Frankfurter Allgemeine Zeitung - 06.03.2020

(sharon) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik FREITAG,6.MÄRZ 2020·NR.56·SEITE 3


D


ie Aufregung in demViertel
Ankaras, in dem mehr Syrer
als in jedem anderenTeil der
türkischen Hauptstadt leben,
hat sichgelegt.Inden er sten beidenTa-
gennachdem PräsidentTayyip Erdogan
die Grenzen nachEuropa für offener-
klärthatte, hatten dieTaxifahrer des Ön-
der Mahallesi Dutzende junger Syrer zum
zentralen BusbahnhofvonAnkar age-
bracht.Dortnahmen sie einenFernbus
nachIstanbul,wo siewiederum einen
Bus in die Grenzstadt Edirne besteigen
wollten.
Die Taxifahrer haben einen gutenÜber-
blicküber das,wasinihremViertelge-
schieht.Denn derWegvom Önder Mahal-
lesi hinab in dasZentrum Ankaras führt
an ihremTaxistand vorbei. Nicht mehr als
150 Syrer seien dem Lockruf gefolgt,
schätzen sie. Anderebestätigen diese
Schätzung. Weggezogen sind überwie-
gend jungeMänner,alleinstehend und
ohne Familie.WerFamilie hat, scheut das
Risikoeiner illegalen Migration.
Das Önder Mahallesi istein „Klein-
Aleppo“, so wie es andernortseine „Chi-
natown“ gibt.Knapp 10 000 Einwohner
leben hier jenseits des historischen Burg-
hügels vonAnkara. Seitden sechzigerJah-
resdes vergangenen Jahrhunderts hatten
sichhier zunächstTürkenangesiedelt, die
der ländlichen Armut Anatoliens entflie-
hen wollten und ihr Glückinder Stadt ver-
suchten. Gecekondus entstanden, so nen-
nen dieTürken dieseillegal erbauten Sied-
lungen. Heutestellen Syrer mehr als zwei
Drittel der Einwohne rdes Önder Mahalle-
si,die allermeistenhat der Krieg aus Alep-
po in mehrerenWellen hierhergespült.
Gegenüber demTaxistandwachen seit
dem vergangenenWochenende an der Ein-
fahrtindas ViertelBereitschaftpolizisten.
MehrereMannschaftsbusseund ei ngepan-
zertesFahrzeug sindvonweitem sichtbar.
Sie sollen dasViert el vordem nationalisti-
schen Mob schützen. Denn der Öffnung
der Grenzendurch Erdoganvorausgegan-
genwar der schlimmsteTag fürdas türki-
sche Militär seit langem. Mindestens 36
Soldaten wurden an nur einemTagbei ei-
ner syrisch-russischen OffensiveinIdlib
getötet. Darauffiel ein aufgewühlter Mob
im Önder Mahallesi ein und machtedie Sy-
rerfür denTodder Soldatenverantwort-
lich. Seither hängt in jedem Geschäftder
Hauptstraße eine türkische Flagge.

Schön istesimÖnder Mahallesi nicht,
es wirkt wie dieFortsetzung einesstaubi-
genanatolischen Dorfes. VomFlair der
nahen Hauptstadt is tnichts zu spüren. An
der Kreuzung desTaxistands vertreiben
sichdreijungeSyrer ,die nochkeine drei-
ßig sind, dieZeit.Arbeit haben siekeine
mehr.Gearbeitethatten sie bisvorkur-
zem in den kleinen Möbelfabriken in dem
Viertelweiter unten, das denÜbergang
zu einemetwasmodernerenTeil Ankaras
bildet. Seitdem dieWirtschaftskrise auch
die Möbelindustrie erfassthat, stehen sie
auf derStraße.
Dabei hatten sie für umgerechnetledig-
lich60EuroimMonat gearbeitet.Sie wa-
renalso preiswerter als ein türkischer Ar-
beiter ,der umgerechnet150 Euroverdient
hätte. Das Risikoeiner illegalen Migration
wollen sie trotzder Arbeitslosigkeit nicht
auf sichnehmen.„Wäredie Grenze auch
auf dergriechischen Seiteoffen“, sagt ei-
ner,„dannwärenwir sicher schonweg“,
und die anderen nicken.
Wersichandie Grenze aufgemacht
habe,sei dochein Ignorant und habekei-
ne Ahnung,schimpf tIsmail. „Dieglau-
ben dochallen Ernstes, in Europa seien
die Straßen mit Goldgepflas tert,das sind
sie aber nicht.“ Ismail ist37Jahrealt und
er hat esgeschaf ft.Ersteht in seinemre-
noviertenund modern eingerichteten La-
den, den er mit seinem Bruder betreibt.
Sie backenund verkaufen diegesamtePa-
lett esyrischer Süßigkeiten, also Baklava
aller Arten, und der Strom derKäufer

