Die Zeit - 12.03.2020

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8 POLITIK 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12


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opulistische Reaktionäre und Autoritäre
führen sowohl große Staaten als auch das
große Wort. Das beeindruckt viele Kon-
servative, die nach rechts kippen, aber
auch manche Liberale und Linke: Sie
mutieren zu Postliberalen. In der Bun-
desrepublik ist Liberalität verdächtig ge-
worden. »Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzun-
gen, die er selbst nicht garantieren kann«, besagt das be-
rühmte Böckenförde-Theorem. Der Staatsrechtler Ernst-
Wolfgang Böckenförde betonte, das Gedeihen der De-
mokratie hänge von der »moralischen Substanz« der
Bürgerinnen und Bürger ab, von ihrem »staatstragenden
Ethos« der Toleranz, vom entsprechenden Wir-Gefühl


  • in den Worten des Staatsdenkers Montesquieu vom
    esprit général, der allseitigen Geisteshaltung.
    Genau hier haben die Reaktionäre ihren bislang
    größten Sieg errungen: Sie haben diesen esprit général
    verändert, den zuvor der europaweite Sozialabbau be-
    reits lädiert hatte. In dem neuen Klima werden Moral
    und Rücksicht belächelt und befehdet. Rechts und teils
    auch links der Mitte läuft ein zynischer Machtdiskurs
    der Rückkehr zur Strenge. Arbeitslose werden »aus der
    Hängematte« geholt. Bei Hilfsbedürftigen erzeugt die
    Kürzung der Zuschüsse angeblich »heilsamen Druck«.
    Und wer »sich den Grundregeln unserer Gesellschaft
    verweigert«, den soll man »härter bestrafen«.
    Endlich Schluss mit der Naivität! Das ist die Stim-
    mung. Als seien wir jahrzehntelang ein Volk der Blau-
    äugigen gewesen. Es ist inzwischen die Politik aller kon-
    servativen, liberalen und mancher sozialdemokratischen
    Kräfte in Europa, die »Schrauben fester anzuziehen«.
    Unsere Demokratie sei zu liberal, unsere Gesellschaft zu
    offen, und die Festung Europa müsse gefestigt werden.
    Im Zweifel für den Zwang.
    Reaktionäre und Postliberale hämmern uns ein, un-
    verantwortlich seien jene Zeitgenossen, die in Nathan
    dem Weisen bis heute keinen Multikulti-Naivling sehen
    wollen. Im Kampf der Kulturen (gegen den Islam) und
    im Kulturkampf (gegen die liberale Demokratie) for-
    dern Reaktionäre die geistig-amoralische Wende. Und
    mancher Bürgerliche reiht sich gern ein. Dieser esprit gé-
    néral hat sich darangemacht, das urliberale Anliegen –
    die Emanzipation – von der Agenda zu streichen. Auf
    der postliberalen Agenda steht vielmehr: Toleranz gegen-
    über Reaktionären. So erreichen Rechte ihr Ziel, Aner-
    kennung für ihre offen bekundete Intoleranz zu schaf-
    fen. Das, wovor der große Liberale Karl Popper warnte.


