontrolle, ver­
sorgt würde das Gebiet durch internationale Hilfe
von außen. Doch selbst wenn um Idlib kein Zaun
errichtet wird wie um Gaza, rechnen westliche
Diplomaten und Helfer damit, dass der Hilfseinsatz
für Idlib Jahre dauern wird, nicht Monate.
Und sie befürchten eben hier die nächste Aus­
ein an der set zung: um die Hilfe.
Denn völkerrechtlich bleibt Idlib Teil Syriens.
Ein grenzübergreifender Hilfseinsatz ist nur mög­
lich, wenn der UN­Sicherheitsrat zustimmt – auch
das ständige Mitglied Russland. Als der Hilfsein­
satz zuletzt zum Januar um ein halbes Jahr verlän­
gert werden sollte, drohte Russland bereits mit
dem Veto. Moskau hält es da ganz mit Assad: Der
will keine Hilfslieferungen über eine Außengrenze,
sodass sein Re gime sie nicht kontrollieren kann. Er
will selbst kontrollieren, wer versorgt wird. Lebens­
mittel als Instrument der Unterdrückung.
Im Juni läuft das aktuelle Hilfsmandat aus. Schei­
tert es, hätte das katastrophale Folgen für Idlib.
Deutsche und belgische Diplomaten verhandeln
darüber bei den UN federführend mit Russland. Eine
klägliche Aufgabe: um die Versorgung derer ringen,
zu deren Schutz man sich nicht aufraffen konnte.
Angesichts der politischen Realitäten kann man nur
hoffen, dass Deutschland wenigstens dabei sein
ganzes politisches Gewicht in die Waagschale legt.
Mohammed Barakat hat die Bilder von den
Flüchtlingen an der griechischen Grenze gesehen.
»Sind Menschen denn nur noch Druckmittel?«,
sagt er. Er habe Angst, auch eines Tages verzweifelt
genug zu sein, um eine militärisch abgeriegelte
Grenze zu stürmen – die zur Türkei: »Wenn das
Re gime kommt, bleibt uns keine Wahl.«

A http://www.zeit.deeaudio

Jetzt sind alle für eine »Schutzzone«


Hier spielt sich die eigentliche Flüchtlingskrise unserer Tage ab: Millionen Menschen sitzen im nordsyrischen Idlib fest VON LEA FREHSE


Wer hilft ihnen?


Flüchtlinge in einem Lager bei Ma’arrat Misrin in der Region Idlib, nahe der syrisch-türkischen Grenze

H


eiko Maas hat dieser Tage einen neuen
Begriff geprägt: Die Menschen in der
nordsyrischen Region Idlib, so der
Außenminister, brauchten einen »Raum mit
Sicherheitsgarantien«, damit humanitäre Hilfe
zu ihnen gelangen könne.
Die umständliche Formel kaschiert, dass
Maas jetzt etwas verlangt, was er noch vor
wenigen Monaten verworfen hatte. Seine Ka­
binettskollegin Annegret Kramp­Karrenbauer
hatte im letzten Herbst eine »Sicherheitszone«
in Nordsyrien gefordert. Sie hatte damals die
Lage in den weiter östlich gelegenen Kurden­
Regionen im Blick. Maas geht es jetzt um die
Menschen im Nordwesten nahe der türki­
schen Grenze.
Doch das Prinzip ist gleich: Der im inter­
nationalen Recht übliche Begriff dafür ist
»Schutzzone« – ein Bereich, idealerweise per
UN­Resolution abgesichert, in dem Waffen­
ruhe herrscht und Zivilisten Zugang zu Hilfs­
lieferungen bekommen.
Maas hatte AKK wegen ihres (nicht mit
ihm abgestimmten) Vorschlags der Lächer­
lichkeit preisgegeben, zusammen mit dem
türkischen Außenminister und vor laufenden

Kameras in Ankara: Man habe kaum über
Kramp­Karrenbauers Idee geredet, so Maas
Ende Oktober letzten Jahres, »und das sagt
eigentlich alles«.
Die Verteidigungsministerin düpiert den
Außenminister durch ihr Vorpreschen, der
rächt sich beim Türkei­Besuch – die Revan­
chefouls unter den Saarländern im Kabinett
waren ein Tiefpunkt deutscher Außenpolitik.
Ein ernsthafter Streit in der Sache kam so gar
nicht erst zustande. Teile der SPD gerierten
sich als Bollwerk gegen die vermeintliche »Mi­
litarisierung« der Außenpolitik. Eine krasse
Verzerrung: Denn ein Einsatz deutscher Sol­
daten wäre nur unter einem (höchst unwahr­
scheinlichen) UN­Mandat und im Rahmen
einer internationalen Truppe denkbar gewe­
sen. Kramp­Karrenbauer hatte das nicht aus­
geschlossen, um überhaupt glaubhaft für eine
Schutzzone werben zu können. Vergeblich.
Der Vorschlag wurde zerredet und fallen gelas­
sen, die Innenpolitik fraß die Außenpolitik,
und um die Menschen in Syrien ging es bei
alledem offenbar zuletzt.
Umso bemerkenswerter, dass nun ange­
sichts des Leidens in Idlib die Schutzzonen­

Idee wieder die Runde macht. Angela Merkel
warb in der letzten Woche in der Unionsfrak­
tion dafür. Heiko Maas meidet zwar noch
peinlichst den Begriff, ist aber unterdessen
einig mit Annegret Kramp­Karrenbauer, die
Kanzlerin beim Werben für eine Schutzzone
zu unterstützen.
Nur hat sich unter der Hand der Sinn des
Begriffs verändert – den geopolitischen Reali­
täten in Syrien entsprechend. Russland hat die
Lufthoheit dort. Das bedeutet: Eine Flugver­
botszone, Voraussetzung effektiven Schutzes,
kann nicht gegen Moskaus Willen durchge­
setzt werden. Eine internationale Schutztruppe
zur Absicherung kann es ebenfalls nur im Ein­
verständnis mit Russland geben. Humanitäre
Hilfe erreicht die geflohenen Menschen nur
über türkische Grenzübergänge – oder mit
Duldung des Regimes in Damaskus, dem
deutsche Politiker den Massenmord am eige­
nen Volk vorwerfen.
In anderen Worten: Die Sicherheitsgaran­
tien, die Deutschland fordert, müssten von
ebenjenen Akteuren gegeben werden, die die
humanitäre Katastrophe in Syrien mit ver­
schuldet haben. JÖRG LAU

Doch deutsche Politiker verschweigen, wer die Bedingungen der Hilfe in Syrien bestimmt


Reyhanli
Aleppo

SYRIEN

TÜRKEI

LIBANON

Homs

ZEITGRAFIK
50 km

Mittel-
meer

Latakia

Rebellen, darunter
Dschihadisten

Rebellen, darunter
Dschihadisten

Flüchtlings-
bewegungen

Flüchtlings-
bewegungen

türkische Armee türkische Armee

HauptstraßenHauptstraßen

kurdische
Selbstverwaltung

kurdische
Selbstverwaltung
syrisches Regime
und Verbündete

syrisches Regime
und Verbündete

Haram

Idlib

Foto: Muhammed Said/Anadolu Agency via Getty Images

In der Falle


2 POLITIK 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12

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