Süddeutsche Zeitung - 13.03.2020

(Elle) #1
Helmuth Dietrich von der Agentur für Ar-
beitNürnberg ist Berufsberater an Gymna-
sien und Fachoberschulen. Er erklärt, war-
um viele Abiturienten nach den Prüfungen
noch nicht wissen, wie es bei ihnen in Sa-
chen Ausbildung weitergehen soll.

SZ: Von Frühling bis Frühsommer dauern
die Abiturprüfungen in Deutschland. Müs-
sen Abiturienten, wenn sie im Sommer
die Schule verlassen, schon wissen, was
sie beruflich machen?
Helmuth Dietrich: Natürlich entlastet das
einen sehr, wenn man schon weiß, was
man will. Idealtypisch hat sich der Schüler

oder die Schülerin bereits ausführlich in-
formiert. Er oder sie hat im Verlauf der
Oberstufe erste Ideen gesammelt, ein paar
Hochschulstandorte besucht und an Infor-
mationsveranstaltungen zu Studium und
Ausbildung teilgenommen. Diese Schüler
können dann entspannt das Abitur ma-
chen, anschließend ins Ausland fahren
und danach mit dem Studium beginnen.

Das ist aber nicht die Mehrheit.
Nein. Und jeder Mensch ist anders. Es gibt
Schülerinnen und Schüler, die wissen
lange Zeit nicht, was sie machen wollen
und kommen nach der Abifahrt zu mir,
weil sie sich für zulassungsbeschränkte
Studiengänge bewerben wollen. Für diese
ist der 15. Juli Bewerbungsschluss. Da be-
kommen dann manche Torschlusspanik.
Wir haben in Bayern im Zuge des G 8 aller-
dings beobachtet, dass es die Eltern zuneh-
mend akzeptieren, wenn ihr Kind nach
dem stressigen Abitur nicht sofort stu-
diert. Diese Schüler fangen oft erst nach
dem Abitur an, sich zu informieren.

Wann sollten Schüler damit idealerweise
beginnen?
Wir beraten die Schüler von der neunten
Klasse an. Ich weiß natürlich, dass in dem
Alter der Übergang von der Kindheit ins
Jugendlichenalter im Vordergrund steht.
Kann ich mit den Gleichaltrigen mithalten,
bin ich hip, wie finde ich meinen „Style“?
Das sind die Topthemen. Ich rate ihnen
aber, jetzt anzufangen mit der beruflichen
Orientierung. Unser Ansatz ist es, die jun-
gen Leute zu entlasten und mit ihnen erst
mal eine Struktur für ihre Interessen zu er-
arbeiten. Anfang der 2000er-Jahre dachte

man, die Abiturienten könnten sich über
das Internet selbst informieren. Tatsäch-
lich sind sie häufig überfordert, da eine
Flut an ungeprüften Informationen und
oft unseriösen Werbeangeboten auf sie ein-
prasselt.

In der Vorstellung vieler Schulabsolven-
ten verbindet sich das Abitur mit einem
folgenden Studium, so war es jahrelang.
Aber ist das noch so?
Ja, wenn ich in den Schulklassen frage, wol-

len mehr als 90 Prozent studieren. Schaut
man sich aber an, was die Abiturienten
dann tatsächlich machen, sieht man, dass
circa ein Viertel eine Ausbildung gemacht
hat, aber oft erst nach ein bis zwei geschei-
terten Studienversuchen.

Welche Ausbildungen sind denn derzeit
besonders beliebt bei Jugendlichen?
Generell beliebt sind Ausbildungen, die et-
was mit Gestaltung zu tun haben, zum Bei-
spiel Gestaltung für visuelles Marketing,
das waren früher Dekorateure. Dafür gibt
es aber relativ wenige Stellen. Auch die Aus-
bildung zum Tierpfleger ist beliebt. Was
tatsächlich am häufigsten gemacht wird,
sind kaufmännische Ausbildungen. Seit
vielen Jahren steht der Industriekauf-
mann ganz oben auf der Liste, auch Bank-
kaufmann oder Fachinformatiker sind be-
liebte Richtungen.

