Süddeutsche Zeitung - 13.03.2020

(Elle) #1

An den Zitzen saugen, mit den anderen
Kleinen toben, um das erwachsene Weib-
chen herumtollen: Das Raubkatzen-Baby
tat, womit sich viele Jungtiere in seinem Al-
ter für das Leben stärken. Und doch war
das kleine Männchen eine Besonderheit in-
mitten des Wurfes Asiatischer Löwen, wie
den Wildhütern im Gir-Nationalpark im
westindischen Bundesstaat Gujarat sofort
auffiel. Als einziges Jungtier hatte es
schwarze Flecken im Fell, auch sein Körper-
bau unterschied sich von den anderen. Das
zwei Monate alte Männchen war ein klei-
ner Leopard – und offensichtlich von der
Löwenmutter adoptiert worden.
Anderthalb Monate lang beobachteten
der Nationalpark-Mitarbeiter Dheeraj Mit-
tal und seine Kollegen die ungewöhnliche
Patchwork-Familie. Teilweise sahen sie
die Löwin und ihre Jungen mehrmals am
Tag, außerdem dokumentierten Fotofal-
len das Familienleben der Raubkatzen, wie
die Autoren im FachmagazinEcosphere
schreiben.
Adoptionen über Artgrenzen hinweg
sind im Tierreich nicht die Regel, kommen
aber immer wieder einmal vor. So berichte-
ten Forscher vergangenes Jahr von einem
Großen Tümmler-Weibchen, das neben
seinem eigenem Kalb einen kleinen Breit-
schnabeldelfin aufzog. Und eine Gruppe
Kapuzineraffen nahm einen jungen Weiß-
büschelaffen bei sich auf. Derartige Bei-
spiele werfen Fragen auf: Warum adop-
tiert ein Weibchen ein artfremdes Jung-
tier? Schließlich geht es wild lebenden Tie-
ren, nüchtern gesprochen, vor allem dar-
um, ihre eigenen Gene weiterzugeben. Da-
für nehmen sie die Nachteile und Risiken
in Kauf, die mit der Aufzucht des Nach-
wuchses verbunden sind. Handelt es sich
bei den Jungen jedoch um nicht verwandte
Tiere oder nicht einmal um Vertreter der ei-
genen Spezies, investiert das erwachsene
Weibchen Ressourcen, ohne dass dies der
Verbreitung seiner eigenen Erbanlagen zu-
gutekommt.


Noch seltsamer erscheinen in diesem
Licht Adoptionen, bei denen die zwei betei-
ligten Arten miteinander konkurrieren,
wie es bei Löwe und Leopard der Fall ist.
Treffen Vertreter beider Spezies aufeinan-
der, greifen sie sich häufig an oder töten
sich sogar. Zwar hieß es bereits vor drei Jah-
ren aus Tansania, dort habe sich ein Leo-
pardenjunges einer Afrikanischen Löwin
angeschlossen. Dabei habe es sich jedoch
um keine Adoption im engeren Sinne ge-
handelt, schreiben die Autoren um Mittal,
da die beiden sich nur für sehr kurze Zeit
zusammengetan hätten.
Die mehrere Wochen dauernde Hingabe
der Asiatischen Löwin gegenüber dem klei-
nen Leoparden-Männchen nennen sie da-
her „bizarr“. Möglicherweise habe sich die
Löwenmutter des artfremden Jungen ange-
nommen, weil sie selbst noch recht jung
und unerfahren war. Der erste Wurf des
fünf oder sechs Jahre alten Weibchens war
schon kurz nach der Geburt gestorben, so-
dass die aktuellen Jungtiere die ersten wa-
ren, welche die Löwin wirklich aufzog. Viel-
leicht hätten ihre mütterlichen Instinkte
und die Hormone verhindert, dass sie das
ungewöhnlich getüpfelte Baby als art-
fremd erkannte, spekulieren die Autoren.
Alt ist der kleine Leopard dennoch nicht
geworden. Anderthalb Monate nachdem
sie die Adoption bemerkt hatten, fanden
die Park-Mitarbeiter seinen Kadaver. Äu-
ßerlich waren keine offenkundigen Hinwei-
se auf die Todesursache zu erkennen. Doch
eine Autopsie zeigte, dass das Männchen
wohl seit seiner Geburt an einer inneren
Verletzung gelitten hatte. Womöglich, so
schreiben die Autoren, hatte die Leopar-
denmutter aus diesem Grund das Jungtier
verstoßen, oder es hatte wegen seiner Ver-
letzung den Anschluss an seine eigentliche
Familie verloren. katrin blawat


