Die Zeit - 12.03.2020

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  1. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12 WIRTSCHAFT 25


Eingesperrt


Italien wehrt sich mit drakonischen Mitteln gegen den Ausbruch des Coronavirus. Ist das noch demokratisch? VON FEDERICO FUBINI


E


s waren Bilder von Menschen-
mengen, die in Panik geraten. Am
Samstagabend stürmten Tausen-
de den Bahnsteig 14 des Mailän-
der Garibaldi-Bahnhofs. Sie hat-
ten Angst davor, in ihrer Region
eingesperrt zu werden: Die Coro-
navirus-Epidemie breitete sich ringsherum mit ex-
ponentiell zunehmender Geschwindigkeit aus.
Am 24. Februar waren 221 Covid-19-Fälle in
Italien bekannt, gerade einmal zwölf Tage später
waren es bereits 5061, weitere drei Tage später
hatte sich die Zahl auf 9172 nahezu verdoppelt.
Die höchste Konzentration fand – und findet –
sich in der Lombardei rund um Mailand, aber in
Mitleidenschaft gezogen ist das gesamte Land.
Wie bei der Einführung von Kapitalkontrollen
muss auch die Kontrolle von Menschen unerbittlich
sein, damit sie funktioniert. Die Maßnahmen müs-
sen unter größter Heimlichkeit vorbereitet werden,
um dann auf einen Schlag ein großes Gebiet abzu-
sperren, bevor eine Massenflucht einsetzen kann.
Sollte das der Plan gewesen sein, ist er am



  1. März in Italien nicht aufgegangen. Abends sollten
    die Minister zum Unterzeichnen des neuen Ge-
    setzes zusammenkommen, aber bereits Stunden
    vorher, um 19.34 Uhr, stand der komplette Ge-
    setzesentwurf auf einem Facebook-Profil der rechts-
    populistischen Partei Lega.
    Die Mitte-links-Regierung hatte den Entwurf
    vorab den Regionalchefs der Lombardei und Vene-
    tiens zukommen lassen, beides Lega-Politiker.
    Zum Abendessen berichteten Fernsehsender und
    Websites ausführlich über die Maßnahmen und
    verkündeten, es werde schon bald eine Sperrzone
    geben. Die werde sich vor allem über Norditalien
    erstrecken und mehr als ein Viertel der 60,4 Mil-
    lionen Italiener und Italienerinnen betreffen, ein
    Gebiet, das 40 Prozent des italienischen Bruttoin-
    landsprodukts erwirtschaftet.


Die Heimkehrer wurden keineswegs von
jubelnden Familien begrüßt


Tausende Migranten, die aus Süditalien in das
wohlhabende Mailand gekommen waren, stürmten
nach Bekanntwerden der Meldung die verbleiben-
den Nachtzüge, um bei ihren Familien zu sein,
bevor die Einschränkungen in Kraft traten. Sie
drängten sich in überfüllten Abteilen und igno-
rierten die Auflage der Gesundheitsbehörde,
mindestens einen Meter Abstand zu den Mitmen-
schen zu halten. So haben sie möglicherweise das
Virus mit nach Süditalien genommen.
Als die Züge am nächsten Morgen in den Regio-
nen Kampanien und Apulien eintrafen, wurden die
Heimkehrer keineswegs von jubelnden Familien
begrüßt. Tatsächlich beschwerten sich Angehörige
in den sozialen Netzwerken darüber, dass ihre Brü-
der und Vettern gekommen seien, »um die Krank-
heit bei uns zu verbreiten«.
Apuliens Gouverneur Michele Emiliano bat die
Neuankömmlinge, sich unverzüglich bei den ört-
lichen Behörden registrieren zu lassen und sich
freiwillig einer 14-tägigen Quarantäne zu unterzie-
hen. Das taten am nächsten Tag auch etwa 2000
Personen, aber man weiß nicht, wie viele der Bitte
nicht folgten. In Salerno setzte der Bürgermeister
Polizeieinheiten und Krankenwagen in Gang, damit
sie die Passagiere aus Mailand gleich am Bahnhof
einer Untersuchung unterziehen konnten. In Sizi-
lien meldeten sich 7000 Menschen für eine freiwil-
lige Quarantäne, nachdem sie über das Wochen-
ende aus dem Norden eingetroffen waren.
Letztlich erwies sich all das als nutzlos, denn am
Montagabend belegte die Regierung das gesamte
Land bis mindestens zum 3. April mit strengen Auf-
lagen. Sämtliche Versammlungen sind untersagt,
auch Hochzeiten, Begräbnisse, Sportveranstaltun-
gen, Theater, Discos und Clubs. Seit Montag dürfen
alle Italiener das Haus nur noch verlassen, um Le-
bensmittel zu kaufen, zur Arbeit zu gehen oder ins
Krankenhaus. Sie müssen ein unterschriebenes
Formular mitführen, auf dem die Gründe ihres Aus-
gangs angegeben sind, und es bei Kontrollen der
Polizei vorlegen. Bei Verstößen drohen Sanktionen


