Die Zeit - 12.03.2020

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Zwei Tonnen Waffen


und kein Urteil


In einem Dorf in Schleswig-Holstein hortet ein Mann Granaten


und Maschinengewehre. Bis heute läuft er frei herum VON PAUL MIDDELHOFF


D


ie beiden Jungs waren vor
ein paar Wochen zufällig
auf die Holzkisten mit den
Mörsergranaten gestoßen.
Eigentlich wollten sie einen
Traktor aus einer nahe
stehenden Scheune klauen.
Doch hier, im Schuppen von Frederic F., finden
sie auf einem Anhänger Sprengstoff und Munition
in großen Mengen. Wenig später, als die Polizei sie
aufgabelt, erzählen die beiden von ihrem Fund.
Am nächsten Morgen durchsuchen
Beamte das Gebäude am Meierei-Platz in
Winnert, einem kleinen Dorf in Schleswig-
Holstein, in der Nähe von Husum. Die
Polizisten finden die Kisten und auch die
Granaten. Als sie hören, um wen es sich beim
Mieter der Scheune handelt, fahren sie gleich
weiter, in ein kleines Neubaugebiet am Rand
des Dorfes. Dort, im Wohnhaus von Frede-
ric F., stoßen sie auf Gewehre, Pistolen und
Revolver. Es ist nicht das erste Mal, dass die
Polizisten hier sind. Schon einmal haben sie
bei F. ein riesiges Waffenarsenal ausgehoben.
Der Fall Frederic F. fällt in eine Zeit, in
der das Land wie zuletzt nur nach den NSU-
Morden über terroristische Angriffe von
rechts diskutiert. Und er offenbart ein mas-
sives Defizit des Rechtsstaats im Umgang
mit der aktuellen Terrorgefahr.
Gut zwei Wochen nach der Durchsu-
chung in Winnert sitzt Bundesinnenminister
Horst Seehofer in Berlin vor der Presse, neben
ihm Justizministerin Christine Lambrecht
und die Chefs der deutschen Sicherheitsbe-
hörden. Seehofer stellt sich den Fragen zu den
Terroranschlägen von Hanau. Sagt, dass vom
Rechtsextremismus heute die größte Gefahr
für die Sicherheit im Land ausgehe. Und dass
er die Polizeipräsenz im Land erhöhen werde,
an den Grenzen und auch an den Flughäfen.
Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble er-
klärt kurz darauf im Bundestag: »Selbstkritik,
entschlossenes Handeln – das sind wir den Er-
mordeten von Hanau schuldig.« Seehofer, Lam-
brecht, Schäuble, sie alle geloben Wachsamkeit.
Wollen das Gefühl vermitteln, der Staat könne die
Sicherheit seiner Bürger gewährleisten, trotz allem.
Der Fund von Winnert aber erzählt eine andere
Geschichte: die eines Mannes, der tonnenweise
Waffen hortet, sie kauft und verkauft, per Post quer
durch Europa schickt – aber nicht bestraft wird.
»Als ich davon gehört habe, dachte ich, es kann
doch nicht sein, dass sie schon wieder etwas bei ihm
finden«, erzählt Jutta Rese am Telefon. Sie ist die
Bürgermeisterin von Winnert. Rese spricht mit ge-
presster Stimme und in kurzen Sätzen. Ihr ist anzuhö-
ren, wie wütend es sie macht, dass ihr Ort nun schon
wieder in den Schlagzeilen steht. Frederic F. sei ein
netter, solider Kerl, erzählen die Leute aus dem Dorf,
manchmal schiebe er eines seiner Kinder im Wagen
durchs Dorf. Man kennt sich, Winnert hat nur 730
Einwohner. Frederic F., 40 Jahre alt, arbeitet als IT-
Spezialist bei einem Unternehmen, das Windkraft-
anlagen baut. Er sei dort »gar nicht mehr wegzuden-
ken«, sagt einer, der ihn kennt. Aus den Erzählungen
klingt F. nicht wie jemand, der Sprengstoff hortet,
Maschinengewehre, Werfergranaten und Tausende

Schuss Munition. Und bei dem die Ermittler eine
Hakenkreuz- und Reichskriegsflagge finden.
Das erste Mal stoßen die Behörden im Jahr 2015
auf ihn. Das Bundeskriminalamt bekommt einen
Hinweis von Kollegen aus der Slowakei. Ein Mann
namens Frederic F. habe im Jahr 2014 mehrere
Maschinenpistolen über den Waffenversandhändler
AFG-Security gekauft. Ein Shop mit Sitz in der Stadt
Partizánske, aus dem laut Medienberichten auch die
Waffen stammen, mit denen vor fünf Jahren ein
Attentat auf einen koscheren Pariser Supermarkt

