Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1
In der Rezension des neuen, im S. Fischer
Verlag erschienenen Romans von Ingo
Schulze, Die rechtschaffenen Mörder, in der
Ausgabe vom 5. März ist uns ein Fehler un­
terlaufen, der den Tatbestand eines Fehlers in

solcher Reinheit erfüllt, dass wir nicht ein­
mal eine Erklärung anführen können: Jeden­
falls heißt die Figur in Schulzes Roman Nor­
bert Paulini, nicht Peter Turrini. Wir bitten,
unseren Fehler zu entschuldigen.

Berichtigung


Fortsetzung von S. 53

54 FEUILLETON


In einem offenen Brief, den Moses 2018 veröffent­
lichte, weil er »nicht länger still bleiben« wolle,
während sein Vater »unglaublich in die Irre führen­
den Attacken« ausgesetzt sei, schreibt er: »Niemand
von uns hätte es erlaubt, dass Dylan sich mit Woo­
dy entfernt, selbst wenn er es versucht hätte.« Dylan
widerspricht dieser Behauptung vehement. In ei­
nem Fernsehinterview sagte sie 2018: »Ich war sie­
ben Jahre alt. Woody Allen führte mich auf den
Dachboden, weg von meiner Babysitterin, und das,
obwohl ihr gesagt wurde, dass sie mich mit ihm nie
allein lassen sollte. Dann hat er mich sexuell miss­
handelt.«
Mia Farrow führte in den Neunzigerjahren im­
mer ihre Nanny als Zeugin an, die damals zu Proto­
koll gab, Allen am besagten 4. August für 15 bis
20 Minuten aus den Augen verloren zu haben.
Konnte er in dieser Zeit unbemerkt mit Dylan auf
den Dachboden verschwinden?

Was die Farrows in ihrer Anklage unter den
Tisch fallen lassen: Dieselbe Nanny bekundete
auch, dass sie es kaum habe ertragen können, wel­
che Lügen Mia Farrow über Allen in die Welt setzte.
Eine andere Nanny der Farrows, die am fragli­
chen Tag nicht im Dienst war, kündigte ihren Job,
weil sie, so ihre Darstellung, von Mia Farrow unter
Druck gesetzt worden sei, deren Version der Ge­
schichte zu bezeugen. Farrow ihrerseits hält diese
Aussage für absurd und sagt, dass die Nanny dafür
von Woody Allen bezahlt worden sei.
Die Nanny sagte zudem aus, Moses, der Bruder
von Ronan und Dylan, habe ihr kurz nach Be­
kanntwerden der Vorwürfe seinen Verdacht anver­
traut, dass Mia Farrow ihre Tochter instruiert habe.
Sie gibt auch an, Farrow habe mit Dylan vor lau­
fender Kamera die Aussage einstudiert, immer und
immer wieder, bis der Mutter das Ergebnis schließ­
lich gefiel.
Laut Moses gehörte solch ein »Coachen, Drillen,
Einstudieren« für die Kinder zum Alltag: Als die

Mutter einmal ein Maßband gesucht und ihr seine
Antwort, nicht zu wissen, was damit passiert sei,
nicht gefallen habe, habe sie ihm derart ins Gesicht
geschlagen, dass seine Brille herunterfiel: »Sie sagte
mir, dass ich lüge, und befahl mir, meinen Ge­
schwistern zu erzählen, ich hätte das Band genom­
men. Sie sagte, sie werde wieder in den Raum kom­
men und ich solle ihr dann sagen, dass es mir leid­
tue. Sie brachte mich dazu, es mindestens ein halbes
Dutzend Mal zu proben.«
Seinen querschnittsgelähmten Bruder Thad­
deus, der wegen Polio im Rollstuhl saß, habe Far­
row, so berichtet Moses, einmal über Nacht in den
Schuppen gesperrt. Und um Moses zu bestrafen,
habe sie ihm einmal all seine Anziehsachen weg­
genom men, um ihn nackt vor seinen Geschwistern
bloßzustellen. Zeigten sich die Kinder beim Lernen
begriffsstutzig, habe Farrow sie auf den Boden ge­
worfen. Insgesamt elf Kinder hat Mia Farrow über
die Jahre selbst bekommen oder adoptiert; zwei da­
von, Tam und Thaddeus, nahmen sich 2000 bezie­

