Die Zeit - 12.03.2020

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Eine Frau, die sich nicht anpassen will: Saskia Esken löst mit ihren Auftritten im normierten Politikbetrieb erhebliche Irritationen aus

100 Tage Einsamkeit


Die neue SPD-Vorsitzende Saskia Esken stößt überall auf Widerstand. Das liegt längst nicht nur an ihr selbst VON PETER DAUSEND


W


ie cool wäre es, wenn die
SPD, diese Heimstatt der
Gleichheit, mal eine Vor-
sitzende hätte, die so ganz
anders ist. Eine, die nicht
bereits im Abi-Alter als
Veteranin der Juso-Macht-
kämpfe gilt, sondern die mit 18, 19 Jahren über die
Marktplätze und durch die Fußgängerzonen tin-
gelte, ihre Gitarre auspackte, einen Hut aufstellte
und Lieder von Joan Baez, Simon and Garfunkel
und Neil Young sang, Joe Hill, Mrs. Robinson,
The Needle and the Damage Done. Und natürlich
Southern Man.
Eine, die ihr Studium abbrach, als Postbotin,
Kellnerin, Chauffeurin und Sekretärin jobbte, um
danach Informatikerin zu werden und sich in einer
Partei, die sich stets nach dem Vergangenen sehnt,
zu einer Expertin für das Künftige zu entwickeln.
Eine, vor der sich bei einer Zugfahrt von Han-
nover nach Berlin ein Digital Na tive mit Hipster-
Bart aufbaut und sagt: »Ich finde super, was Sie
machen, machen Sie weiter so!«
Das Kuriose daran: Genau so eine Vorsitzende
hat die SPD – und zwar seit dem 8. Dezember


  1. Sie heißt Saskia Esken, trägt schon immer
    gern Rot, ist aber trotzdem erst mit 30 in die SPD
    eingetreten. Doch cool ist so ziemlich das Letzte,
    was man mit ihr verbindet. Knorrig, patzig, ver-
    krampft, weltfremd, humorlos, provinziell, verbissen



  • so lauten die Adjektive, die Esken über sich lesen
    darf, seit sie gemeinsam mit Norbert Walter-Bor-
    jans die SPD führt.
    »Groko ist Mist, sagt Esken – und verbreitet
    dabei den Charme von Marge Simpsons Schwes-
    tern« (Neue Züricher Zeitung, 4. 12. 2019).
    »Wo Walter-Borjans Wärme und Nähe ver-
    mittelt, strahlt sie Kühle und Härte aus« (stern,





    1. 2019).
      »... wenn beide (Walter-Borjans und Esken) ihre
      Gegensätze ausspielen könnten. Quasi: König Ar-
      tus gegen den Griesgram, das Moderne gegen das
      Konservative, der Charme gegen den Missmut, die
      Hoffnung gegen die Verbitterung, der Tag gegen
      die Nacht« (Die Welt, 11. 1. 2020).
      So gnadenlos negativ ist bisher kaum jemand
      beschrieben worden, der plötzlich im Rampenlicht
      der Öffentlichkeit erschien. Die übliche Schonfrist
      für Amtsneulinge wurde der 58-Jährigen nie ge-
      währt: »Die 100 Tage waren bei mir nach 100 Se-
      kunden vorüber«, sagt Esken selbst.
      Hat Esken ein Problem, weil ihr das Format
      fehlt, die Rolle auszufüllen, die sie nun hat? Hat
      umgekehrt die SPD ein Problem, weil sie die neue
      Chefin von Anfang an so mies behandelt wie An-
      drea Nahles ganz am Ende? Oder ist das Problem
      ein politischer Betrieb, der nach eingefahrenen