reißt nicht ab. OhneAusnahme sprechen
sie Arabisch.
Im Önder Mahallesi hat Ismail sichfest
etabliert, das Geschäftflorier t. Seinnächs-
tesZiel ist, in anderenVierteln der Haupt-
stadt Filialen zu eröffnen, um dann zu ei-
ner landesweitenKette zuwerden. In An-
kara macht er nur,was er schon in Aleppo
gemacht hat.Bis der Krieg seine Bäckerei
im Jahr 2013 zerstörthat. „Wir Syrer krem-
peln aber gleichdie Ärmel hoch und ma-
chen uns an die Arbeit.“ Er und sein Bru-
der mietete ndas GeschäftimÖnder Ma-
hallesi.Auf dieTürken lässt Ismail nichts
kommen. „Das sind Effendis, anständige
Menschen.“ Es seirichtig, dassdie Türken
die Syrer nicht mit Geldverwöhnten. So
müsse man arbeiten. So wie er.
In derParallelstraße istder TürkeIbra-
him aberverbittert. Er is t52Jahrealt,
auchihn hatteeinstdie Landflucht nach
Ankaragebracht.Stolz erzählter, dasssei-
ne beidenTöchter es zu Akademikerin-
nen gebracht hätten. Er hat die Heizung
in dem weitläufigen Lebensmittelge-
schäf tausgeschaltet und sitzt mit einer
Wollmütze und einem dickenAnorak hin-
terder Kasse. Die meistenRegale sind
leer,ebensodieObstkis tenvor dem Ge-
schäf t. Seine sieben Angestellten hat er in
den vergangenenWochenentlassen,Um-
satz macht erkeinen mehr.Erwill nur
nochweg und hofft,das Geschäftzuver-
kaufen. Auch wenn er Verwandtein
Deutschland hat, will er in Ankarablei-
ben. Hier aber in dieserStraße, sagt er,sei

er wohl der letzteTürke.„UndSyrer kau-
fennur bei Syrern.“ Eine Syrerin blickt
durch die Eingangstür undgeht gleich
weiter .Dennnebenan hattevor sechs Mo-
natender Autowaschplatz „Önder OtoYi-
kama“ zugemacht.Auf dem geteerten
Platz ließ sichein Obsthändler aus Alep-
po nieder,den der Krieg 2016vertrieben
hat.AuchinAnkar atut er das,waserbe-
reits in Aleppogetanhatte. Aufdem of fe-
nen Platz und unter demWellblechdach
istObstkunstvollgestapelt, auf dem Bo-
den liegt billigeKleidung zumVerkauf.

E


swuselt vonFrauen,die in dunk-
le langeMäntelgekleidetsind
und einstrenges Kopftuc htra-
gen. Hier sind die Syrerinnenun-
tersich. Der Inhaberwehrtsichgegen
den Vorwurftürkischer Ladenbesitzer,er
betreibe unlauterenWettbewerb. Natür-
lichzahle erSteuern, und natürlichhabe
er eine Gewerbelizenz, sagt er und zeigt
auf die eingerahmten Schriftstücke, die
an derWand hängen.
Um die Ecke liegt die Grundschule.
AufeinemrotenLeuchtbandüber dem
Schuleingangsteht zu lesen: „Gott schen-
ke unserer Armee in der ,OperationFrüh-
lingsschild‘ den Sieg.“Aufdem Schulhof
rennen die Kinder hin und her.Mehr als
80 Prozent seien Syrer,bestätigt eine tür-
kischeFrau aus demViertelden Ein-
druc k. Das istdie Zukunftdes Önder Ma-
hallesi und der angrenzendenViertel.
Eine streng gekleidete Frau betritt mit ih-

