6 POLITIK 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12
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reitagabend, am Ende einer
Woche, die für die Linkspartei
mit Video-Schnipseln auf Twit-
ter begann und damit endet,
dass sich die Partei im Bundes-
tag zu ihrem »Verhältnis zur
freiheitlichen Demokratie« befra-
gen lassen musste. Anruf bei einer führenden
Genossin mit der vorsichtigen Frage nach dem
Befinden. »Es ist Wahnsinn«, sagt sie, »gerade
noch stand die CDU mit dem Rücken zur
Wand. Und innerhalb von ein paar Tagen krie-
gen wir es hin, dass wir die Idioten sind.«
Das ist, man kann es nicht anders sagen,
eine ziemlich akkurate Beschreibung der Lage.
Eben erst hatte die Linke eine Zehenspitze
in Richtung politischer Mitte ausgestreckt,
Bodo Ramelow galt nach dem Thüringer
Wahlchaos als Deutschlands oberster Antifa-
schist, und während sich die Union zuneh-
mend mit ihren Abgrenzungsbeschlüssen nach
links quälte, errechnete ein Demoskop nach
dem anderen plötzlich Mehrheiten für Grün-
Rot-Rot im Bund. Dann jedoch hielt die Linke
eine Strategiekonferenz in Kassel ab, Videos
von Linken-Mitgliedern, die absurde Dinge
sagen, tauchten auf, und im Handumdrehen
war die Partei wieder dort, wo sie hergekom-
men war: bei acht Prozent in den Umfragen
und einem ziemlich ramponierten öffentlichen
Erscheinungsbild.
Der Auslöser war dabei eher ein Problem
der uneigentlichen Sorte. Ein linkes Basismit-
glied hatte bei der Kasseler Konferenz verlauten
lassen, dass man auch »nach ’ner Revolution
und wenn wir das oberste Einprozent der
Reichen erschossen haben« eine Energiewende
brauche. Der Parteichef Bernd Riexinger ant-
wortete, erschießen werde man niemanden,
man setze sie »schon zu nützlicher Arbeit ein«.
Der Satz der Frau sollte, wie sie später
erklärte, eigentlich eine Persiflage auf linke
Revolutionsromantik werden. Bloß war dies ein
Humor, den außerhalb eingeweihter Kreise
niemand verstand oder verstehen wollte. Und
Bernd Riexinger fehlte ganz offensichtlich die
politische Klugheit, um zu erkennen, dass ein
Scherz des Parteichefs an dieser Stelle in etwa so
passend war wie eine Stalin-Büste auf dem
eigenen Schreibtisch.
Denn auch für die Linke gilt, was etwa
Christian Lindner oder Friedrich Merz bereits
erfahren mussten: Mit hermeneutischem Wohl-
wollen sollte man in der Politik nicht rechnen.
Und hinter der Wirkung einer Aussage ver-
schwindet die Intention. Umgehend war bei
der Union die Rede von einer »roten Kolonne«,
die unter dem Motto »verbieten, enteignen, er-
schießen« auf das Land zurolle, ein CDU-Ab-
geordneter raunte, mit Riexingers Geisteshal-
tung könne man auch ein Konzentrationslager
betreiben. Und die FDP-Generalsekretärin
mahnte in bundespräsidialem Ton: »Worte be-
reiten Taten vor.« Ganz so, als bestünde wenige
Tage nach dem Terror von Hanau tatsächlich
die Gefahr, dass linke Erschießungskomman-
dos Jagd auf Millionäre machten. Der Witz
wurde zur gefühlten Wirklichkeit, die verstol-
perte Ironie zum politischen Instrument.
Allerdings überdeckt diese virtuelle Debatte
die tatsächlichen Probleme, vor denen die Linke
derzeit steht. Denn es gibt zwar in der Links-
partei keine ernsthaften »Erschießungsfantasien«.
Sehr wohl gibt es aber parolenhafte Selbstgenüg-
samkeit und unpolitischen Bewegungskitsch, der
bisweilen ins Antiparlamentarische zu kippen
droht. Ein Sprecher der sogenannten Antikapi-
talistischen Linken vertrat in Kassel etwa die An-
sicht, die Aufgabe der Linken sei es, »den parla-
mentsfixierten Abgeordnetenbetrieb zu schwä-
chen. Staatsknete im Parlament abgreifen, Infor-
mationen aus dem Staatsapparat abgreifen« und
»der Bewegung zuspielen«.