Mustern organisiert ist und eine Politikerin wie
Esken nicht vorsieht? Eine, die nicht gefallen will.
Politiker, so lautet eine informelle Regel des Be-
triebs, haben offen, freundlich, zugewandt zu sein;
sie treten mit einem Lächeln auf den Lippen vor
Wähler und Kameras; sie versuchen so zu agieren,
dass sie sympathisch erscheinen. Emotionsarbeit
nennen das Menschen, die Politiker beraten. Es-
ken mag aber Emotionsarbeit nicht und Men-
schen, die Politiker beraten, auch nicht. Medien-
training hatte sie noch nie, will auch künftig keins.
Kein Übel liegt ihr ferner als die Gefallsucht.
Glätten, sich normen lassen, in Politikersprech
verfallen: »Wozu soll das gut sein?«, fragt sie. »Es
gibt schon viel zu viele, die Politik über ihre Person
verkaufen, anstatt sie über Inhalte zu vermitteln.«
Das hört sich zwar gut an. Zur Politik gehört
aber, dass die Leute einem vertrauen müssen, wenn
man erfolgreich sein will. Doch wie sollen norma-
le Bürger einer SPD-Vorsitzenden vertrauen, wenn
die sie auf (fast) jedem Bild so angrimmt, als hätte
man auf die Frage nach dem besten SPD-Chef
aller Zeiten »Olaf Scholz« geantwortet. In der
Sturheit, so bleiben zu wollen, wie sie ist, erinnert
Esken an ihre glücklosen Vorgänger Kurt Beck
und Andrea Nahles. Auch die waren nicht bereit,
auf die Erwartungen, die mit der neuen, wichtige-
ren Rolle verbunden sind, einzugehen. Beck wollte
sich »nicht verbiegen« lassen, Nahles weiter schrä-
ge Karnevalswitze reißen – und Esken will weiter
nur dann lachen, wenn etwas lustig ist. Das Pro-
blem ist bloß: Sie findet nur sehr wenig lustig.

August Bebel, Willy Brandt, Saskia Esken –
welch eine Ungeheuerlichkeit!

Die SPD-Bundestagsfraktion ist eine Löwengrube
mit eiserner hierarchischer Ordnung. Parlaments-
neulinge sind demütig und stellen sich hinten an.
Machen sie dabei nichts falsch, bekommen sie eine
Profilierungschance, nutzen sie die, dürfen sie in
ihrer zweiten Legislaturperiode vielleicht den Fin-
ger heben, wenn die Posten von Sprechern oder
Berichterstattern zu besetzen sind. Wer dem nicht
folgt, wird weggebissen.
Im Jahre sechs ihres Abgeordnetendaseins hat
Esken den Finger gehoben. Aber nicht um Vize-
chefin der Arbeitsgruppe Digitalpolitik zu werden,
was viele in der Löwengrube für angemessen ge-
halten hätten. Sondern um als Vorsitzende die
SPD zu führen. August Bebel, Friedrich Ebert,
Otto Wels, Willy Brandt, Saskia Esken. Welch
eine Ungeheuerlichkeit! Welch eine Frechheit!
Eine Hinterbänklerin, die auf Platz 15 der Lan-
desliste der SPD-Baden-Württemberg so gerade
noch in den Bundestag gerutscht war. Eine Außen-
sei te rin, die niemand wirklich erst nahm. »Was

