Die Zeit - 12.03.2020

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62 JAZZ


Z


uerst ist da das Gefühl, irgend-
wo im Nirgendwo gelandet zu
sein an diesem regnerischen
Berliner Samstagabend. Abseits
des hippen Mitte-Getümmels
mit seinen Cafés und Bars, in
einer Wohngegend in Weißen-
see, findet sich auf einem Hinterhof das Stu-
dioboerne45. Hier also treffen sich viele Musi-
ker aus der lebendigen Improvisationsszene der
Stadt. Hier nehmen sie auf oder geben ein
Konzert.
Ein weiter Raum, helles Parkett, drei schwarz
glänzende Konzertflügel. In ihrem Innern liegt
allerlei Material: Da gibt es Qigong-Kugeln aus
Metall und Stein, Tücher, Tonabnehmer, Stab-
magnete, Bambusstäbe, Blumenbinder, Angel-
schnur, das bei Roadies so beliebte Gaffer-Tape
und Malerkrepp. An die 30 Zuschauer sind da,
sie setzen sich vor und zwischen die Instrumen-
te. Wer keinen Stuhl mehr findet, hockt sich
auf den Boden oder lehnt sich an die Wand.
Gleich beginnt Accretion – For 3 Pianos and
a Pianist, ein Solokonzert von Magda Mayas.
»Accretion« steht für Zuwachs und Klanger-
weiterung. Auftritt der Pianistin: eine zierliche
Gestalt, weißes, weites Hemd, schwarze Hose,
barfuß. Tief beugt sie sich in einen der Flügel
hinein, schlägt mit einer Hand einzelne Tasten
an, präpariert mit der anderen das Innere des
Instruments. Einige Saiten bekommen E-Bows,
die ein Magnetfeld erzeugen; batteriebetriebene
Aufsätze, wie sie zur Klangmanipulation von
Gitarren verwendet werden. Es erklingt ein
Zen-artiger, sehr ruhiger Ton, der sich fächer-
förmig im Raum ausbreitet. Mit Kolophonium
bestrichene Bambusstäbe, die zwischen den
Saiten stecken, modulieren ihn. Es ist eine
ätherische Musik, die Konzentration erfordert,
von der Musikerin wie vom Publikum: mini-
male Bewegungen, die Energie verströmen.
Nun kommen die anderen Flügel ins Spiel.
Mayas flicht bis zu vier Meter lange Angel-
schnüre aus Nylon zwischen die Saiten und
erzeugt durch wechselweises Ziehen geigenähn-
liche Töne. Auf dem Boden liegend, schiebt sie
sich rückwärts vom ersten Flügel zum zweiten,
die Schnüre bewegend. Später wiederholt sie
den Vorgang gestisch, den nun nicht mehr ertö-
nenden Klang als eben gehört in Erinnerung
rufend. Das anschließende, langsam kratzende
Geräusch des sich entrollenden Malerkrepps,
mit dem sie den zweiten und dritten Flügel
verbindet, wird ebenso zum Teil der Musik wie
der metallische Ton des über die Saiten gezoge-
nen Rakels – eines Schabers von der Art, wie ihn
Gerhard Richter zum Malen verwendet.
Hier geht es um Variationen und Vibratio-
nen, performativ und poetisch. Accretion wid-
met sich der Bewegung und dem Übergang
unter Einbeziehung des Raumes. Die Pianistin
hat das Stück mit dem britischen Tänzer und
Choreografen Toby Kassell erarbeitet. Er ist an
der Göteborger Oper tätig; sie schrieb in Göte-
borg ihre Doktorarbeit über Räumlichkeit,
Klangfarbe und Techniken der Improvisation.
Magda Mayas, geboren 1979, entstammt
einer Familie klassischer Musiker. Die Mutter
spielt Bratsche im Symphonieorchester, der
Vater lehrt Geige. Als Kind in Münster ging sie
oft in Konzerte, lernte Violine, dann Klavier.
»Ich bin in der Klassik verwurzelt«, erzählt sie
im Gespräch. Als ihr älterer Bruder begann,
Gitarre zu spielen, hörte sie zum ersten Mal
Jazz. »Ich hatte vorher nicht gewusst, dass es so
etwas wie Improvisation gibt, Musik ohne

Die Frau im Flügel


Angelschnüre durch die Saiten ziehen, ohne dem Steinway zu schaden:


Lyrische Töne der Berliner Klangforscherin Magda Mayas VON MAXI SICKERT


Noten. Mein Bruder spielte mir verschiedene
Sachen vor. Gegenüber der Schule gab es einen
kleinen Plattenladen. Dort habe ich mir dann
auch sehr viel angehört. Nicht gezielt, eher in alle
Richtungen. Bei den Pianisten Lennie Tristano
und Alexander von Schlippenbach blieb ich
schließlich hängen. Dann sah ich Cecil Taylor in
einem Konzert. Dieses Energetische, die eigene
Musik und auch Jazz – das war es, was ich ma-
chen wollte.«
Der Flügel hat sie immer fasziniert. Was für
ein Klangvolumen, welche Geschichte! Vom In-
begriff der europäischen Klassik bis zum Jazz von
Duke Ellington oder Keith Jarrett.
Und sie spannt nun Angelschnüre. »Die
Möglichkeiten des Klaviers zu entdecken ist ein
Prozess. Es gibt dafür ja keine Tradition oder
Schule«, sagt sie. »Dabei mache ich nichts, was
für das Instrument schädlich wäre.« Das hat sie
sich von Steinway schriftlich geben lassen.
Im Jahr 1999 kam Magda Mayas als Zwan-
zigjährige nach Berlin, um Jazz zu studieren. Sie
tauchte in die Szene improvisierender Musiker
ein, die sich Mitte der Neunzigerjahre in den
nach dem Mauerfall neu entstandenen Freiräu-
men im Osten Berlins gebildet hatte, in besetz-
ten Häusern und Ladenlokalen: die Berliner Re-
duktionisten. Ihnen ging es um Materialvermin-
derung, das Ausloten von Klangereignissen, um
Konzentration und Stille als
Teil der Musik und insge-
samt um eine neue Klang-
ästhetik. Dazu kamen kol-
lektive, nicht hierarchisch
organisierte Arbeitsweisen
und Alltagsmaterialien zur
Präparation und Produkti-
on von Klängen. Bis dahin
war Berlin ein Zentrum des
Free Jazz gewesen, oft iro-
nisch, provozierend, sich
abgrenzend, dominant männlich. Dem setzte die
neue Bewegung eine ganz andere Lebenseinstel-
lung entgegen: leise statt laut, Detox statt Besäuf-
nis.
Die alten Free Jazzer reagierten zunächst
feindselig auf die jungen Musiker, nannten sie
»Nichtskönner«. Von Tumulten wird erzählt, so-
gar von Schlägereien. Was es zu verteidigen gab:
die Deutungshoheit über Improvisation als Le-
bensentwurf. In diesem Durcheinander machte
sich Magda Mayas auf die Suche nach ihrem
ganz persönlichen Klang.
»Es gab einige wenige Orte für diese Musik in
besetzten Häusern, wie das Kunsthaus KuLe mit
der Reihe Labor Sonor im Erdgeschoss in der
Auguststraße in Berlin-Mitte, aber es wurden
auch viele Hauskonzerte veranstaltet«, erinnert
sie sich. Am Anfang hörte sie nur zu, dann trat
sie in der eigenen Wohnung auf, »auch weil es so
wenige Orte mit einem Flügel gab«.
Sie spielte in Duo- und Trio-Formationen,
etwa mit der Melbourner Cellistin Anthea Caddy
und der französisch-libanesischen Saxofonistin
Christine Abdelnour oder mit Tony Buck, dem
australischen Schlagzeuger.
Tony Buck war und ist Teil des Trios The
Necks, das mit meditativen, sich teils über Stun-
den verdichtenden Improvisationen weltbekannt
wurde. Mayas und Buck gründeten 2003 ihr bis
heute bestehendes Duo Spill. Seit zehn Jahren
leben sie zusammen und laden immer noch zu
Hauskonzerten ein. Meistens kommen zwischen
20 und 40 Zuhörer, viele gehören selbst zu jener
Improvisationsszene, die unter dem Namen
Echtzeitmusik mittlerweile ein internationales