VON KATHRIN PASSIG VON DANIEL KEHLMANN

Die Ankündigung, dass Rowohlt die Memoiren von Woody Allen
publizieren will, sorgt für Kontroversen. Zwei Beiträge zur Debatte

D


er Fall Woody Allen ist in
vieler Hinsicht anders als alle
anderen Fälle von Miss­
brauchsvorwürfen gegen be­
rühmte Männer, die in letzter Zeit an die
Öffentlichkeit gekommen sind. Zum ei­
nen wurde dieser Fall monatelang von der
Polizei untersucht – ohne Ergebnis. Zum
anderen existiert ein langer Text von
Woody Allens Adoptivsohn Moses Far­
row, der am fraglichen Tag dabei war und
der seinen Vater so detailliert und sach­
lich verteidigt, dass ich es praktisch un­
möglich finde, nach der Lektüre keine
Zweifel an Allens Schuld zu haben. Das
heißt natürlich nicht, dass Dylan Farrows
Vorwürfe kaltblütig erlogen sind, es heißt
auch nicht, dass man ihre Verzweiflung
und ihr Leid aus Liebe zu Allens Filmen
vom Tisch wischen kann; doch Moses
Farrow beschreibt eine systematische psy­
chische Manipulation der Kinder durch
Mia Farrow, und auch seine Darlegung
kann man nicht einfach von sich weisen,
wenn man sich ernsthaft mit dem Fall
beschäftigt.

D


er Rowohlt Verlag hat – genau
wie Hachette – Ronan Farrows
Buch Durchbruch. Der Wein-
stein-Skandal, Trump und die
Folgen veröffentlicht. Es handelt davon, wie
erdrückend die Beweislage in solchen Fällen
sein muss und wie viel investigative Hartnä­
ckigkeit und institutionelle Unterstützung
nötig sind, wenn die Aussagen der von se­
xualisierter Gewalt Betroffenen nicht im­
mer wieder als unglaubhaft abgetan werden
sollen. Die Unschuldsvermutung, auf die
sich die Befürworter der Veröffentlichung
in den letzten Tagen immer wieder berufen
haben, gilt nicht nur für Woody Allen, sie
gilt auch für Mia Farrow und führt daher
nicht weiter. Das Argument »So genau weiß
man das doch nicht, wahrscheinlich lügt die
Frau, weil sie sich rächen will« ist formal
dasselbe wie »So genau weiß man das doch
nicht, wahrscheinlich lügt der Mann, weil
er es nicht gewesen sein will«.
Ronan Farrow hat seine Position gegenüber
Hachette dargelegt und ist von den Angestell­
ten des Verlags darin unterstützt worden. In
Deutschland gibt es diese Möglichkeit für ihn

nicht. Das ist einer der Gründe, warum wir
uns als Autorinnen und Autoren des Verlags
an Rowohlt gewendet haben. Das Verhältnis
zwischen Verlag und Autor geht über eine Ge­
schäftsbeziehung hinaus, darauf weisen die
Verlage selbst gern hin, und es gibt hier keine
neutrale Haltung. Der Rowohlt Verlag kann
nicht Farrows Buch aus der – wie ich hoffe –
Überzeugung heraus veröffentlichen, dass es
ein richtiges und wichtiges Buch ist, und dann
gegen den ausdrücklichen und übrigens auch
leicht vorhersehbaren Wunsch Farrows die
Woody­Allen­Autobiografie verlegen. Das
sieht für mich danach aus, als wolle man den
Kuchen haben und ihn auch essen. Ich dachte
eigentlich, die öffentliche Debatte der letzten
Jahre hätte zu einem Umdenken geführt, zu
mehr Aufmerksamkeit dafür, für wen und
gegen wen man mit so einer Veröffentlichung
Stellung bezieht. Im Kontext der Diskussionen
der letzten Jahre lässt sich die Entscheidung
für Allen kaum anders lesen als »So, jetzt ist
die Weinstein­Mode aber mal vorbei, zurück
zur Tagesordnung«, und das finde ich falsch
oder zumindest, wie Stephen King es bei Twit­
ter ausgedrückt hat, »fucking tone-deaf«.

Was tun mit diesem Buch?