Die Auswahl an Studiengängen ist mittler-
weile riesig. Wie bekommen die Schüler ei-
nen guten Überblick?
Jeder Schüler bekommt in Bayern in der elf-
ten Klasse den offiziellen Studienführer
für Deutschland zum Thema Studienwahl.

Trotzdem bleibt es schwierig, sich zu orien-
tieren, aber wir können helfen. Die Berufs-
informationszentren der Bundesagentur
für Arbeit bieten viele Orientierungsveran-
staltungen zu Berufsfeldern wie Wirt-
schaft oder Medien. Da erhalten Schüler zu-
mindest Ideen, in welche Richtung es für
sie gehen könnte.

Wie könnte man ihnen die Studienaus-
wahl erleichtern?
Orientierungsangebote der Hochschulen
sind zum Beispiel ein sehr guter Ansatz.
Dort kann man testen, für welches Studien-

fach man geeignet wäre. Die Universität
Erlangen-Nürnberg zum Beispiel hat die
„Modulstudien Naturale“ eingeführt. Dort
können Studierende für ein Semester Vor-
lesungen und Übungen der Naturwissen-
schaftlichen Fakultät belegen, von der Bio-
logie über die Geowissenschaften bis hin
zur Mathematik. In diesem Format kön-
nen sich junge Menschen ausprobieren.
Das hilft bei Entscheidungen.

interview: benjamin haerdle

„Orientierungsangebote der
Hochschulen sind zum Beispiel
ein sehr guter Ansatz.“

von benjamin haerdle

S


pätestens, wenn es bei der Abitur-
feier das Zeugnis gibt, ist klar: Das Ka-
pitel Schule ist vorbei – und damit ist
auch Schluss mit den vertrauten Struktu-
ren. War der Tag in den Monaten vor den
Prüfungen angefüllt mit einem üppigen
Lernprogramm, so folgt nun für viele erst
mal das genaue Gegenteil: Freiheit – und
eine Auswahl von Ausbildungsmöglichkei-
ten, die so groß ist wie nie zuvor. Doch die
meisten Schulabgänger haben dasselbe
Ziel, zumindest laut dem Deutschen Zen-
trum für Hochschul- und Wissenschafts-
forschung (DZHW). Nach Ergebnissen der
im Jahr 2017 veröffentlichten DZHW-Stu-
die „Erwerb der Hochschulreife und nach-
schulische Übergänge von Studienberech-
tigten“ planen 74 Prozent der Abiturienten
ein Studium an einer Hochschule. Dem
DZHW zufolge haben 50 Prozent der jun-
gen Leute bereits ein halbes Jahr nach dem
Abitur eine akademische Ausbildung auf-
genommen, egal ob an einer Universität, ei-
ner Hochschule für Angewandte Wissen-
schaften, wie die Fachhochschulen nun
meist heißen, oder an einer privaten Hoch-
schule. Mit dem Studium verknüpfen sie
bestimmte Gründe: die Sicherheit, an-
schließend einen Job zu finden, gute Karri-
ereaussichten und höhere Gehälter. Doch
die Schulabsolventen haben die Qual der
Wahl: Mehr als 20 000 Studiengänge gibt