Netzwerk bildet, das Jazz, Noise, neue Musik,
Field-Recordings und Elektronik miteinander
verknüpft.
»Berlin ist immer noch ein Ort, an dem es viel
Austausch und viele Spielmöglichkeiten gibt und
an dem das Leben im Vergleich zu anderen Städ-
ten noch bezahlbar ist«, sagt Mayas. Sie, die auch
im Echtzeitmusik-Orchester Splitter spielt, sieht
die gemeinsame Schnittstelle der Musiker in der
Offenheit und Experimentierfreude der Betei-
ligten: »Das verbindende Element ist sicherlich,
jeweils die eigene Musik zu machen und diese im
Moment zu erfinden.«
Mittlerweile hat Magda Mayas mehr als 30
CDs und LPs veröffentlicht. »Die Musik er-
scheint auf unabhängigen kleinen Labels wie
Sofa, Mikroton oder Unsounds und in kleinen
Auflagen, etwa von 300 Stück, die teilweise
bereits vergriffen sind«, sagt sie. »Aufnahmen im
Studio zu machen ist ein anderer Fokus, den ich
spannend finde. Es geht darum, Leute zu errei-
chen, Rezensionen zu erhalten, die dann wieder
Konzerte generieren. Und ich produziere etwas,
das bleibt.«
Auf ihrem jüngsten, im Januar erschienenen
Album The Setting Sun Is Beautiful Because of All
It Makes Us Lose, die auch auf Spotify zu hören
ist, spielt Mayas im Duo mit der Saxofonistin
Christine Abdelnour. Zuerst repetitive Tonver-
schiebungen vom Klavier
her, dann Atemgeräusche
auf dem Saxofon, bevor die
Klänge zu vibrieren begin-
nen und sich gegenseitig
aufladen. Ein akustisches
Abenteuer, so dicht wie
spielerisch.
Kann man von dieser
Musik leben? »Es gibt För-
derung, aber viele Musiker
haben noch andere, teilwei-
se musikferne Jobs oder spielen auch in anderen
Genres, um ihre Kunst zu finanzieren. Oder es
ist, wie bei mir, die akademische Arbeit und mu-
sikalische Forschung.« Seit einem halben Jahr
leitet sie den Fachbereich Improvisation an der
Universität Luzern. Zudem unterrichtet sie Klas-
sen in San Francisco, Oslo und London.
Neben aller Selbstorganisation halten Gen-
derfragen die Szene auf Trab. So kuratierte der
Club ausland im Prenzlauer Berg vor zwei Jahren
ein ausschließlich weibliches Programm. »Das
wurde damals zwar generell begrüßt, aber nicht
im Vorfeld kommuniziert«, sagt Mayas. »Da hätte
ich mir mehr Dialog gewünscht.« Etwas skep-
tisch klingt das, auch wenn sie selbst schon Situa-
tionen erlebt hat, in denen sie als Musikerin das
Gefühl hatte, sich stärker positionieren zu müs-
sen als ihre männlichen Kollegen. Immerhin
wird das Thema verhandelt.
Dieses Hinterfragen vermeintlicher Gewiss-
heiten auf allen Ebenen ist eine Haltung, die
Magda Mayas als politisch begreift:
»Die Musik, die wir machen, ist politisch.
Allein dieses Grundprinzip der improvisierten
Musik, sich auf einen Ort einzulassen, auf die
Menschen, mit denen man spielt, auf das vor-
handene Instrumentarium, Risiken einzugehen,
offen zu sein, zuzuhören – das ist politisch. Diese
Haltung bestimmt mein ganzes Leben.«

Aktuelles Album: »The Setting Sun Is Beautiful
Because of All It Makes Us Lose« (Sofa, 2020).
Mehr unter magdamayas.com und echtzeitmusik.de

Risiken eingehen,


offen sein,


zuhören:


»Das ist politisch«


Illustration: Bráulio Amado für DIE ZEIT



  1. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12


Wi rtrauernum

Prof.Dr.WolfgangEdelstein


*15.Juni1929†29.Februar2020

ErwardietreibendeKraftaufdemWe gzurdemokratischenSchule
undderwissenschaftlicheSpiritusRectorderFGMe.V.

MitihmverlierenwirnichtnureinenengagiertenBildungsforscher,
sondernaucheinenweitsichtigenMenschenundlangjährigen
We gbegleiter.SeinewertschätzendeundbesonneneArt,seinepointierte
kritischeHaltungwerdenwirvermissen.

FürdieMitgliederderForschungsgruppeModellprojektee.V.

Dr .TessaDebusundIdaSchildhauer
(Vorstand)

Wi rtrauernum

Dr .KlausMeves


Von2007bis2011warDr .MevesMitgliedunseresAufsichtsrates.
MitgroßempersönlichenEngagementbrachteer hierseineprofundeExpertise
zuSchifffahrtundHandelzumWo hlallerBeteiligtenein.
Inunsereminternationalenhandels-undlogistikorientiertenUmfeldmachtedieses
Dr .MeveszueinemsehrgerngesehenenundhochgeschätztenMentor.

Wi rverlierenmitDr.MeveseinenwertvollenRatgeberundFreund.
UnsereGedankensindbeiseinerEhefrauElisabeth,wirwerdenihnnievergessen!

Aufsichtsrat,GeschäftsführungundGesellschafter
NeumannGruppeGmbH,Hamburg

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