Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1
DIE ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR


ZEIT, ABSCHIED ZU NEHMEN DEUTSCHE BANK

Großbritannien war stets nur halb europäisch – und wird es bleiben.
Der Brexit ist kein Unglück, er sollte Ansporn sein VON JAN ROSS

Sigmar Gabriels Benennung in den Aufsichtsrat spricht weniger gegen
ihn als gegen das größte deutsche Kreditinstitut VON LISA NIENHAUS

Genug geheult Politischer Kredit


E


rschöpft, aber unversöhnt lässt
Europa an diesem Freitag den Bre­
xit über sich ergehen. Viele auf dem
Kontinent sind erleichtert, dass mit
dem förmlichen Ausscheiden des
Vereinigten Königreichs aus der EU
das ärgste Gewürge ein Ende hat – doch die bri­
tische Entscheidung selbst kommt ihnen so när­
risch oder verheerend vor wie am ersten Tag. Auch
ein Unterton von Gekränktheit ist unverändert
herauszuhören. In dieser Lage lohnt es sich, einen
Schritt zurückzutreten und die Sache mit etwas
kälterem Blut zu betrachten.
Großbritannien ist immer ein halb europäi­
sches Land gewesen, als Seefahrtsnation, Kolo­
nialmacht und seit dem Zweiten Weltkrieg als
privilegierter Verbündeter der Vereinigten Staa­
ten. Es war halb draußen, solange es der EU
angehörte, mit einer langen Geschichte von Aus­
nahmeregelungen und bremsenden Sonder­
voten. Es wird halb drinnen sein, wenn es die
EU verlassen hat, in einer »ehrgeizigen, breiten,
tiefen und flexiblen Partnerschaft«, wie Briten
und Europäer sie erklärtermaßen anstreben. So
gesehen ist der Brexit keine Katastrophe, son­
dern schlicht ein Ausdruck der Normalität im
britisch­europäischen Verhältnis. Keineswegs
der einzig denkbare (die bisherige innerlich dis­
tanzierte EU­Mitgliedschaft war auch einer),
aber ein durchaus möglicher und plausibler.

Großbritannien ist keineswegs so
marktradikal, wie die EU glaubt

Die größte konkrete Sorge auf dem Kontinent
geht dahin, dass die Briten den Europäern in
Zukunft als Wirtschaftsstandort unfaire Kon­
kurrenz machen könnten, durch Steuerdumping
oder laxe Regulierung. Diese Befürchtung wirkt
doppelt übertrieben. Zum einen verkennt sie die
Natur der britischen Gesellschaft: Sie ist keines­
wegs so markt­ und wettbewerbsgläubig wie
etwa die amerikanische; der Wohlfahrtsstaat
(verkörpert im fast kultisch verehrten öffentli­
chen Gesundheitssystem NHS) besitzt im Ver­
einigten Königreich trotz Margaret Thatchers
Radikalreformen der 1980er­Jahre eine starke,
immer noch lebendige Tradition. Großbritan­
nien wird auch nach dem Brexit schwerlich zum
entfesselten Hyperkapitalismus übergehen, son­
dern ein weithin europäisch geprägtes Sozial­
modell beibehalten.