von sebastian herrmann

D


as Ziel des Spiels besteht darin, die
Zahl der Verkehrstoten in die Höhe
zu treiben. Das Prinzip ist einfach:
Der Spieler lenkt ein Auto und nietet damit
Personen um, die über den Bildschirm lau-
fen. Die Entwickler von „Death Race“ leg-
ten zwar Wert auf die Feststellung, dass die
zu tötenden Figuren keine Menschen, son-
dern Zombies oder Gremlins seien. Den-
noch schlug die Empörung über das Com-
puterspiel hohe Wellen. In derNew York
Timeswarnte ein Psychiater, dass „Death
Race“ eine neue, furchterregende Qualität
habe: Der Spieler konsumiere Gewalt nicht
mehr nur wie in Filmen, er werde stattdes-
sen selbst zum Handelnden und so womög-
lich zum Enthemmten. Gewaltverherrli-
chende Spiele wie „Death Race“ könnten
zu echten Gewalttaten inspirieren, so der
Tenor der folgenden Debatte.

Das war 1976. Wer sich heute, etwa bei
Youtube, die rudimentäre Schwarz-Weiß-
Grafik von „Death Race“ ansieht, wundert
sich doch ein wenig über die damalige Em-
pörung. Autos und Figuren sind kaum als
solche zu erkennen, da ruckeln ein paar Pi-
xel über den Bildschirm. Im Vergleich zu
modernen Computerspielen wie „Grand
Theft Auto“ sieht das aus wie die verpfusch-
te Höhlenmalerei eines betrunkenen Stein-
zeitmenschen. Aber das Spielprinzip em-
pörte auch in grafischer Abstraktion, und
die Aufregung über brutale Computerspie-
le ist nicht abgeklungen: Seit 1976 wird ge-
stritten, ob das digitale Gemetzel echte Ge-
walttaten und Aggressionen fördern kann.
In der Wissenschaft galt lange als ausge-
macht, dass aggressive Computerspiele ag-
gressives Verhalten befördern könnten.
Doch diese Ansicht bröckelt etwas, aktuell
setzt sich eher das Fazit durch, dass der Ef-
fekt wohl sehr klein sei, wenn es ihn denn
überhaupt gebe – da kommt es vor allem
darauf an, wen man fragt. Gerade hat Chris-
topher Ferguson von der Stetson Univers-
ity einen Beitrag im FachblattCurrent Opi-
nion in Psychologypubliziert, in dem er Ab-
solution für Videospiele mit aggressivem
Inhalt fordert. Die vorhandene wissen-
schaftliche Evidenz belege zunehmend, so
der Psychologe, dass virtuelles Geballer so
gut wie keinen Einfluss auf wirkliches ag-
gressives Verhalten der Spieler zeige. Fer-
guson fordert Fachgesellschaften wie etwa
die American Psychological Association
(APA) auf, diesen Stand der Erkenntnis end-
lich anzuerkennen, statt auf Basis überhol-
ter Erkenntnisse die eigene Glaubwürdig-
keit zu beschädigen.
War es das also, folgt bald ein offizieller
Freispruch für Ballerspiele? Der Psycholo-
ge Ferguson vertritt seit vielen Jahren und
mit großer Überzeugung die These, dass
solche Spiele harmlos seien. Ebenso lange
führt er eine Art akademische Fehde mit
den Psychologen Craig Anderson von der
Iowa State University und Brad Bushman
von der Ohio State University, die beide mit
gleicher Vehemenz die gegenteilige An-
sicht vertreten: Computerspiele mit ge-
walttätigem Inhalt steigerten sehr wohl ag-
gressives Verhalten, sagen diese beiden
Forscher seit Jahren und vertreten damit
so etwas wie die bisher gängige Lehrbuch-
meinung.
„Das ist ein ideologisch sehr verfahre-
nes Feld“, sagt der Medienpsychologe Mal-
te Elson von der Ruhr-Universität Bo-
chum, „nicht nur in der Öffentlichkeit, son-
dern auch in der Wissenschaft.“ In einem
kürzlich erschienenen Beitrag im Fach-
blattPerspectives on Psychological Science
war sogar – nicht ganz ernst gemeint – von
einem „Krieg der Meta-Analysen“ die Re-
de, welchen die Kontrahenten austrügen.
De facto lieferten verschiedene große Meta-
Studien zur Frage nach der Wirkung ag-