Solche Erstsemesterradikalität provozierte
im Saal nicht etwa Gelächter oder entschiedene
Gegenrede, sondern vielmehr höflichen Beifall.
Auch sonst konnte man während der andert-
halb Tage immer wieder hören, wie munter
Teile der Linken mit Phrasen jonglieren. Grüne
und SPD sind für manche noch immer »neoli-
berale Parteien« (was auch immer das heißen
mag), ein linkes politisches Lager eine »Illu-
sion«, und statt sich mit irgendwelchen Macht-
optionen zu beschäftigen, müsse es darum ge-
hen, im Schulterschluss mit der »Arbeiterklasse«
außerparlamentarische »Gegenmacht« aufzu-
bauen, um das System, natürlich, zu »überwin-
den«. Wieder einmal zeigte sich, wie eigentüm-
lich es war, dass die CDU in den vergangenen
Wochen insbesondere das ostdeutsche Erbe der
Linken heranzog, um ihre Abgrenzung zu be-
gründen. Die dunklen Flecken der Partei liegen
weniger in den bisweilen etwas schläfrigen
Ostverbänden, sondern vielmehr im Milieu des
westdeutschen Postkommunismus, dessen
Konventikel in der Linken seit je einen Reso-
nanzraum finden.
Zweierlei muss man dabei einräumen: Ers-
tens ziehen Strategiekonferenzen per se gerade
jenen Typus Großstratege an, der seine
Schlachten vor allem am WG-Küchentisch
oder im Internet schlägt (und nicht etwa in
einem Brandenburger Kommunalparlament),
und zweitens waren diese Redner in Kassel
trotzdem in der Minderheit.
Dennoch haben die Politikunfähigen in der
Linken einen gewissen Einfluss, was daran
liegt, dass die Pragmatiker mit ihnen paktieren.
Die Parteispitze lässt sich etwa von dem trotz-
kistischen Netzwerk Marx21 unterstützen, das
wiederum seinerseits ein zumindest ungeklärtes
Verhältnis zum Parlamentarismus hat. Dass
Bernd Riexinger in Kassel über sein Bundes-
tagsmandat spöttelte (»... weiß nicht, ob ich
mir diese Erfahrung nicht hätte ersparen sol-
len«), war, das konnte man beobachten, weni-
ger Ausdruck innerer Überzeugungen, sondern
vielmehr applausheischender Opportunismus,
was die Sache im Übrigen nicht besser macht.
In der Bundestagsfraktion wiederum befin-
den sich die Realos um Dietmar Bartsch in
einem Bündnis mit der von manchen liebevoll
»Russia-Today-Riege« genannten Truppe, deren
Abgeordnete gern Solidaritätsadressen an Dik-
tatoren versenden und Journalisten bei Treffen
schon einmal fragen, für welchen Geheim-
dienst sie eigentlich arbeiten.
Die Vernunft hofiert den Dogmatismus, die
Kompromissbereiten brauchen die Kompro-
misslosen, und heraus kommt Apathie. Viele
Linke haben allerdings mittlerweile erkannt,
dass sie einen Ausweg aus diesem machtpoliti-
schen Dickicht finden müssen. »Es kann nicht
mehr nur um Geländegewinne in unserem lin-
ken Kosmos gehen«, sagt ein Mitglied der Füh-
rungsriege. Von einer »Richtungsentscheidung«
sprechen andere. Es ist die neue alte Gretchen-
frage, die im Übrigen auch das eigentliche The-
ma der Strategiekonferenz sein sollte: Sollen die
Linken im Parlament nur dagegen sein oder
auch dabei?
Die Spitzenleute der Partei wollen diese Fra-
ge nun klären, am besten noch vor der nächsten
Bundestagswahl. Deshalb gibt es etwa Annähe-
rungen zwischen dem Lager von Dietmar
Bartsch und jenem von Katja Kipping, die sich
in den letzten Jahren vor allem in herzlicher Ab-
neigung verbunden waren. Wenn es ums Re-
gieren geht, liegen sie allerdings nah beieinander.