Sofern allerdings die Briten den EU­Austritt
tatsächlich zu Liberalisierung und Bürokratieabbau
nutzen, sollte man das auf dem Kontinent nicht
bejammern oder bekämpfen, sondern davon ler­
nen. Ein bisschen freibeuterhafte Konkurrenz täte
der uniformen EU ganz gut. Bundeskanzlerin
Merkel hat kürzlich im Gespräch mit der Financial
Times überraschend brexitfreundlich bemerkt, das
Ende der Londoner EU­Mitgliedschaft könne als
»Weckruf« dienen: »Aus einem positiven Blick­
winkel betrachtet, müssen wir uns fragen, welche
unserer Regelungen richtig und gut sind und tat­
sächlich nützlich für uns.« Und welche, heißt das
natürlich, nichts taugen und abgeschafft gehören.
Für die jetzt beginnenden Verhandlungen über
das künftige europäisch­britische Verhältnis stellt
sich vor allem eine Aufgabe: Konzentration auf das
weltpolitisch Wesentliche. Wichtiger als der
Kampf um einzelne ökonomische Vorteile ist die
Kooperationsfähigkeit bei den globalen und
internationalen Fragen. Im Umgang mit Russland,
dem Mittleren Osten oder China, aber auch mit
Donald Trumps USA, haben die Union und die
Briten sehr ähnliche Interessen. Ob beim Klima­
wandel oder in der Iran­Politik, auf keinem stra­
tegisch relevanten Feld hat Premierminister Boris
Johnson bisher erkennen lassen, dass er sein Land
auf einen Anti­EU­Kurs führen will. Gegen ame­
rikanischen Druck hat die Regierung in London
gerade entschieden, den chinesischen Huawei­
Konzern am Aufbau des 5G­Netzes zu beteiligen –
ein Signal dafür, dass das Vereinigte Königreich
nach dem Brexit durchaus nicht zum Vasallen der
USA herabsinken will. Die britisch­europäische
Integration ist vorbei, die britisch­europäische
Allianz mitnichten.
Trotz mancher Schwächen und Fehler, die
gerade im Brexit­Prozess zutage getreten sind,
besitzt Großbritannien eine unschätzbare Stärke:
eine vitale, instinktive Freiheitlichkeit. Ein libe­
rales Land ist eines, in dem man weitgehend
unbesorgt gegen den Mehrheitsgeschmack ver­
stoßen kann, ob als Investmentbanker, der
unverschämt viel Geld verdient, oder als Musli­
min, die das islamische Kopftuch trägt. Mehr als
die meisten anderen Länder, auch in Europa, ist
das Vereinigte Königreich ein solches Land. Die­
se innere Liberalitätsquelle verliert die EU jetzt.
Das ist für uns auf dem Kontinent der eigentli­
che, bittere Schaden durch den Brexit.

A http://www.zeit.deeaudio

S


igmar Gabriel und die Deutsche
Bank, sie sind das Skandalpaar der
Woche. Seit bekannt wurde, dass der
ehemalige SPD­Chef in den Auf­
sichtsrat der Bank einziehen soll,
haben die beiden in Deutschland in
Sachen öffentliche Aufmerksamkeit sogar Harry
und Meghan den Rang abgelaufen.
Dabei ist die Verbindung erst einmal eine
glückliche: Sigmar Gabriel und die Deutsche Bank
passen zu ein an der. Beide haben schon bessere
Zeiten gesehen. Beide versuchen, nach einem
Absturz wieder auf die Beine zu kommen. Wieso
sollten sie sich dabei nicht gegenseitig stützen?
Zumal Gabriel etwas von Wirtschaft versteht und
rechtlich auch nichts dagegenspricht.
Die Personalie ist also folgerichtig. Doch
genau das ist das Problem. Wenn an diesem
Donnerstag die Deutsche Bank in Frankfurt ihre
Zahlen fürs vergangene Jahr präsentiert, wird
deutlich werden: Die schlechten Zeiten sind
noch nicht vorbei. Analysten erwarten, dass für
das Jahr 2019 wieder Verluste verkündet werden.
Der Umbau, den Vorstandschef Chris tian
Sewing – richtigerweise – vorantreibt, ist teuer.
Ob er am Ende gut ausgeht, weiß bislang keiner.

Sigmar Gabriel und die Deutsche Bank
haben viel gemeinsam – vielleicht zu viel

Die Personalie Gabriel ist in diesem Zusammen­
hang ein Symptom für eine tiefer liegende Mi­
sere: Der Deutschen Bank geht es offenbar so
schlecht, dass sie sich in der Nähe der Politik
sicherer fühlt. Ja, dass sie die Nähe der Politik
sogar sucht. Als eine Art Versicherung gegen den
eigenen Untergang – ob der nun darin besteht,
dass ein ausländischer Konkurrent die Bank
schluckt oder dass sie sich selbst in die Bedeu­
tungslosigkeit schrumpft. Gabriel personifiziert
in dieser Deutung die Verbindung zwischen
Poli tik und Bank. Politiker oder ehemalige Poli­
tiker im Aufsichtsrat kennt man sonst aus Unter­
nehmen, die in Teilen oder ganz dem Staat
gehören: Volkswagen, die Deutsche Bahn, der
Energiekonzern RWE. Oder aus Firmen, die der
Politik zumindest sehr nahestehen.
Einst hat die Deutsche Bank in der tiefsten
Krise zwar die indirekte Hilfe des Staates – etwa
die Garantie der Spareinlagen – gern angenom­
men, aber direkte Staatshilfen stolz zurückgewie­
sen. Könnte es sein, dass sie sich jetzt sogar heim­