gressiver Videospiele unterschiedliche Re-
sultate. Jede Seite legte quasi Ergebnisse
vor, die zu den eigenen Grundannahmen
passten. Trotzdem sollte man davon ausge-
hen, dass alle Parteien mit redlicher Ab-
sicht Wissenschaft betrieben haben und
diese Analysen nicht manipuliert haben.

„Lange Zeit war Ferguson mit seiner Hal-
tung ein Einzelkämpfer in der Psycholo-
gie, aber die Argumentation hat sich zu ei-
nem Teil in seine Richtung entwickelt“,
sagt Elson. Das Kernargument, das Fergu-
son in seinem aktuellen Beitrag anführt,
bezieht sich auf eine Reihe sogenannter
vorregistrierter Studien zum Thema, die al-
le keine Ergebnisse erbracht haben. Bei sol-
chen Studien arbeiten die Forscher bereits
einen vollständigen Plan zur Analyse der
Daten aus, bevor diese gesammelt werden,
und veröffentlichen diesen auch – sie regis-
trieren ihre Studie, bevor sie beginnen. Das
gilt als besonderes Qualitätsmerkmal,
denn dies verhindert, dass Forscher ihr Vor-
gehen im Laufe einer Arbeit verändern,
wenn sich keine signifikanten Ergebnisse
andeuten.
Etwa ein Dutzend solcher präregistrier-
ter Studien, teils mit großen Probanden-
zahlen, haben jüngst keine Hinweise dafür
erbracht, dass aggressive Computerspiele
zu kurzfristiger Aggressionssteigerung

führen. „Natürlich gibt es Studien, die ei-
nen Zusammenhang zeigen“, schreibt An-
derson, „aber sobald die Studien vorregis-
triert werden, finden sie keinen Effekt.“
Der Psychologe deutet dies als Indiz dafür,
dass in der Forschungsliteratur viele
falsch-positive Befunde enthalten seien.
„Dass diese ganzen vorregistrierten Stu-
dien keine Effekte gefunden haben, hat
mich schon etwas perplex gemacht“, sagt
Tobias Greitemeyer von der Universität
Innsbruck.
Der Psychologe hat 2014 eine Meta-Ana-
lyse zur Wirkung von Gewaltspielen publi-
ziert, die einen Effekt feststellte, wenn
auch keinen besonders großen. „Alles an-
dere würde mich aber auch nach wie vor
überraschen“, sagt Greitemeyer, „wenn je-
mand über viele Jahre, Stunde um Stunde
solche Spiele spielt, wäre es sonderbar,
wenn das keine Auswirkungen hätte.“ Die
nun gescheiterten Studien untersuchen
hingegen kurzfristige Effekte: Die Proban-
den zocken eine Weile, dann wird ihre Ag-
gression gemessen, etwa indem sie ande-
ren – echten oder hypothetischen Men-
schen – Chilisoße in ein Getränk kippen. Je
größer die Menge, desto stärker die Aggres-
sion dahinter, so die Überlegung. „So eine
Art der Aggression wird man im Alltag
kaum antreffen“, sagt Greitemeyer.
Einige Psychologen bezeichnen diese
Messinstrumente sogar als Unfug. So gese-
hen bleibt unabhängig vom Resultat einer
Studie die Frage, was sich daraus ableiten
lässt: Scheitern sie, weil die Messmetho-
den schlecht sind? Oder taugen die Metho-