es nach Angaben der Plattform Hochschul-
kompass.de, eines Informationsportals
der Hochschulrektorenkonferenz, mittler-
weile an Deutschlands Hochschulen. „Die
Studiengänge werden immer differenzier-
ter, es werden immer mehr, und die Unsi-
cherheit der jungen Menschen nimmt
deswegen zu“, sagt die Professorin Monika
Jungbauer-Gans, Wissenschaftliche Ge-
schäftsführerin am DZHW. Nach einer Abi-
turienten-Befragung, die sie gerade aus-
wertet, wissen 17 Prozent der Abiturientin-
nen und Abiturienten nicht, was sie studie-
ren sollen – das sind drei Prozentpunkte
mehr als noch vor drei Jahren.
Helfen können dabei zum Beispiel Orien-
tierungssemester oder ein auf zwei Semes-
ter angelegtes Orientierungsstudium, das
immer mehr Hochschulen anbieten. Das
gibt es auch für bestimmte Fächergrup-
pen: „Mintgrün“, benannt nach den Mint-
Fächern Mathematik, Ingenieur- und Na-
turwissenschaften und Technik, heißt ein
entsprechendendes Programm an der
Technischen Universität Berlin, „Modul-
studien Naturale“ bietet die Friedrich-Alex-
ander-Universität Erlangen-Nürnberg an.
„Studium Mint“ heißt das Modell der
Technischen Universität München. Junge
Menschen sollen so leichter das für sie pas-
sende Fach finden. Sollten sie eines der Fä-
cher aus der Orientierungszeit fortsetzen,
können sie sich bereits absolvierte Module
anrechnen lassen. „Viele Jugendliche ha-
ben die Anforderung, dass das, was sie
später beruflich tun, kongruent zu ihrer
Persönlichkeit sein soll. Sie wollen das Ge-
fühl haben, sich nicht nur fachlich fort-
zubilden, sondern auch persönlich reifen
zu können“, sagt Ragnhild Struss, die für
Struss & Claussen unter anderem Schüler
bei der Berufswahl unterstützt.
In der persönlichen Beratung, die Stu-
dien- und Berufsberatungen wie Struss &
Claussen anbieten, kann herauskommen,
dass Abiturienten statt eines Studiums bes-
ser zuerst einen der 326 vom Bundesinsti-
tut für Berufsbildung (Bibb) anerkannten
Ausbildungsberufe beginnen sollten. Das
ist für immer mehr Schulabgänger eine Op-
tion: Waren es laut DZHW im Jahr 2008
nur 28 Prozent der Abiturienten, die ihre
Perspektiven mit einer Berufausbildung
als gut oder sehr gut einschätzten, lag der
Prozentsatz im Jahr 2018 schon bei 54 Pro-
zent. „Die Ausbildung wird wieder ge-
schätzt“, sagt Jungbauer-Gans. Als mögli-
che Gründe dafür nennt sie das Bestreben
der Regierung, die Berufsausbildung at-
traktiver zu machen, sowie die Debatte
über den Fachkräftemangel. Wer sich
nicht zwischen praktischer Ausbildung
und Studium entscheiden möchte, für den
kann das duale Studium die richtige Wahl


sein. Es verknüpft das Studium an einer
Hochschule oder einer Berufsakademie
mit Praxisphasen in einem Unternehmen.
Will man nicht gleich nach der Schule
mit einer Ausbildung beginnen, kann man
ein Gap Year einlegen. Damit lassen sich
Wartesemester bis zum Wunschstudium
sinnvoll überbrücken, denn das Gap Year
ist im Grunde kein „Lückenjahr“. Program-
me für „Work and Travel“ sind eine Mög-
lichkeit, das Gap Year zu gestalten, also
zum Beispiel Landwirten bei der Ernte
helfen, als Surflehrer arbeiten, sich in Nati-
onalparks oder für Nichtregierungsorgani-
sationen (NGOs) engagieren. Dabei geht es
weniger darum, Geld zu verdienen, als
Menschen kennenzulernen, selbständig
zu werden oder eine Sprache zu erlernen.
Je weiter weg, umso größer ist mitunter
das Abenteuer: Beliebte Ziele sind Australi-
en, Neuseeland, Lateinamerika oder Nord-
amerika. Manche schaffen es, sich schon
während Schulzeit, circa ein Jahr vor Be-
ginn des Gap Years, um die Organisation
zu kümmern. Doch nicht jeder ist so selb-
ständig, und die frühzeitige Suche nach
möglichen Arbeitgebern, das Beschaffen
einer Arbeitserlaubnis, eines Visums, ei-
ner Auslandskrankenversicherung und
passender Flüge ist nicht jedermanns Sa-
che. Deshalb gibt es mittlerweile zahlrei-
che Organisationen, die sich um diese An-
gelegenheiten kümmern und sich das aber
auch teuer bezahlen lassen.