und sogar bis zu drei Monate Gefängnis. Auch die
Fußballspiele der Serie A sind ausgesetzt.
Der entschlossene Kampf gegen Corona bedeu-
tet nicht zwingend, dass sozialer Frieden einkehren
wird. Während die Epidemie mit fortwährender
Dauer die Widerstandskraft der Gesellschaft stärker
und stärker auf die Probe stellt, wird die öffentliche
Ordnung möglicherweise immer brüchiger werden.
Italiens Gesundheitssystem ist zwar sehr gut, laut
der Weltgesundheitsorganisation ist nur das fran-
zösische noch besser, aber nun stehen die Kranken-
häuser unter gewaltigem Druck. Der Anästhesist
Christian Salaroli aus Bergamo sagte dem Corriere
della Sera, sein Krankenhaus ziehe bei der Behand-
lung bereits Patienten mit einer mutmaßlich höhe-
ren Lebenserwartung und Überlebenschance vor.
Da es nicht ausreichend Intensivbetten für sämtli-
che Patienten gibt, sind die Ärzte gezwungen, Vor-
auswahlen zu treffen.
Italiens Bürger erleben, wie überall Engpässe
auftreten, sie zeichnen sich schon bei den Schutz-
masken und den Schutzanzügen für das medizi-
nische Personal ab sowie bei den Beatmungsanlagen
für die am schwersten betroffenen Covid-19-Fälle.
Sollte die Krise noch lange anhalten, könnten in
Italien wichtige Vorräte knapp werden.

Versucht das organisierte Verbrechen die
Macht der Behörden zu untergraben?