verübt wurde. Die Slowaken geben den Vorgang an
das BKA weiter, da sich die bestellten »Salutwaffen«
mit geringem Aufwand zu voll funktionsfähigen
Schusswaffen umbauen lassen. Wenig später, im Juli
2015, fahren die Ermittler zum ersten Mal nach
Winnert, zum Haus von Frederic F.
Die Bürgermeisterin Jutta Rese wohnt nur ein
paar Straßen von F. entfernt, abends geht sie mit
dem Hund an dessen Grundstück vorbei. »An dem
Tag 2015 war hier alles voller Polizei«, sagt sie. Zwei
Tonnen Waffen werden bei F. gefunden, darunter
200 Granaten, über 10.000 Patronen, mehrere
MG34, das Maschinengewehr der deutschen Wehr-
macht. Eine der Handgranaten ist so schlecht gesi-
chert, dass der Kampfmittelräumdienst sie gleich
vor Ort sprengt. »Wir Anwohner mussten alle
unsere Wohnungen verlassen«, erinnert sich Jutta
Rese. Panzerfäuste hätten auf dem Hof gelegen,
drei Lkw seien nötig gewesen, um das gesamte
Material abzutransportieren.
Die Staatsanwaltschaft Flensburg nimmt die
Ermittlungen auf. Dreimal sagt F. aus, nennt Pass-
wörter für seinen Laptop und seine Online-Konten.
Es entsteht das Bild eines wahnhaften Sammlers,
der über Jahre aus der Slowakei, Österreich und
Deutschland Waffen gekauft hat, um sie dann bei

sich in Winnert einzulagern. Erst in seinem Haus
in der Neubausiedlung Osterheck, später auch in
einer angemieteten Scheune im Ortskern. Aber F.
nennt auch Namen: die seiner Käufer. Denn mehr-
fach hat er selbst Waffen verkauft, an Sammler, wie
sein Anwalt der ZEIT sagt, per Post verschickt, teils
unter falschem Namen. 13.740 Euro hat er auf
diese Weise verdient. Er sendete Waffen nach Kor-
fu, Wien und ins saarländische Spießen-Elversberg.
Fast zwei Jahre dauert die kriminaltechnische
Untersuchung der Waffen durch das BKA. Das

Ergebnis: Zahlreiche Gewehre und Pistolen sind
voll funktionsfähig. Es handelt sich bei F.s Samm-
lung also nicht nur um ausrangierte Memorabilien.
Sondern um ein potentes Kriegswaffenarsenal.
Es ist nicht einfach zu verstehen, warum F. mit
dem Sammeln begann. Er sei kein Extremist, sagen
die Leute in Winnert. Trotz der Nazi-Flaggen, die
in seiner Scheune gefunden wurden. Auf Verbin-
dungen zu rechtsextremen Parteien oder Organi-
sationen ist auch die Staatsanwaltschaft nicht
gestoßen. Dass F. jedoch sicher kein Linker sei, im
Gegenteil, dass er eher am rechten Rand der Gesell-
schaft stehe – auch das sagt jemand, der ihn kennt.
Fest steht: Der Umgang mit Waffen, wie F. sie
hortet, ist in Deutschland strafbar und kann mit
bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. Angeklagt
ist F. wegen massiver Verstöße gegen das Spreng-
stoff- und das Kriegswaffenkontrollgesetz. Eine
politische Straftat wirft man ihm nicht vor.
Warum aber konnte F. nach dem Zwei-Tonnen-
Fund aus dem Jahr 2015 erneut Sprengstoff und
Mörsergranaten in Winnert horten? Warum saß er
nicht längst im Gefängnis oder wurde zumindest
überwacht?
Die Ermittlungen gegen F. dauerten dreieinhalb
Jahre, allein zwei Jahre brauchte das BKA, um alle