Im neuseeländischen Exil – nämlich in Christchurch,
wo 74 Jahre später ein Rechtsextremist 51 Moschee-
gänger ermordete – schrieb der Philosoph Die offene
Gesellschaft und ihre Feinde. Das hochaktuelle Buch er-
schien 1945. Um die Gefahr »intoleranter Philosophien«
wusste Popper, »denn es kann sich leicht herausstellen,
dass ihre Vertreter nicht bereit sind, mit uns auf der
Ebene rationaler Diskussion zusammenzutreffen, und
beginnen, das Argumentieren als solches zu verwerfen;
sie können ihren Anhängern verbieten, auf rationale
Argumente – die sie ein Täuschungsmanöver nennen –
zu hören«.
Heute erschallt im postliberalen Milieu die doppelte
Botschaft: Null Toleranz gegenüber intoleranten Isla-
misten, aber bitte doch ein bisschen mehr Toleranz ge-
genüber intoleranten rechtsradikalen Wählern! Wer aus
dem Ausland stammende Demokratieverächter an die
Kandare nimmt, verteidigt unsere Zivilisation. Wer aber
treudeutschen Demokratieveräch-
tern klare Kante zeigt, dem fehlt es
an Dialogkultur. Wer gegenüber
Migranten aus anderen Kultur-
kreisen auf die Werte der Auf-
klärung pocht, verteidigt die De-
mokratie. Wer jedoch in Thürin-
gen Einheimische auf ebendiese
Werte des Grundgesetzes verweist,
betreibt »Ausgrenzung« und »volks-
ferne Moralisiererei«.
Könnte es sein, dass die Postli-
beralen auf ihre Weise »volksfern«
sind? Den meisten Bürgerinnen und Bürgern flößt die
AfD stärkere Angst ein als das »Gutmenschentum« oder
die sogenannte Identitätspolitik. Doch der Feldzug der
Rechtspopulisten hat etliche Konservative, Liberale und
Linke irre gemacht. Zusehends übernehmen sie die re-
aktionäre Kritik am Aufgeklärten. Zwar ist es fraglos der
überhandnehmende Hass-Sprech, der den demokrati-
schen Diskurs beschädigt. Doch manche finden es schi-
cker, Multikulti und #MeToo als das eigentliche Übel
hinzustellen, wegen der »Moral« oder vermeintlicher
»Sprachverbote«.
In gemeinsamer Allergie kommen sich Antikorrekte
verschiedener Couleur näher, Reaktionäre und Bürger-
liche, Illiberale und Sozialliberale, Demagogen und De-
mokraten. Indem sie alles politisch Korrekte anprangern,
können Autoritäre wie Björn Höcke als Hüter der
Freiheit auftreten, Rechte wie Hans-Georg Maaßen auf-

geklärt tun, Nationalkonservative der CDU-Werteunion
ihre Sinnkrise verdrängen (wo sich in disruptiven Zeiten
wenig konservieren lässt) und schwankende Soziallibe-
rale doch noch zum herrischen Zeitgeist finden.
Den Reaktionären nützt es, das im deutschen Alltags-
leben eher unerhebliche Phänomen der politischen Kor-
rektheit zum Symbol des ganz großen Unbehagens auf-
zubauschen. Das »Man darf ja gar nichts mehr sagen« ist
Teil der Agenda von Neurechten, deren menschenver-
achtendes Vokabular das pure Gegenteil beweist. Am
laufenden Band verunglimpfen sie den Gegner, der ih-
nen ein Feind ist. Sie sprengen die Grenzen des Zivilen,
aber: »Man darf ja nichts mehr sagen.« Und Postliberale
stimmen munter mit ein.
Politische Korrektheit kennt gewiss Übertreibungen


  • die hochpolitische Unkorrektheit lebt vom Unter-
    schwelligen: Der »Gutmensch« ist gefährlicher als der
    Brutalo, die Feministin letztlich schlimmer als der Dis-
    kriminierer oder Belästiger, Anti-
    rassisten sind abgefeimte Rassisten
    wider den weißen Mann. Alles zu
    verkehren wird zum gemeinsamen
    Muster von Reaktionären und Post-
    liberalen: Das Engagement für
    Flüchtlinge produziert Rechtsextre-
    misten, Seenothelfer bringen Not,
    und die Linke schafft Ungleichheit