Doch trotz neuer Gespräche ist ein echtes
Bündnis der Vernünftigen in der Linken bis-
lang noch nicht in Sicht. Wünsche und Wirk-
lichkeit liegen in der Regierungsfrage noch im-
mer weit auseinander. Erst vor ein paar Wochen
wählten die Linken den Fundamentalisten
Andrej Hunko zum stellvertretenden Frakti-
onsvorsitzenden, was unter Grünen und Sozial-
demokraten allgemeines Kopfschütteln hervor-
rief. Dann hielten es Hunko und sieben weitere
Abgeordnete für eine gute Idee, die Bundes-
regierung wegen Beihilfe zum Mord an dem
iranischen Terrorgeneral Kassem Soleimani an-
zuzeigen, was wiederum im Rest der Links frak-
tion für Entsetzen sorgte.
Alexander Neu, der Initiator der Anzeige,
sagt heute: »In der Substanz stehen wir dazu
und weichen keinen Millimeter zurück.« Und
mit Blick auf eine mögliche Regierungsbeteili-
gung: »Es kann nicht sein, dass wir unsere
außenpolitischen Positionen für ein paar sozial-
politische Zugeständnisse verkaufen.« Für Leute
wie Neu bedeutet das: Raus aus der Nato, Ab-
zug der deutschen Truppen aus dem Ausland,
Ende aller Rüstungsexporte. Es ist der alte
Betonsound, an dem bisher noch jede Bünd-
nisüberlegung gescheitert ist. Wo die Außen-
politik eine Glaubensfrage ist, bleibt jeder
Kompromiss Häresie.
Die Aufgaben für die Regierungslinken, so
viel steht nach dieser Woche fest, sind in diesen
Tagen größer als ein missratener Witz. Oder
wie es einer von ihnen durchaus treffend for-
muliert: »Es gibt gerade eine reale Chance. Aber
wie immer bei uns gibt’s auch die Chance, dass
wir es komplett vergeigen.«
E
r sei gerade in der Fußgängerzone
von Frankfurt an der Oder unter-
wegs, erzählt Oberbürgermeister
René Wilke am Telefon, und be-
spuckt habe ihn noch niemand. Er
lacht. Wilke hat mit sechs anderen Bürgermeis-
tern und dem Innenminister von Niedersach-
sen einen Brief an die Bundesregierung unter-
zeichnet. Darin fordern sie, dass Deutschland
endlich mehr Flüchtlingskinder von den grie-
chischen Inseln aufnimmt. Dafür habe es im
Netz zwar wütende Kommentare gegeben, aber
im Großen und Ganzen herrsche in Frankfurt
Einigkeit darüber, dass den Minderjährigen auf
Lesbos, Chios und Samos geholfen werden
müsse. »Die Bevölkerung kennt meine Art,
Politik zu machen, und hat mich gewählt. Des-
halb fühle ich mich legitimiert«, sagt Wilke.
Mit seiner Haltung ist er eine Ausnahme.
Nicht erst seit der türkische Präsident
Tayyip Erdoğan die Grenzen nach Europa für
offen erklärt hat, sieht sich die Bundesre-
gierung mit der Forderung konfrontiert, die
Minderjährigen aus Griechenland nach
Deutschland zu holen. In den notdürftig her-
gerichteten Lagern auf den Inseln breiten sich
Krankheiten aus, das Wasser ist verdreckt,
nachts ist es bitterkalt. Trotzdem lehnte der
Bundestag vergangene Woche einen Antrag
zur Aufnahme von 5000 Kindern und Ju-
gendlichen ab. Das Votum war Abbild der
Stimmung im Land: Laut einer Umfrage im
Auftrag der Augsburger Allgemeinen sind über
die Hälfte der Befragten gegen die Aufnahme
von minderjährigen Flüchtlingen. In der
Nacht auf Montag, nach langem Ringen, be-
schloss die Bundesregierung doch noch, im
Verbund mit einigen europäischen Partnern
zwischen 1000 und 1500 Jugendliche aufzu-
nehmen. Es sollen aber nur Härtefälle kom-
men, solche, die krank sind oder jünger als 14
Jahre.
Mit aller Kraft versucht das Kabinett von
Angela Merkel, dem Eindruck entgegenzuwirken,
das Krisenjahr 2015 könne sich wiederholen. Ihre
Minister pochen auf eine europäische Lösung für
die Verteilung der Flüchtlinge und wissen dabei,
dass die nicht in Sicht ist. Angst lähmt die
Bundespolitik in der Flüchtlingsfrage. Angst vor
falschen Signalen. Und vor der AfD.