den und zeigen keine Effekte? Spannend
bleibt jedoch, dass die Vorregistrierung
auf das Ergebnis wohl einen Einfluss hat.
Auch aus anderen Bereichen der Sozialwis-
senschaften ist bekannt, dass solche Stu-
dien in der Regel kleinere Effektstärken er-
bringen als nicht vorregistrierte Studien.
Wer sich zu Beginn einer Arbeit auf ein Vor-
gehen festlegen muss, schränkt seine Frei-
heit ein, die Ergebnisse an die eigenen Er-
wartungen anzupassen, ein Prozess, der
auch unbewusst geschehen kann, nicht
zwingend muss böse Absicht dahinterste-
hen. Im Fall der Computerspielforschung
steht zu Beginn meist Sorge und die Erwar-
tung einer Wirkung: Die meisten Wissen-
schaftler nähern sich der Frage also mit
der persönlichen Hypothese, dass Baller-
spiele eine negative Wirkung auf Spieler
haben müssten.

Das ist nachvollziehbar: Seit „Death Ra-
ce“ 1976 wurde die Darstellung von Gewalt
in Spielen immer realistischer und drasti-
scher. Das muss man nicht gut finden, und
es darf einen durchaus befremden, dass
Menschen in ihrer Freizeit gerne virtuelles
Blut fließen lassen. Zugleich blickt die Me-
dienwirkungsforschung auf eine lange Tra-
dition öffentlicher Panikmache. Einst gal-
ten Romane, Kreuzworträtsel, Radio, Kino-
filme oder das Fernsehen als finstere Mäch-

te, die Jugendliche in die Gewalt und Gesell-
schaften in den Abgrund trieben.
In den 1950er-Jahren hatte der US-
Psychiater Fredric Wertham großen Erfolg
mit seinem Buch „Seduction of the Inno-
cent“ (Die Verführung der Unschuldigen),
in dem er eindringlich vor der gewaltför-
dernden Wirkung von Comics warnte und
sogar den US-Senat zwang, sich damit zu
beschäftigen. Jede Epoche und jedes Land
hat offenbar ihren eigenen Manfred Spit-
zer, der wie der deutsche Psychiater publi-
kumswirksam vor der grässlichen Zerstö-
rungskraft neuer Medien warnt. Diese
Ängste speisten sich selten aus solider Wis-
senschaft, schreibt Nicholas Bowman von
der Texas Tech University in einem Beitrag
zu dem Thema, „sondern aus der Sorge
wohlmeinender Forscher, denen mehr dar-
an gelegen ist, ein neues Phänomen zu be-
grenzen, statt es zu verstehen“.
Es bleibt unübersichtlich. Haben aggres-
sive Computerspiele nun eine Wirkung
oder nicht? Wenn, dann ist sie sehr klein,
das also scheint gewiss zu sein. „Die Debat-
te müsste eigentlich darüber geführt wer-
den, ob die Effekte unwichtig oder sehr un-
wichtig sind, aber darauf hat eben nie-
mand Lust“, sagt Elson. Ein wenig drängt
sich auch der Eindruck auf, als gerate das
Thema Ballerspiele und ihre Wirkung in
der Forschung ein wenig außer Mode. Statt-
dessen stehen nun Smartphones und sozia-
le Medien im Fokus, das Gewaltthema
wird von der Suchtthematik abgelöst. Die
Sorgen bleiben, die Medien aber kommen
und gehen, so war es schon immer.

Zeigen die Studien nur deshalb
keine Effekte, weil die
Messmethoden schlecht sind?

Das Thema Ballerspiele verliert
offenbar an Popularität, nun
stehen soziale Medien im Focus

Vielleicht brachten Hormone und


Mutterinstinkte die Löwin dazu,


den Leoparden aufzunehmen


Adoptiert von


einerLöwin


Warum Wildtiere zuweilen
artfremde Junge aufziehen

Virtuelles Gemetzel


Fördern brutale Computerspiele aggressives Verhalten? Nach mehr als 40 Jahren Forschung kommen Wissenschaftler zu


einem ernüchternden Fazit: Wahrscheinlich ist die Angst stark übertrieben


Lange galt es als ausgemacht, dass
die Spiele Gewalt fördern.
Doch dieser Konsens bröckelt

(^16) WISSEN Freitag, 13. März 2020, Nr. 61 DEFGH
Vor dem „Call of Duty“-Stand auf der Computerspielmesse Gamescom 2016 in Köln drängen sich Besucher – augenscheinlich recht friedlich. FOTO: SASCHA SCHUERMANN/GETTY
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