Um das Risiko zu verringern, dass sich Covid-19 in
den überbelegten Haftanstalten des Landes aus-
breitet, untersagte der italienische Staat dort die
Besuche von Angehörigen. In sieben Gefängnissen
kam es daraufhin zu Revolten. In Modena starben
sieben Häftlinge unter unklaren Umständen, in
Foggia brach eine Gruppe von 50 Häftlingen die
Tore auf und floh. Dass die Angriffe in den Haft-
anstalten zeitgleich erfolgten, weckte den Verdacht,
dass das organisierte Verbrechen auf diese Weise
versuchte, die Macht der Behörden zu untergraben,
während das gesamte Land unter Druck steht.
Das Chaos der vergangenen Tage warf ein
Schlaglicht auf eine Reihe Probleme, die in Italien
tief verwurzelt sind. Dazu gehören die zunehmen-
den Verwerfungen zwischen mächtigen Landesteilen
und der Zentralregierung, die mangelhafte Vorberei-
tung der Regierung auf eine öffentliche Gesund-
heitskrise, die vor einem Monat noch undenkbar
schien. Die Rettungsdienste haben sich in Erdbeben-
gebieten stets als ausgesprochen effektiv erwiesen,
aber sie verfügen schlicht über keinerlei Vorräte an
Schutzmasken und haben keine Maßnahmen für
den Umgang mit einer Pandemie eingeübt.
Klammert man landestypische Eigenheiten aus,
ist Italiens Lage für das insgesamt vom Coronavirus
bedrohte Europa lehrreich: Bislang hat sich ein ein-
ziges Mittel bei der Eindämmung der Krankheit als
wirksam erwiesen, nämlich das chinesische Modell,
aber eine moderne Demokratie kann diesen Ansatz
nicht einfach eins zu eins übernehmen: Chinas
Ein-Parteien-Regime handelte rasch und setzte mit
Gewalt durch, dass die Menschen in ihren Häusern
blieben, außerdem unterdrückte sie grundlegende
Rechte wie die Reisefreiheit und das Versammlungs-
recht im öffentlichen und privaten Raum. Aber
nicht nur das: Peking unternahm auch gewaltige
Anstrengungen, um zu erfassen, mit wem positiv
getestete Menschen in Kontakt standen.
Ein derartiges Vorgehen würde in Europa den
Gepflogenheiten und sozialen Normen zuwider-
laufen. Eine WHO-Delegation mit 25 Experten
fällte nach einem China-Besuch ein drastisches
Urteil: »China befragt landesweit sämtliche infizier-
ten Personen, mit wem sie in Kontakt standen, und
testet diese dann. In Wuhan (dem ursprünglichen
Coronavirus-Herd in der Provinz Hubei) erledigen
1800 aus mindestens fünf Personen bestehende
Teams diese Aufgabe. (...) Weite Teile der globalen
Gemeinschaft sind weder von der Einstellung her
noch von den materiellen Aspekten her bereit, die
Maßnahmen zu ergreifen, die zur Eindämmung von
Covid-19 in China angewendet wurden.«
Die wirtschaftlichen Schäden dieses Ausbruchs
werden Italien noch lange beschäftigen, auch wenn
das Virus irgendwann verschwindet. Bei einer G7-

Telefonkonferenz signalisierte die italienische Zentral-
bank am 3. März, dass in ihrer Prognose für 2020 das
Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes um ein Prozent
schrumpft. Aber selbst das ist optimistisch. Für Italien
könnte der Virus-Schock die Ausmaße einer zweiten
Lehman-Brothers-Pleite erreichen, die 2008 eine Welt-
finanzkrise auslöste. 2009 schrumpfte die Wirtschaft
um 5,5 Prozent, und die Verschuldung des öffentlichen
Sektors in Italien wuchs von 102 auf 112 Prozent des
BIP. Allerdings liegt dieser Wert heute bei 135 Prozent,
und die Handlungsmöglichkeiten sind entsprechend

eingeschränkt. Andererseits steht Italien finanziell heute
besser da als 2009, zumindest was die Verschuldung
im Ausland betrifft, das Verhältnis der gegenseitigen
Schulden ist in etwa ausgeglichen.
Zunächst einmal reift in Italien die Einsicht, dass
man es beim Coronavirus mit einem Tyrannen zu tun
hat, der sich mit demokratischen Mitteln nicht be-
siegen lässt. Derzeit erlauben die Fakten nur eine
beunruhigende Schlussfolgerung: Toleranz, Respekt
für Privatsphäre und die westlichen Grundrechte ha-
ben das Eindringen des Virus bloß beschleunigt. Ein

gesundheitspolitischer Polizeistaat scheint augenblick-
lich unsere einzige Hoffnung zu sein, eines Tages zu
einem normalen Leben zurückkehren zu können.

Federico Fubini ist Stellvertretender Chefredakteur
des »Corriere della Sera«

Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Schulz

Siehe auch Entdecken, S. 72:
Wie die Venezianer mit der Quarantäne umgehen

CORONA-KRISE


Foto: Ivan Romano/Getty Images

Bahnstation von Salerno

Die Lage mag
verzweifelt sein, aber
nicht hoffnungslos

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