    • das beteuern ausgerechnet diese
      Antiegalitären.
      Wohin schlingern die Postlibe-
      ralen? Es scheint, dass sie bloß wis-
      sen, was sie nicht wollen. Vor allem möchten sie »nicht
      mehr naiv« sein. Und Moral ist naiv oder aber despo-
      tisch. Moral ist ihnen durchweg Hypermoral, Über-
      moral, moralisierender Totalitarismus, moralischer Ab-
      solutismus, Moralpolizei, Moralkeule, Moralpauke,
      Moralpredigt, Moralismus, Moralin. Mit dieser Litanei
      setzen Postliberale das große reaktionäre Verdrehen der
      Begriffe fort: Moral ist unmoralisch.
      Rechte verkaufen ihre Politik ohne Moral, indem sie
      die vermeintliche Totalherrschaft der Moral beschwö-
      ren. Und Postliberale gehen ihnen auf den Leim. Sie
      erliegen dem doppelten machtromantischen Denk-
      fehler, moralfreie Politik sei bereits auch Realpolitik und
      diese sei stets erfolgreich.
      Aber Politik ohne Moral ist noch verhängnisvoller als
      Moral ohne Politik. Das zeigen der chinesische Totalita-
      rismus, der Trumpsche Autoritarismus, der Putinsche




Zynismus. Umso dringlicher ist es daher, die liberale
Demokratie zu modernisieren und zu stärken, damit sie
sich behauptet – auch gegenüber Big Data & Big Money:
Aus dem Kapitalismus ist nämlich ein Ultrakapitalismus
geworden, der die Demokratie schwächt. Die Wirtschaft
setzt entschiedener als der Staat die neuen politischen
Rahmenbedingungen. Und die Mutter aller Deregulie-
rungen, die Freiheit des Kapitalverkehrs, war ein kolos-
saler Machtgewinn für die Unternehmen, ein kolossaler
Machtverlust für die demokratische Politik. Seitdem
zieht das Kapital woandershin, wenn Parlament und
Regierung nicht spuren.
Die neoliberale Demokratie ist dermaßen erpressbar
geworden, dass sie dies internalisiert und ihren Stolz ver-
loren hat. In vorauseilendem Gehorsam frönt sie dem
Standort- und Steuerwettbewerb, also dem Buhlen um
die Gunst von Investoren. Dabei schrumpft der politi-
sche und finanzielle Spielraum, bedrängte Menschen
aufzufangen, die im digital-globalen Umbruch zusehen
müssen, wie ihre analoge Arbeit zweitrangig, ihre Region
noch peripherer wird. Überall wächst die Furcht, dass
man selbst der Nächste ist, der von der Demokratie aus-
rangiert wird. Wer sich als Restposten vorkommt, sucht
Anerkennung bei Reaktionären. Das ist der tiefere
Grund für ihr Emporkommen.
»Gelingt es in einer liberalen Parteiendemokratie
noch, politische Handlungsfähigkeit herzustellen? Das
ist, glaube ich, die Frage, um die alles kreist«, bekannte
in einem ZEIT-Gespräch der grüne Co-Vorsitzende Ro-
bert Habeck. Damit Gestrige nicht die Zukunft kapern,
ist es vorrangig, die Demokratie zu erneuern und ak tions-
fähiger zu machen, um möglichst viele Bürgerinnen und
Bürger einzubinden, ihnen Zukunftsperspektiven zu er-
öffnen. Das ist im Kern die Antwort auf die autoritären
Reaktionäre. Doch hier haben die Postliberalen nichts
Substanzielles anzubieten. Ihr Schattenboxen gegen
Identitätspolitik und »Hypermoral« lenkt vom Wesent-
lichen ab. Gefährlicher als die Lautstärke der Reaktionä-
re ist die Schwäche vieler Demokraten. Konservative,
Liberale und Linke sollten an der Demokratie von mor-
gen arbeiten, statt sich an die Themensetzung und Rhe-
torik der Rückwärtsgewandten anzulehnen.

Roger de Weck war von 1997 bis 2001 Chefredakteur der
ZEIT und von 2011 bis 2017 Generaldirektor des Schweizer
Radios und Fernsehens. Sein jüngstes Buch »Die Kraft der
Demokratie – Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre«
ist soeben bei Suhrkamp erschienen

Mutter aller Probleme


Hämische Moralkritik, Härte statt Humanismus, im Zweifel mehr Zwang: Der Zeitgeist gibt


die liberalen Ideale preis. Über die neue Faszination für Reaktionäres VON ROGER DE WECK


Ist der


»Gutmensch«


gefährlicher als der


Brutalo?


Fotoillustration: Akatre
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