Zuletzt von
Daniel Kehlmann
erschienen:
Der Roman »Tyll«
(2017, Rowohlt)

Zuletzt von Kathrin
Passig erschienen:
»Vielleicht ist das neu
und erfreulich«
(2019, Droschl)

hungsweise 2016 das Leben. Moses ist über­
zeugt: jeweils nach einem Streit mit ihrer Mut­
ter. Farrows Tochter Lark starb 2008, verarmt
und von der Mutter verstoßen. Mia Farrow
weist die Äußerungen von Moses zurück, geht
inhaltlich allerdings nicht auf sie ein.
All das diskreditiert nun keineswegs auto­
matisch die Behauptung Mia Farrows, dass
Woody Allen sich an Dylan vergriffen habe.
Bemerkenswert ist jedoch, dass auch der Staats­
anwalt trotz außerordentlich gründlicher Un­
tersuchungen durch die Polizei keine hinrei­
chenden Beweise fand, um ein Verfahren ein­
zuleiten. Er merkte zwar an, es gebe einen
»hinreichenden Verdacht« gegen Allen, ließ
aber offen, um welchen Verdacht genau es sich
dabei handele. Die polizeiliche Ermittlung je­
denfalls und auch die Untersuchungen der
Child Sexual Ab use Clinic Yale­ New Haven
und der New York Child Wel fare Ad mi nis tra­
tion begründen einen solchen Verdacht nicht.
Anders als bei vielen #MeToo­Fällen, bei
denen Hinweise auf Übergriffe ignoriert und
Betroffene nicht beachtet wurden, erhielten
die Vorwürfe gegen Allen seit den Neunzigern
vollste Aufmerksamkeit. Viele Male wurde
Dylan, wurden mutmaßliche Zeugen befragt,
über 21 Monate hinweg. Das Ergebnis der
Yale­New­Haven­Untersuchung: »Wir glau­
ben, dass Dylans Aussagen nicht auf einem
Ereignis basieren, das wirklich an diesem


  1. August 1992 passiert ist. Wir wissen nicht,
    ob sie diese Aussagen getätigt hat, weil sie ein
    emotional verletzliches Kind aus schwierigen
    familiären Verhältnissen ist, oder ob sie von
    ihrer Mutter manipuliert wurde. Wir glauben,
    dass eine Kombination aus beidem am wahr­
    scheinlichsten ist.« Dylans Aussagen hätten
    eine »re hearsed quality« aufgewiesen, also ein­
    studiert gewirkt. Stets habe Dylan ihre Aus­
    sagen darauf bezogen, dass ihr Vater ihre
    »arme, arme Mutter« mit seiner Beziehung zu
    Soon­Yi verletzt habe.
    Moses berichtet, auch Ronan sei bereits im
    Alter von vier Jahren umhergelaufen und habe
    erzählt, dass sein Vater seine Schwester »ficke«.
    Über Monate habe Mia Farrow ihren Kindern
    »wie ein Mantra« vorgebetet, dass Allen ein
    Monster und ihre Schwester Soon­Yi für sie nun
    »tot« sei. Zum Valentinstag 1992 schickte Far­
    row eine Karte an Allen: ein Foto der Familie,
    durchbohrt von einem Dolch, der Soon­Yi sym­
    bolisiert. Farrow verteidigte diese Karte: Keines­
    wegs sei sie als Drohung gemeint ge wesen.
    Dass Allen für Ronan, Dylan und Moses
    tatsächlich ein toller Vater war, kann aus guten
    Gründen angezweifelt werden. Einen Sorge­
    rechtsstreit, den er angestrengt hatte, verlor er in
    zwei Instanzen. Bis heute wird das Urteil von
    1997 oft als Indiz für Allens Schuld herangezo­
    gen. Wer es sich jedoch genauer anschaut,
    merkt: Davon kann keine Rede sein. Der Rich­
    ter, der Ronan und Dylan ihrer Mutter Mia
    Farrow zusprach, führte aus, dass Allen nicht die
    Namen der Haustiere seiner Kinder kannte oder
    den ihres Zahnarztes. Er säe Zwietracht und