remSprössling das Schreibwarengeschäft
gegenüber der Schule. Siestammtaus
Moldau und istdie Zweitfrau eines Sy-
rers.„Kuma“ nennen dieTürken eine
Zweitfrau, die es nachdem türkischen
Rechtjagar nichtgeben dürfte, die aber
den Segen des Imams hat.
IhreFamilie bewohnt ein altes Gece-
kondu-Häuschen, wie die meistenSyrer
in demViertel. Als Miete zahlen sie dafür
umgerechnet35Euro, und dieStadtver-
waltung liefertkostenlos die Braunkohle
zum Heizen. Braunkohlegeruchhängt in
der Luft.Viele illegale Gecekondus sind
in den letzten Jahren aber abgerissen und
durch moderne Häuser ersetztworden.
Mietwohnungen sind aber dreimal soteu-
er wie ein Gecekondu-Heim. Dafür sind
sie alsZeichen desFortschritts anNatur-
gasangeschlossen. Das istaber nichtkos-
tenlos, sondernziemlichteuer.Nur weni-
ge Syrerkönnen sichdas leisten.
Einigeaber haben esgeschaf ft und
sind fleißig, so wie Ismail und andereGe-
werbetreibende. Viele leben hingegen
weiterhin in prekärenVerhältnissen und
erhalten eine monatliche Geldzahlung,
die der türkischeRote Halbmond aus-
zahlt.Auchandie drei Alten, diefast den
ganzenTagauf einerPark bankverbrin-
gen. Rot-weißeKuffiyahs schützen ihre
Köpfevor demkalten Wind. Siewerden
bleiben,keine Frage. Sie wissen aber
auch:„Wäredie Grenze auchauf dergrie-
chischer Seiteoffen, sehr viele würden
vonhier gehen.“

Souve räner Auftri tt mit schelmi-
schem Lächeln–das is tdas Marken-
zeichen der britischen Innenministe-
rinPriti Patel. Aber verbirgt sichhin-
terihrem Charme ein „bösartiger“
Trieb, Mitarbeiter zu schikanieren?
Das wirft ihr PhilipRutnamvor, der
biszumWochenendederhöchsteBe-
amteimInnenministerium war. Seit
seinemRücktritt werden fast tägl ich
neue Beschwerden bekannt.Auch
aus den beiden Häusern, in denenPa-
telfrühertätig war, heißt es, sie habe
Untergebene herabgewürdigt und ein-
geschüchtert. Die LabourPartyfor-
dertPatels Rücktritt, bis die „Bully-
ing“-Vorwürfe aufgeklärtseien. In
DowningStreet wittertman hinge-
geneine hinterhältigeKampagnege-
geneine der profiliertesten Ministe-
rinnen.
Rutnam berichteteineinem Brief
an die BBC, dassPatel in ihrem Haus
Angstund Schreckenverbreite, Mitar-
beiter anschreie und „unrealistische
Anweisungen“ erteile. Er selbstsei
Opfer einer Schmähkampagne gewor-
den, dievonPatel betriebenword en
sei. Rutnam verlang tnicht nur eine öf-
fentlicheUntersuchung über dasVer-
halten der Ministerin, er willvorGe-
richtziehen,weil er vonihr in den
Rück tritt getriebenworden sei.
Viele inWestminsterbezeichnen
den Vorgang als „beispiellos“. Anders
als in Deutschlandgehörtesnicht
zum Brauch, dassneue Ministerhohe
Beamteaus politischen Gründenver-
setzen oder in denvorzeitigenRuhe-
standschicken.Nochunüblicherist,
dass in den seltenenFällen, in denen
einem „Permanent Secretary“ der
Rück zug nahegelegt wird, dieser mit
rechtl ichen Schrittenvorgeht.Der
Fall er regt aber auchdeshalbAufse-
hen, weil er das angespannteVerhält-
nis zwischen der Ministerialbürokra-
tie un dder RegierungvonBoris John-
son illustriert. Viele im „Civil Ser-
vice“ fühlen sichvonden neuenVor-
gaben aus DowningStreet missach-
tet. Dortspricht manvonveralt eten
Strukturen im Apparat und will hohe
Beamteamliebstenmit vermeintlich
dynamischeren und freier denkenden
Managertypen ersetzen.
Die Kritiker des Premierministers
sehen inPateldie Verkörperung der
Johnson-Revolution. Die in England
geboreneFrau mit Migrationshinter-
grund (ihreGroßelternwaren aus In-
dien über Uganda insKönigreichaus-
gewandert) entzieht sichden Er war-
tungen, die oftanMigrantenkinder
gerichtetsind. Patelhat ihrepoliti-
sche Karrierenicht mit dem Minder-
heitenticket be-
trieben;imGegen-
teil. Sie istkri-
tischgegenüber
ungesteuerter Ein-
wanderung und
tritt für ein hartes
Vorgehen gegen
straffällig gewor-
dene Migranten
ein. Das jüngst
vonihr vorgelegte
Einwanderungsgesetz öffnetdie Tore
für Hochqualifizierte und verschließt
sie für Einwanderungswilligeohne
Abitur.
Sie bezeichnetsichals „Thatcheris-
tin“ und wird, auchwegenihres Wi-
derstands gegendie Homoehe, dem
rechtenRand derTories zugeordnet.
2016 warsie einStar der Brexit-Kam-
pagne. Gleichnachseinem Amtsan-
tritt imvergangenen Juli trug John-
son ihr das Innenressortan, das ei-
nen Großteil der Brexit-Folgen zu be-
wältigen hat.
Regierungsfreundliche Publizisten
vermuten einenkoordiniertenWider-
stand desüberwiegend eu ropafreund-
li chen „Civil Service“, der mit der
neuen Brexit-Agenda fremdle. Der
KolumnistRod Liddlegarnierte seine
Suadagegendie linkenPatel-Kritiker
mit einemVorwurf, den diese selber
gerneerheben: DerAufruhrgegen
die indischstämmigeMinisterinsei
„ein bisschenrass istisc hund frauen-
feindlich“. Zugleichargumentierte
er,dass heuteschon von„Bullying“
die Rede sei,wenn Mitarbeiter ange-
trieben würden. Eine frühereMitar-
beiterinPatels im Arbeitsministeri-
um sollversucht haben, sich das Le-
ben zu nehmen, nachdem dieStaats-
sekretärin „Raus!“ und„Verschwin-
de!“ gesagt habe.Vorwürfe wurden
auchaus dem Entwicklungshilfemi-
nisterium laut, dasPate limNovem-
ber 2017 nacheinem Skandalverlas-
sen musste. Der hatteallerdings
nichts mit Mobbing zu tun, sondern
mit Eigenmächtigkeit.Patel hatte
„private“ Gespräche mit israelischen
Politikerngeführt, ohne die eigene
Regierung davoninKenntnis zu set-
zen. Johnsonversichert, dasserhin-
terseiner „phantastischen Ministe-
rin“ stehe. EinzelneVorwürfe will
DowningStreet nicht kommentieren,
weil Rutnam ein juristischesVerfah-
reneingeleitet habe. DasKabinettsbü-
ro kündigteinzwischen eine eigene
interneUntersuchung an.