Waffen auf ihre Funktionsfähigkeit hin zu unter-
suchen. Währenddessen gab es laut den Behörden
keinen Grund, Frederic F. sicherheitshalber ein-
zusperren. Eine Fluchtgefahr sah die Staatsanwalt-
schaft nicht, weil F. in Winnert Familie hat und in
die Dorfgemeinschaft eingebunden ist. Eine Wie-
derholungsgefahr bestand formell auch nicht, denn
die gilt nur bei sogenannten Katalog-Straftaten wie
Mord oder Raub. Und da F. während der Verneh-
mungen bereitwillig ausgepackt hatte, schied auch
die sogenannte Verdunkelungsgefahr als Haftgrund
aus. So kommt es, dass F. bis vor wenigen
Wochen weitgehend unbehelligt weiter
Waffen sammeln konnte.
F. ist bis heute nicht verurteilt. Die Staats-
anwaltschaft hat ihre Ermittlungen zwar
abgeschlossen, F. musste laut seinem Anwalt
30.000 Euro für die Entsorgung der Waffen
zahlen. Aber nun stockt es bei Gericht:
Nachdem Anfang 2019 die Anklage einge-
gangen war, passierte erst einmal wenig. Weil
gegen F. nie ein Haftbefehl erlassen worden
war, befand das Oberlandesgericht Flensburg
den Fall nicht für besonders dringlich. F.s
Anwalt erzählt, es sei zwischenzeitlich sogar
eine Bewährungsstrafe für seinen Mandan-
ten in Aussicht gewesen. Darüber hätte im
Februar 2020 an zwei Terminen verhandelt
werden sollen. Doch die wurden kurzfristig
abgesagt. Das Gericht teilt mit, es habe der-
zeit mit einer »Vielzahl neu eingegangener
Haftsachen« zu tun. Diese seien »vorrangig
zu terminieren« gewesen.
Das Gericht hat also keine Zeit, um sich
mit F. und seinem Waffenarsenal zu beschäf-
tigen. Und das in einer Zeit, in der Männer
wie die Mitglieder der Terrorgruppe S. oder
der Attentäter von Halle, Stephan B., ver-
suchen, an Waffen zu gelangen, um damit
Menschen zu töten. Auch Stephan E., der
mutmaßliche Mörder des Kasseler Regie-
rungspräsidenten Walter Lübcke, suchte vor
seiner Tat nach der passenden Waffe. In seinem Fall
gehen die Ermittler davon aus, dass er die Tatwaffe,
einen Trommelrevolver des brasilianischen Her-
stellers Rossi, für 1100 Euro von einem Trödel-
händler gekauft hat – ohne dass die Sicherheitsbe-
hörden etwas davon mitbekamen. Auch die Ge-
schäfte von Frederic F. blieben lange unentdeckt.
Zwar gibt es bislang keinen Hinweis darauf, dass
Teile von F.s Sammlung je in den Händen von Neo-
nazis gelandet sind. Doch der Fall zeigt, wie schnell
Waffenhändler wie Frederic F. durch das Raster der
Bürokratie fallen können. Die Behörden und auch
das Justizministerium in Schleswig-Holstein schie-
ben die Verantwortung weit von sich – oder auf die
Kollegen.
Und noch etwas macht stutzig: Anfang Februar,
kurz nach der Durchsuchung von Frederic F.s
Scheune, schickte die Kreisbehörde Nordfriesland
ihm einen Brief. Darin steht, dass F. nun immerhin
der Besitz von legalen Waffen wie Schreckschuss-
pistolen und Luftgewehren verboten werde. Es
fehle die »erforderliche Zuverlässigkeit«. Fünf
Jahre hat es gedauert, bis die Behörden zu dieser
Einsicht kamen.

A http://www.zeit.deeaudio

vor Gericht
im Fußball

im Internet

Strafmaß für Beleidigungen

Torte der


Wa h rheit


VON KATJA BERLIN

Unterwegs in ...


Da waren wir also in Bachmut, in der Ost-
ukraine, in einem dieser typischen Hotels mit
Sowjetflair. Eine Nacht wollten wir in dieser
Stadt schlafen, in der wir zuletzt 2015 waren,
als der Krieg ziemlich nah war und die Detona-
tionen der Mörsergranaten zu hören waren.
Am Tag darauf sollte es weitergehen an die
Front. Ein Freund hatte uns unsere Schutzaus-
rüstung geschickt, die wir seit dem Kriegs-
beginn 2014 bei ihm lagern: zwei kugelsichere
Westen, dazu zwei Helme aus Kevlar. Insgesamt
also gut 25 Kilo Ausrüstung, die in einem mas-
siven Hartschalenkoffer verschlossen vor uns
lagen.
Wir waren angespannt, wir hatten Hunger, wir
wollten schnell etwas essen, bevor wir ins Bett
mussten, am nächsten Tag sollte es früh losge-
hen. Es gab nur ein sehr nerviges Problem: Wir
hatten die Zahlenkombination für das Koffer-
schloss vergessen, und die Stimmung war gera-
de im Eimer. Es gab aber auch eine Lösung. Sie
hieß Alexander.
Alexander war der freundliche Wachmann
des Hotels, in dessen Zimmer ich aus Versehen
gestürmt war, als ich den Koffer im Erdgeschoss
abstellen wollte. Alexander war Ende 30, ein
großer Mann mit einem unglaublich freundli-
chen Gesicht und gewaltiger Begeisterungsfä-
higkeit. Er sah den Koffer an. Das? Gar kein
Problem. Es sind doch nur 999 Kombinations-
möglichkeiten, ich habe Zeit!, sagte Alexander.
Und ließ nicht weiter mit sich reden.
Eine Stunde später kamen wir zurück,
schauten bei Alexander vorbei und fanden vor:
den offenen Koffer und einen strahlenden Ale-
xander. Ich konnte es nicht fassen, umarmte
Alexander, ein Foto für die Ewigkeit, viel Drü-
cken, viel »Danke« in allen möglichen Spra-
chen und das Gefühl, dass man an jedem Ort
der Welt auf großzügige, zugewandte, hilfsbe-
reite, kurzum: einfach unglaublich nette Men-
schen treffen kann.
Die richtige Kombination fand Alexander
übrigens ganz als Letztes. Der Verschluss hatte
etwas geklemmt. ALICE BOTA

Bachmut (früher Artemiwsk),
Ostukraine
Danke, Alexander

Munition und Waffen aus dem Arsenal von Frederic F., die 2015 gefunden wurden

Foto: Wolfgang Runge/dpa

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