gefährde den Familienfrieden. Über sexuellen Miss­
brauch traf das Urteil keine Aussage.
Und was ist mit der Tatsache, dass Allen bereits
vor dem 4. August 1992, dem Tag des angeblichen
Missbrauchs, wegen »unangemessenen Verhaltens«
in Behandlung war? Allens Therapeutin wider­
spricht explizit der Unterstellung, ihre damalige
Aussage über Allen habe sich auf eine sexuelle
Komponente bezogen. Vielmehr sei es ihr mit ih­
rer Formulierung bloß darum gegangen, dass Al­
len seine Tochter gegenüber Ronan deutlich be­
vorzugt habe. Dylan selbst ist 2014 das erste Mal
an die Öffentlichkeit getreten. In einem Gastbei­
trag für die New York Times führte sie aus, dass sie
jedes Mal, wenn sie ihren Vater, ihren »ab user«,
erblickte, ihre Panik habe verstecken müssen und
einen einsamen Platz aufgesucht habe. Kurz nach
den Weinstein­Enthüllungen fragte sie in einem
anderen Gastbeitrag, warum die #MeToo­Bewe­
gung ihren Vater ausgespart habe. Unter anderem
der Schauspielerin Kate Winslet, die mit Allen zu­
sammenarbeitet, warf Dylan vor, sich zur Kom­
plizin zu machen.
Natürlich werden wir nie herausfinden, ob
Woody Allen seine Adoptivtochter Dylan sexuell
missbraucht hat. Viele Studien legen nahe, dass
der Zahl der gerichtlich dokumentierten Sexual­
straftaten eine enorme Dunkelziffer gegenüber­
steht. Und trotz der Verurteilung von Weinstein,
trotz der #MeToo­Debatte ist es immer noch eine
nicht zu leugnende Realität, dass Männer mit
Missbrauchsdelikten davonkommen. Wer aber die
Vorwürfe gegen Allen kennt, wer die staatlichen
Untersuchungen vor Augen hat, mit denen der
Fall über viele Monate verhandelt worden ist, dürf­
te von den Protesten, die sich nun gegen das Er­
scheinen seiner Autobiografie richten, nicht zwin­
gend überzeugt werden.
Die deutschen Schriftsteller, die das Buch nicht
veröffentlicht sehen wollen, schreiben unter ande­
rem, sie hätten »keinen Grund, an den Aussagen
von Woody Allens Tochter Dylan Farrow zu zwei­
feln«. Nun lassen sich die Gründe, die es geben
könnte, aber leicht recherchieren und darlegen.
Woody Allen ist zu keinem Zeitpunkt des sexuel­
len Missbrauchs angeklagt worden, und er war zeit
seines Lebens auch keinem anderen Vorwurf in
dieser Hinsicht ausgesetzt. Die #MeToo­Bewe­
gung hat unseren Blick auf sexuelle Unterdrü­
ckung, auf Erpressung und Missbrauch geschärft.
Sie hat dafür gesorgt, und das ist nur zu befür­
worten, dass das Leid der Opfer in den Mittel­
punkt rückte. Sie gewinnt die größte gesellschaftli­
che Akzeptanz aber erst dann, wenn sie von Diffe­
renzierung und Kenntnis des Sachverhalts geprägt
ist. Und, aller Twitter­Empörung zum Trotz, eben
auch Zweifel zulässt, wo Zweifel geboten sind.

Ich war nie ein Anhänger des Klischees,
dass böse Menschen große Kunst schaffen,
ich glaube vielmehr, dass sich die Persön­
lichkeit eines Künstlers in seinem Werk aus­
drückt – und gerade in dieser Hinsicht ist es
nicht egal, dass Woody Allens Lebenswerk
den tiefsten und wahrhaftigsten Humanis­
mus ausdrückt. Und weil ich nun einmal
den Eindruck habe, dass es nicht das Werk
eines Mannes ist, der Kinder vergewaltigt,
möchte ich wissen, was er selbst über sein
Leben und über die Vorwürfe zu sagen hat;
ich glaube, dass es ein genuines öffentliches
Interesse gibt, diese Memoiren lesen zu
können. Die darin behaupteten Tatsachen
zu untersuchen ist eine Aufgabe des kriti­
schen Journalismus, die dieser bestimmt
auch wahrnehmen wird. So funktioniert
Diskurs. Diskurs funktioniert nicht, wenn
einer Seite verboten wird, sich zu äußern.
Abgesehen von alldem: Deutschland ist
nicht Amerika. Woody Allen ist der bedeu­
tendste jüdische Filmregisseur der Nach­
kriegszeit; möchte man wirklich ausgerech­
net seinem Buch hierzulande das Erschei­
Fotos: Dagmar Morath (l.); Vincent Tullo/NYT/Redux/laif nen untersagen?


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  1. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12


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Leservom erstenSa tz weg.«


Sigrid Löffler, FALTER

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