Dertürkische PräsidentRecep Tayyip Er-
dogan hatvonder EuropäischenUnion
mehr Geldgefordert. Istdas überhaupt
nötig? Die klareAntwortdarauf lautet:
Ja. Denn die EU hat zwar erst gut die Hälf-
te der sechs Milliarden Eurofür Flüchtlin-
ge in derTürkeiausgegeben.Dochder
Rest istfestverplant, und die beiden wich-
tigstenHilfsprogramme laufen inweni-
genMonaten aus. Die EU-Kommission
setzt sichdeshalb internschon seit Mona-
tenfür eine Anschlussfinanzierung ein,
die Bundesregierung ebenso. Dochdran-
gensie damit schonvorder jüngstenEska-
lation im Verhältnis zurTürkei kaum
durch.Nun beraten die EU-Außenminis-
terbei ihremTreffeninZagreb, das am
Donnerstag begann und bisFreitag dau-
ert, wie esweiter gehen soll. Leichter ist
die Diskussion aber nichtgeworden.
Fürdie Flüchtlingeinder Türkei geht es
um eine Menge, und zwargerade für die
schwächstenvon ihnen: Kinder und beson-
dershilfsbedürftigeFamilien. Die meis-
ten, 3,6 Millionen Menschen, sind aus
dem syrischen Bürgerkrieg geflohen. Da-
vonsind 1,6 Millionen Kinder,640 000ge-
hen zur Schule–von Kindergarten und
Grundschule bis zum Gymnasium;ganz
wenigegehen einer akademischenAusbil-
dung nach. DieFamilien dieserKinder
werden seit Mitte2017 vonder Europäi-
schenUnion finanziell unterstützt.Sie be-
kommen zum Beginn jedes Halbjahres
100 türkische Lira proKind, umgerechnet
15 Euro. Je nachAlter kommen alle zwei
Monatefünf bis zehn Eurohinzu.
Das sind bescheidene Summen für uns,
nicht aber für die Empfänger.Sie decken
zum BeispielKosten, die ihnen für den
Transportzur Schule entstehen. Voral-
lem aber sind sie ein Anreiz, dassEltern
ihreKinder überhauptregelmäßig in den
Unterricht schicken–und nicht zur Ar-
beit, damit sie früh Geld verdienen.
Selbstverständlichist das nicht.Eine hal-
be Million Kinder besuchen nachAnga-
ben der EU immer nochkeinenUnter-