maßt die sich an?«, wurde hinter ihr hergetuschelt.
Und: »Ausgerechnet die!« Eine Kollegin, die auf-
fallend oft gegen das Mehrheitsvotum der Frak-
tion gestimmt hat.
Doch Esken hat nicht nur kandidiert, sie hat
sich auch noch erdreistet zu gewinnen. Seitdem
tuscheln die Kollegen nicht mehr hinterher, sie
ätzen offen un ter ein an der: »Hast du schon gehört,
was sie jetzt wieder losgelassen hat?« Alles, so er-
zählt ein Abgeordneter, was Esken sagt, werde ins
Lächerliche gezogen. Jedes Mal, wenn sie sich in
Fraktionssitzungen jetzt äußere, ergreife als Nächs-
ter Olaf Scholz das Wort. Bei ihr rührten sich ein
paar Hände, bei Scholz, bis dato in der Fraktion in
etwa so beliebt wie eine namentliche Abstimmung
nachts um 1.30 Uhr, »singen sie demnächst Fan-
lieder, so laut wird der jetzt bejubelt«. Die Bot-
schaft an Esken sei klar: Du bis zwar jetzt Partei-
vorsitzende, aber zu sagen hast du hier nichts.
Die Medien wünschen sich Politiker, die nicht
so genormt daherkommen, nicht so geschmeidig
sind, nicht so gefällig. Leute mit Ecken und Kan-
ten. Und wenn sie dann da sind, diese schrofferen,
ungebügelteren Typen der Esken-Klasse, fragen
die Medien, warum sie nicht geschmeidiger sein
können, nicht gefälliger. Nicht ganz so eckig und
kantig. Und die Politiker, zumindest die der SPD,
fragen dann, warum Saskia Esken keine andere
Frisur haben kann, keine andere Brille, keine an-
deren Schuhe, keinen freundlicheren Gesichts-
ausdruck; warum sie sich nicht darum bemüht,
ein bisschen mehr Dynamik, ein bisschen mehr
Lebensfreude auszustrahlen, kurz: warum Saskia
Esken nicht Annalena Baerbock sein kann.
Woher stammt der Mut, sich als Frau ohne
Netzwerk und ohne Absicht, eins zu knüpfen, für
das Amt der SPD-Chefin zu bewerben? Fragt man
das Esken, so erzählt sie von zwei prägenden Ereig-
nissen. Beim ersten geht es um ein Jugendhaus in
Weil der Stadt, einer Kleinstadt unweit ihres Ge-
burtsortes Renningen. Als sie 13 war, wurde sie
gefragt, ob sie sich nicht auch dort engagieren
wolle, die Gewerkschaftsjugend traf sich in dem
Haus, linke Schüler organisierten Demonstratio-
nen gegen die NPD und die Wiking-Jugend. Aus
dieser Zeit kennt Esken auch den fünf Jahre älte-
ren Bernd Riexinger, heute Chef der Linkspartei.
Mit der »Songgruppe« des Jugendhauses stand sie
vor 500 Leuten auf einer Bühne in der Stuttgarter
DGB-Zentrale und sang Arbeiterlieder: »Seit die-
ser Zeit habe ich keine Angst mehr vor Bühnen
oder vor einem größeren Publikum«, so Esken.
Das zweite Ereignis war ein Vorstellungs-
gespräch. Ob die Anforderungen des Jobs womög-
lich zu hoch für sie sein könnten – sie war da noch
sehr jung –, wurde sie gefragt. »Ach, wissen Sie«,
antwortete sie, »meine eigenen Anforderungen an

mich sind gewöhnlich höher als die anderer Leute.
An Ihrer Stelle würde ich mir da keine Gedanken
machen.« Den Job hat sie nicht bekommen. »Die
Antwort hat den armen Mann wohl verängstigt«,
meint sie in der Rückschau.
Das Alte Rathaus in Böblingen liegt auf einem
Hügel, gleich neben dem Deutschen Flei scher-
museum. An einem Samstag im Februar hat die
örtliche SPD zu einem verspäteten Neujahrsemp-
fang geladen, 100, vielleicht 120 Gäste sind ge-
kommen, um die neue Vorsitzende zu sehen. In
Böblingen hat sich Esken einst zur Informatikerin
ausbilden lassen, der Wahlkreis hier liegt direkt
neben ihrem eigenen, Calw/Freudenstadt, sie be-
treut ihn mit, da kein Böblinger Genosse im Bun-
destag sitzt. Ein Quasi-Heimspiel. Hört man sich
ein wenig um, bevor sie eintrifft, so erfährt man
von Kaffeetassen, die im Schwäbischen aus Genos-
senhänden fielen, als es hieß, Esken kandidiere für
den SPD-Vorsitz. Und dass mehrere Sozialdemo-
kraten da nur dachten: »Krass!«

Frau und links – für die SPD ist das eine
ziemliche Zumutung

Dann kommt sie, roter Blazer, roter Lippenstift.
In Berlin tritt Esken häufig so auf, als hielte sie
Übellaunigkeit für einen Gemütszustand, den
man öffentlich ausstellen sollte. Im Festsaal des
Alten Rathauses von Böblingen grüßt Esken
freundlich in die Runde, schlendert entspannt
umher, hält hier ein Schwätzchen, dort eins und
lächelt fast die ganze Zeit. Und als später eine äl-
tere Dame für 50 Jahre Mitgliedschaft in der
SPD geehrt wird, die Geehrte vor Aufregung die
Fassung verliert und zu weinen beginnt, ist es Es-
ken, die aufsteht, ein Taschentuch reicht und die
Frau tröstet.
Wenn man dann einem örtlichen Genossen
sagt, dass man diese entspannte, zugewandte Böb-
linger Esken in der Hauptstadt gar nicht kenne,
bekommt man zur Antwort: »Ich kenne die auch
nicht. So ist sie sonst eigentlich nie.«
Über Esken erzählen sich Genossen in Berlin,
ihr Landesverband habe sie eigentlich bei der
nächsten Bundestagswahl nicht wieder aufstellen
wollen. In Böblingen will niemand etwas von ei-
ner Verschwörung gegen Esken wissen. Das werde
doch nur erzählt, so heißt es dort, »weil die Berli-
ner sie wieder loswerden wollen«.
Und in der Tat: Beim alten SPD-Establishment
kommt der männliche Teil der neuen Doppelspitze
weitaus besser an als der weibliche. Walter-Borjans
redet stets etwas umständlich, ganz so wie der knuf-
fige Onkel, den man einfach mögen muss, weil er
so angenehm harmlos ist. Im Unterschied zu der
sperrigen Tante, die stets die kürzeste Verbindung