Für die USA und Kanada kann diese
professionelle Hilfe wichtig sein, weil die
Visaformalitäten sehr kompliziert sind.
Bei „Work and Travel“ in Südamerika,
Asien oder Afrika ist die Einreise mit dem
Touristenvisum häufig einfacher, aller-
dings werden viele Freiwilligenprojekte
von Anbietern koordiniert, bei denen man
sich rechtzeitig anmelden muss. Leichter
sind solche Programme in Australien oder
in Neuseeland sowie in Europa zu organi-
sieren.

„Wenn das, was junge Menschen wäh-
rend des Gap Years tun, der Persön-
lichkeitsentwicklung dient, ist das sehr
sinnvoll. Nur Party zu machen, ist nicht
besonders zielführend. Doch Erfahrungen
durch Praktika, im Bundesfreiwilligen-
dienst, mit Work and Travel, im Sprach-
unterricht und fachlich vorbereitenden
Kursen oder als Au-pair sind eine Be-
reicherung“, sagt Berufsberaterin Struss.
„Werden die jungen Menschen dadurch
mutiger, selbständiger, offener oder ist
der Aufenthalt in einem anderen Land
mit dem Lernen einer neuen Sprache
verbunden, ist das von Vorteil“, stellt sie
fest.

Beliebt sind nach wie vor Au-pair-Stel-
len im Ausland. Dabei leben die Abiturien-
tinnen – es gibt nur wenige junge Männer,
die als Au-pairs im Einsatz sind – in einer
Gastfamilie und kümmern sich um deren
Kinder und den Haushalt. Da es immer wie-
der zu Konflikten mit der Gastfamilie
kommt, wie viele freie Abende oder Urlaub
man als Au-pair hat oder wie viel Geld man
bekommt, sollte man diese Frage vorab in
Zusammenarbeit mit einem professionel-
len Anbieter klären. Deutsche Au-pair-
Agenturen haben das RAL-Gütezeichen
entwickelt, das für hohe Qualitätsstan-
dards sorgen soll, und dabei helfen kann,
seriöse Vermittler zu identifizieren.
Abiturienten, die sich für den Umwelt-
schutz einsetzen wollen, können ein frei-
williges ökologisches Jahr (FÖJ) machen.
Währenddessen arbeitet man sechs bis
zwölf Monate in Natur- und Umweltschutz-
organisationen. Ähnlich strukturiert ist
das freiwillige soziale Jahr (FSJ). Dort kann
man beispielsweise im Krankenhaus, im
ambulanten Pflege- oder Sozialdienst, in
Kindergärten, Kulturvereinen oder Ju-
gendclubs arbeiten.
Einige entscheiden sich für den freiwilli-
gen Wehrdienst, der bis zu 23 Monate dau-
ern kann. Was sie daran reizt: Der Bundes-
wehr liegt viel daran, junge Leute für eine
Karriere in verschiedenen Bereichen zu ge-
winnen – sie bietet viele Aus- und Weiter-
bildungsmöglichkeiten.

DEFGH Nr. 61, Freitag, 13. März 2020 SZ SPEZIAL – LERNEN 25


Vom Hörsaal


in den Zoo


Erst nach dem Abbruch ihres Studiums entdecken
manche, dass eine Ausbildung das Richtige für sie ist

Das Internet allein taugt nicht
zur Berufswahl, weil dort zu
viele ungeprüfte Informationen
kursieren, warnt Helmuth
Dietrich.FOTO: PRIVAT

Keine Lust, im Seminar zu sitzen?
Dann wären das freiwillige soziale
und ökologische Jahr Optionen

Ein bisschen Bio,


ein bisschen Mathe


Die meisten Abiturienten streben


ein Studium an, sind sich aber unsicher,


welches Fach sie wählen sollen.


Deshalb haben einige Hochschulen spezielle


Orientierungs-Programme aufgelegt


Abitur,

was

dann?

Im Schnupperprogramm


absolvierte Module lassen sich


aufs Studium anrechnen


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