Viele Kommunen scheinen keine Angst zu
haben. Als Teil des Netzwerks »Sichere Häfen«
haben sich 50 Städte deutschlandweit dazu
bereit erklärt, minderjährige Flüchtlinge auf-
zunehmen. Sie fordern die Bundesregierung
auf, endlich die rechtlichen Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass sie weitere Jugendliche
aufnehmen können. Der Frankfurter Bürger-
meister René Wilke von den Linken teilt die
Forderung des Netzwerks. »Wir haben uns hier
mit den Trägern unserer Einrichtungen zusam-
mengesetzt und diskutiert, was wir mit den
vorhandenen Mitteln noch tun können«, sagt
er. Schon heute wohnen 27 unbegleitete min-
derjährige Flüchtlinge in Frankfurt in mehre-
ren Wohnzentren. Sie bekommen psychologi-
sche Betreuung und werden von Sozialarbei-
tern versorgt. Auf diese Weise sollen sie auf die
Schule vorbereitet werden oder auf den Beruf.
Wilke sagt, seine Stadt könne derzeit noch
drei weitere Plätze anbieten. Das klingt nicht
nach viel. Aber Frankfurt an der Oder hat nur
gut 58.000 Einwohner. Und den Brief an die
Bundesregierung haben auch Großstädte wie
Köln und Düsseldorf unterzeichnet. »So kön-
nen wir heute schon zwischen 500 und 600
verfügbare Plätze anbieten«, sagt Wilke. Und
das freiwillig, ohne dass die Bundesregierung
die Flüchtlinge über Quoten auf die Städte
verteilt. Von diesen Kommunen geht das Zei-
chen aus, dass sie bereit sind, mehr zu tun, als
es der Bund derzeit erlaubt.
Dass der Druck auf Staaten wie Polen und
Ungarn, sich an einer EU-weiten Lösung zu betei-
ligen, nachlassen könnte, wenn Deutschland
wieder im Alleingang Flüchtlinge aufnähme, ver-
stehe er, sagt Wilke. Auch, dass das Jahr 2015 eine
Zerreißprobe für das Land war. Und für seine
Stadt. Die AfD holte bei den letzten Kommunal-
wahlen fast 19 Prozent. »Aber um all das geht es
doch hier gerade gar nicht«, sagt er. Er habe nicht
den Anspruch, mit einem Schlag die Situation
aller Flüchtlinge an der Grenze zu verbessern.
Aber die Kinder könnten nichts für das Elend, in
dem sie heute leben. »Und deshalb müssen wir
da helfen.« Wilke ist kein linker Fundi in seiner
Partei, eher klingt er wie der Realo Bodo Rame-
low aus Thüringen.
Ohnehin wirkt alles etwas unkomplizierter
im Frankfurter Rathaus als im Kanzleramt in
Berlin. Das liegt einerseits daran, dass Wilke
nicht mit der Türkei und der EU über Milliar-
den-Pakete und Grenzschutz verhandeln muss.
Dass er sich keine Gedanken darüber machen
muss, ob seine nächste Entscheidung die Volks-
parteien weiter in die Krise stürzt. Aber es ist
auch ein besonnener Pragmatismus, der in
Frankfurt Fakten schafft. Selbst die CDU, die
sich im Bund so schwertut, macht hier mit:
»Nicht jeder Kommunalpolitiker ist jetzt auch
für die Weltpolitik verantwortlich«, sagt der
örtliche CDU-Chef Michael Möckel. »Wenn
der Oberbürgermeister einer Aufnahme zu-
stimmt, dann wüssten wir nicht, warum wir
dagegen sein sollen.«
Während die Bundesregierung zögert, will der Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) in seiner
Stadt Flüchtlingskinder aufnehmen VON PAUL MIDDELHOFF
Bespuckt hat ihn noch niemand
Die Linke wollte Mitte werden. Dann hielt sie eine Strategiekonferenz ab. Und schon steht sie wieder am Rand VON ROBERT PAUSCH
?
Illustration: Martin Burgdorff für DIE ZEIT
Wie verrückt ist die