zwischen zwei Attacken sucht: direkt, unverblümt,
voll drauf. Esken redet so, wie sie twittert. Bei Män-
nern nennt man das Klartext, bei Frauen zickig.
Dass Esken eine Frau ist, ist ohnehin ein Problem.
Sigmar Gabriel und Andrea Nahles wurden vor
nicht allzu langer Zeit aus dem SPD-Chefsessel
verjagt, er früher, sie später – Gabriel sitzt nun im
Aufsichtsrat der Deutschen Bank, Nahles immer
noch in der Vulkaneifel. Chris tian Lindner und
Annegret Kramp-Karrenbauer haben im Thürin-
ger Wahldesaster grandios versagt, er als Notretter
am Tag der Wahl des Ministerpräsidenten, sie als
Krisenmanagerin in den Stunden danach – der
FDP-Chef ist schon wieder obenauf, die CDU-
Chefin in Abwicklung.
Das Muster wiederholt sich nun. Ganz am An-
fang ihres Daseins als Führungsduo konnten Es-
ken und Walter-Borjans vorschlagen, was sie woll-
ten. Von höheren Rentenbeiträgen für Gutverdie-
nende bis zur Wiedereinführung der Vermögen-
steuer: Kein Genosse von Gewicht griff irgendet-
was auf. Nach dem Koalitionsausschuss am ver-
gangenen Wochenende erzählen Spitzengenossen,
die vereinbarten höheren Investitionen könne sich
auch Walter-Borjans gutschreiben. Und Esken? Ja,
die solle jetzt eine Groko-Arbeitsgruppe Digitales
bilden. Was die aber genau machen und wer da
noch mit reinsolle, wisse man nicht. So ist das
nun: Er bekommt langsam Boden unter die Füße,
sie bleibt eine Treibende im machtlosen Raum.
Die SPD macht ihre Vorsitzenden gerade zu Nor-
bert Wird-Wichtig und Saskia Egal. Das hat noch
einen anderen Grund.
Walter-Borjans hat sich zwar als Steuersünder-
jäger einen Namen gemacht, gehört aber ins breite
Juste milieu der Mitte. Esken denkt dezidiert links.
Mit ihr an der SPD-Spitze verringert sich der Ab-
stand der politischen Linken zur Macht. Reflex-
artig wird das bekämpft. Vom politischen Gegner,
von den Medien – und am erbarmungslosesten
von jenen Sozialdemokraten, die eisern am Glau-
ben festhalten, die SPD könne Bundestagswahlen
nur dort gewinnen, wo sie die vergangenen vier
verloren hat: in der Mitte. Auch im Widerstand
gegen jede Linksabweichung wurzelt die Gnaden-
losigkeit, mit der Esken begegnet wird.
Wer führen soll, braucht zum einen die Fähig-
keit dazu und zum anderen die Bereitschaft der
anderen, sich führen zu lassen. Esken konnte bis-
her das Erste nicht beweisen, weil ihr das Zweite
von Anfang an verweigert wurde. Die anderen
wollen Esken einfach aussitzen. Und so bleibt die
SPD eine Partei, die stets, immer und immer wie-
der, so agiert, als würde beim nächsten Vorsitzen-
den automatisch alles besser. In Eskens einstigem
musikalischen Repertoire findet sich zu dieser
Haltung ein passender Neil-Young-Song: Helpless.

Foto: Madlen Krippendorf für DIE ZEIT


  1. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12 POLITIK 7

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