richt. Insgesamthat die EU seit 2017 gut
100 Millionen Eurofür dieses Programm
aufgewendet. Wiedie verantwortliche
EU-Behörde für humanitäreHilfe(Echo)
dieserZeitung bestätigte,reichen diese
Mittel aber nur nochbis September,also
für das laufende Schuljahr.Wenn es da-
nachkein frisches Geld gibt,könnten
Zehntausende Familien entscheiden,
dasssie ihr eKinder nachden Ferien zur
Arbeitschicken.

Die schlimme Erfahrungvon
Das anderebedrohteProgramm heißt „So-
ziales Sicherheitsnetz in einerNotlage“.
Es is tdas größtehumanitäreHilfspro-
gramm, das die EuropäischeUnion je-
mals aufgelegt hat. Mit 1,7 Milliarden
Euroist es zugleichder größteEinzelpos-
tender gesamten Hilfefür dieTürkei. Die
bedürftigstenund am meistengefährde-
tenMenschen–derzeit sind das 1,7 Mil-
lionen–bekommen jeden Monat umge-
rech net18Euroauf eine Kreditkarte über-

wiesen. Dafürkönnen sie Lebensmittel
und andereDingedes tägl ichen Bedarfs
kaufen. DieseForm der Unterstützung
mit kleinen Summen gilt als modern,
denn die Empfängerwerden nicht ent-
mündigt.Meistens wissen sie selbstam
besten, wassie und ihreFamilienbrau-
chen. NachAngabenvonEchoreichen
die Mittel allerdings nur noch„bis An-
fang 2021“.
Wasesbedeutet,wenn diese Artder
Unterstützungversiegt, hat Europa schon
einmal erlebt:2015. Damals half dasWelt-
ernährungsprogramm 1,7 Millionen Men-
schen, dievordem syrischen Bürgerkrieg
in dieNach barländergeflohenwaren–
ebenfalls mit Geld, das auf Kreditkarten
überwiesen wurde. Dochdann schossen
die Mitgliedstaaten kein Geld mehr nach,
und so musstendie VereintenNationen
ihreZuwendungenkürzen: Im Januar um
ein Viertel, im Frühjahr auf die Hälfte,im
Juli auf ein letztesViertel, acht Dollar im
Monat.Mehr als Zweihunderttausend
Menschen in Jordanien bekamengarkein

Geld mehr.Die Betroffenen wurden per
SMS vorgewarnt .Sie machten sichauf
den Weg, einigezurückinden Bürger-
krieg, die meistenindie Gegenrichtung.
Lieber marschieren alsverhungern–das
wardie Devise. So begann der giganti-
sche Treck Hunderttausender Menschen
nach Europa. DieVerein tenNationen hat-
tenmehrmals davorgewarnt, aber nie-
mand hörte ihnenzu.
Jetzt schaltetsichder EU-Kommissar
für Krisenmanagement ein. Der Slowene
Janez Lenarčičistgerade im Ostender
Türkei unterwegs, um dortvon derUnion
finanzierte Hilfsprogramme zu besichti-
gen. Er habe aus ersterHand gehört, wie
wichtig dieUnterstützung des Schulbe-
suchs sei,weil sie den Menschen wieder
Hoffnung für ihreZukunftgebe, sagteLe-
narčič dieserZeitung am Donnerstag,
während er sichnochinGaziantep auf-
hielt.„Wirkönnen nicht einfachdavonlau-
fen, wenn unserejetzigeUnter stützung
ausläuft. UnsereArbeit istnochnicht erle-
digt“, mahnteder Kommissar.Errief die
Mitgliedstaaten auf, „eineweiter eFinan-
zierung sicherzustellen, gerade ange-
sichts der jüngstenEntwicklungen in
Nord westsyrien“. Das istdas bisher deut-
lichs te Signal aus Brüssel, dassesson icht
weiter gehen kann.
Unddochwar die Lageschon vorder
jüngsten Eskalation imVerhältni szur Tür-
keikompliziert. AnfangvorigerWoche
drangStaatsministerMichaelRothvom
Auswärtigen Amt beimTreffender Euro-
paminister auf eineÜbergangsfinanzie-
rung für die demnächstauslaufenden Pro-
gramme. Sein Argument:Wir können
nicht daraufwarten, bis der nächste lang-
fristigeHaushaltsrahmen für die Jahre
2021 bis 2027verabschiedetist,zumal es
darübernoch jede MengeKonfliktegibt.
Außerdem wurde im laufenden Haushalt
für dieses Jahr schon eineReserve von
guteinerMillia rdeEuroeingebaut ,die da-
für genutztwerden könnte. Dochblieb
das Echo verhalten. MehrereStaaten,