lich nach direktem Einfluss sehnt? Die Stim­
mung muss jedenfalls mies sein, wenn es ausge­
rechnet den Anteilseignern der Deutschen Bank
logisch erscheint, einen ehemaligen Politiker in
den Aufsichtsrat zu holen. Dazu noch einen von
der SPD, einer Partei, der Banker traditioneller­
weise nicht übermäßig zugeneigt sind. In der
Not macht man die seltsamsten Kompromisse.
Das alles ist für die Bürger dieses Landes kei­
nesfalls egal. Denn die größte deutsche Bank
zeigt mit der Personalie, was sie gut elf Jahre
nach der Finanzkrise von 2008 stärker denn je
ist: eine politische Bank. Schon im vergangenen
Jahr ging es in eine ähnliche Richtung, als sie
beinahe mit der teilstaatlichen Commerzbank
fusionierte. Das SPD­geführte Finanzministe­
rium setzte sich für diesen Plan ein, obwohl die
wirtschaftliche Logik nicht überzeugte. Erst
nach öffentlichem Protest scheiterte er. Ein Poli­
tikum ist die Bank zudem, weil sie seit Jahren
dahinsiecht, aber »too big to fail« ist – zu groß, als
dass der Staat sie pleitegehen lassen könnte.
Eine politische Bank war allerdings genau
das, was man nach 2008 verhindern wollte. Eine
der damaligen Lehren lautete: Staat und Banken
müssen entflochten werden, wenn man vermei­
den will, dass Krisen künftig so tief werden, dass
am Schluss der Staat einspringen muss. Denn es
war die jahrelange implizite Staatsgarantie – die
Annahme, der Staat werde die Banken schon
raushauen –, die viele Banker erst dazu verleitet
hat, hochriskante Geschäfte zu tätigen.
Nie wieder solle der Steuerzahler eine Bank
retten müssen, sagten Politiker recht einig nach


  1. Gabriel bekräftigt das heute. Allerdings
    gibt es hier eine Voraussetzung: dass man dafür
    etwas tut – in den Banken und seitens der Poli­
    tik. Die Deutsche Bank muss dringend ihr
    Geschäftsmodell solider aufstellen, was sie reich­
    lich verspätet auch versucht. Die Politik muss
    Abstand halten, aber in der Not auch Änderun­
    gen erzwingen. Ausgerechnet in Deutschland ist
    das bisher nicht gelungen.
    Man kann Gabriel also nicht vorwerfen, dass
    er den Aufsichtsratsposten interessant findet.
    Womöglich macht er sich dort sogar gut. Man
    sollte die Personalie aber als Symptom für eine
    Misere erkennen, der das Land sich dringend
    intensiver widmen muss. Sonst heißt es nach der
    nächsten Krise wieder: Nie wieder.


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Der


unsichtbare


Fe i nd


Ein neues Virus versetzt China in Panik –


nun ist es auch hier. Ist die Angst


übertrieben? Und was können Forscher


und Ärzte gegen den Erreger tun?


WISSEN

Titelbild [M]: Getty Images; dpa (Mikroskopische Aufnahme des Coronavirus); illustrativ bearbeitet von Andrea Drewes für DIE ZEIT

CORONAVIRUS


Das Hofbräuhaus erhielt dieser
Tage aus Maryland (USA) ein Pa­
ket, darin ein Bierkrug und das Ge­
ständnis einer gewissen Celeste:
»Ich habe diesen Krug im Sommer
1965 aus Ihrem Haus gestohlen, als
ich jung, wild und rücksichtslos
war.« An der nunmehr etwas älte­
ren Dame muss die Reue 55 Jahre
lang erfolgreich genagt haben.
Schon Schiller wusste: Der Rausch
ist kurz, die Reu ist lang. GRN.

Späte Reue


PROMINENT IGNORIERT

Kl. Bilder (v.o.): Bloomberg/Getty Images; Alex
Jackson/Shutterstock; Theo Klein/BILD

Gegen Alice


Weidel tweeten?


Er würde


es wieder tun


Wie politisch darf ein
Siemens­Chef sein?
Joe Kaeser gibt Antwort

Wirtschaft, Seite 21

IN DEN


SCHNEE


Stadt, Land, Berg –
wo der Winter am
schönsten ist.
Neue Reise­Serie
Entdecken, Seite 66e 67

Wie war Ihr


Jahrhundert?


Zu Besuch beim
98 ­jährigen Autor
Georg Stefan Troller

ZEITmagazin, Seite 14

PREISE IM AUSLAND:
DK 58,00eFIN 8,00eE 6,80e
CAN 7,30eF 6,80eNL 6,00e
A 5,70eCH 7.90eI 6,80eGR 7,30e
B 6,00eP 7,10eL 6,00eH 2560,

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