Frankreich eingeschlossen,wendetenein,
man dürfe Erdogan für seine politischen
AlleingängeinSyrien nicht belohnen.Zy-
pernverlangte, erst müsse Ankaradie Öl-
und GasbohrungenvorseinerKüsteein-
stellen.Natürlic hgeht das Geld nicht an
Erdogan, sondernanFlüchtlinge.

Deutschland will den Rat einschalten
Berlin dringt weiter darauf, dassdie
Staats- undRegierungschefsbei ihrem
TreffenEnde Märzüber eineÜbergangs-
finanzierung sprechen–unter dem Pro-
grammpunkt „Sonstiges“. Mankönne da-
mit nicht mehr bis zumRatimJuni war-
ten. DieKanzlerin hat sichschon dafür
starkgemacht, derTürkei mehr Geld zu-
kommen zu lassen.AußenministerHeiko
Maas sagteamDonnerstag, bevorerin
Zagreb ankam: „Die EU mussdie An-
strengungen derTürkeibei derAufnah-
me vonFlüchtlingenund Migrantenwei-
terhin auchverstärkt finanziell unterstüt-
zen.“ EinefaireLastenteilung liegeimeu-
ropäischen Interesse. Allerdings müsse
sichErdogan wieder an den Migrations-
pakt halten.Natürlic hwill auchDeutsch-
land nicht als Landgesehenwerden, das
sichvom türkischen Präsidenten erpres-
sen lässt.
Die diplomatischeKunstbesteht nun
darin, wieder mit Erdogan in einkon-
struktives Gesprächzukommen.Noch
scheint der aber nicht dazu bereit.Anfang
der Wocheverbreiteteerschon malvor-
sorglich, eine zusätzliche Milliarde Euro
reiche ihm beiweitem nicht.Bei Licht be-
sehenstanddas freilichnicht imWider-
spruch, zu dem,wasdie Europäer anbie-
tenkönnen. Denn eineÜbergangsfinan-
zierung in dieser Höhe soll ja nur dieZeit
überbrücken, bis der nächste langfristige
EU-Haushaltsteht.Aus demkönntedann
ein viel umfangreiche resProgramm finan-
ziertwerden, vielleicht wieder drei Milli-
arden.Wieimmer das Ringen mit Erdo-
ganausgeht:Für Europageht es um mehr
als nur um Geld.

Foto dpa

Aufden Straßen Ankaras:Jungesyrische Migranten mit ihrerAusrüstung zum Schuheputzen FotoAP

Cha rme


und Schreie


Ärgerum di ebritische


Innenministerin


VonJochen Buchsteiner,


London


Kommtdie nä chste Welle,wenn dasGeldausbleibt?


Die beidenwichtigstenHilfsprogrammefür Sy rerinder Türkei enden inwenigen Monaten /VonThomasGutschker,Zagreb


Wodie Straßen nicht mit Gold gepfl astertsind


Krisenmanager aus Slowenien:Der EU-KommissarJanez Lenarčič Foto Getty/Anadolu

InmanchenVierteln


türkischer Städte prägen


inzwischen Sy rerdas


Stadtbild.Folgensie


Erdogans Lockruf, si ch


zurgriechischen Grenze


aufzumachen?


VonRainer Hermann,


Ankara


Priti Patel
Free download pdf