Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1

RECHT & UNRECHT



  1. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6


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Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT

U


nsere Putzfrau war in Rente ge-
gangen, den Aktenstaub sollte
fortan eine Reinigungsfirma
entsorgen. Zwei junge Männer
wuselten am Morgen durch
den großen Strafgerichtssaal,
offenbar in der Annahme, neu-
trale Rechtsprechung erfordere strikte Sterilität wie
bei einer Herzoperation. Kurz vor Verhandlungs-
beginn ruft mich die Protokollantin an: »Hier
kann man nicht verhandeln. Die Luft ätzt einem
die Bronchien weg.« Ortstermin mit Anklage und
Verteidigung: im Saal ein Geruch aus hochkonzen-
triertem Reinigungsmittel mit Zitronenaroma. Ich
bin bereit, den Verhandlungstermin aufzuheben;
Staatsanwalt und Verteidiger schlagen vor, eine
halbe Stunde zu lüften und dann zu entscheiden.
Nach einer halben Stunde ist der Duft noch pe-
netrant, ätzt aber nicht mehr. Also verhandeln wir,
eine Serie von räuberischen Diebstählen in einem
Einkaufszentrum. Erste Zeugin ist die Leiterin
einer Filiale der Parfümeriekette Douglas. Die Ver-
nehmung ist be endet, am Richtertisch wartet sie
auf ihren Entschädigungsbeleg. Da drängt es den
Verteidiger, Rechtsanwalt Barke, seinen forschen
Fragen einen jovialen Abschluss zu geben: »Wenn
Sie als Fachfrau mal Ihre Nase in die Luft halten,
können Sie den Duft erkennen?« Die Parfümerie-
beraterin reckt ihre Nase nach oben und sagt: »Ich
rieche nüscht.«
Ich rieche nichts. Eindrucksvoller war déforma-
tion professionelle bislang nicht zu erleben. Es ist,
als würde der Richter bekennen – ich glaube
nichts. Nicht mehr. Meine Offenheit ist erschöpft.
Dieser Saal ist aus Beton gebaut, damit sich Balken
nicht biegen können. Jede Geschichte aus dem
Mund eines Angeklagten ist per se eine Lüge, die
es durch die Beweisaufnahme zu widerlegen gilt.
Monate zuvor. Es ging um ein Allerweltsdelikt,
Straßenverkehrsgefährdung durch Alkohol. Der
Pkw des Angeklagten hatte sich zu nächtlicher
Stunde einer Polizeistreife mit Schlangenlinien
aufgedrängt. Er gerät auf die Gegenfahrbahn, pas-
siert eine rote Ampel, ignoriert Blaulicht und Mar-
tinshorn, touchiert den Bordstein, weicht knapp
einem Straßenbaum aus. Die Polizisten beweisen
leichtsinnigen Heldenmut und versperren mit
dem Streifenwagen die Weiterfahrt.
Bei der Blutentnahme gibt der Angeklagte sein
Körpergewicht und seine Größe korrekt an. Der
Arzt notiert, die Sprache sei verwaschen, der
Denkablauf verlangsamt, das Bewusstsein aber
klar. Der Angeklagte scheint ihm deutlich bis stark
unter Alkoholeinfluss zu stehen, möglicherweise
auch unter Drogeneinfluss. Nein, sagt der Mann,
er leide unter chronischer Bronchitis und habe nur
ein Asthma-Spray benutzt. Die Blutprobe ergibt
2,69 Promille und keinerlei Drogenrückstände.
Gegen den Strafbefehl legt der Angeklagte Ein-
spruch ein. Gleichwohl deutet nichts hin auf eine
Überraschung in der nun notwendigen Haupt-
verhandlung. Der Mann erscheint mit einer orts-


ansässigen Rechtsanwältin. Sie ist tadellos beleu-
mundet. Mit jeder Minute, in der sie fortan die
Einlassung des Angeklagten vorträgt, wird die Ah-
nung größer, wie sie mit dem Mandanten um diese
Einlassung gerungen haben muss. Ich habe vor
Gericht einen Ruf zu verlieren, wird sie ihm gesagt
haben. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn
mit dieser Geschichte verliere, ist relativ hoch.
Ronald P.* ist 34 Jahre alt. Eine Woche vor der
Tatnacht habe er über Face book seinen leiblichen
Vater ausfindig gemacht. Am Vortag habe er ihn
kennengelernt. Er sei mit der S-Bahn nach Berlin
gefahren, habe den Vater getroffen, mit ihm Zeit
verbracht, einen Döner gegessen und einige Biere
getrunken. Das Bezahlen habe sein Vater ihm
überlassen. In die Wohnung des Vaters habe man
später einen Kasten Bier mitgenommen, immer-
hin kein Billigbier, wie vom Vater vorgeschlagen.
Die Wohnung habe nach Hund gerochen. Es sei
alles eine ziemliche Enttäuschung gewesen.
Gegen 18 Uhr schon habe er sich mit der
S-Bahn auf den Heimweg gen Norden begeben.
Sein Bruder, mit dem er sich telefonisch über den
Vater habe austauschen wollen, sei daran wenig in-
teressiert gewesen. So habe er auf dem Fußweg zu
seiner Wohnung in einem italienischen Restaurant
Station gemacht und sich ein Bier bestellt. Dort sei
er ins Gespräch mit drei Leuten am Nachbartisch
gekommen und schließlich zu ihnen gewechselt.
Gemeinsam habe man ein Trinkspiel gespielt. Der
Verlierer jeder Spielrunde habe ein Glas Wodka
austrinken müssen. Dies sei das Letzte, woran er
sich erinnern könne. Das Erste sei, dass er von
Poli zisten aus seinem Auto gezerrt und in einen
Funkstreifenwagen gesetzt wurde.
Wie aber, nachdem Sie volltrunken beim Ita-
liener raus sind, frage ich P. nun direkt, sind Sie
ans Lenkrad Ihres Autos geraten?
Die Wagenschlüssel lagen zu Hause. Der Rover
stand in der Tiefgarage. Die Ausfahrt ist schon
nüchtern nicht ganz einfach. Das Auto hat nicht
mal eine Schramme davongetragen. Die Erklärung
ist: Ich bin Schlafwandler.
An der Stelle muss man sich als Richter ent-
scheiden, wie die Hauptverhandlung weitergehen
soll. Ob man lacht, wie über eine gute Pointe, und
die Beweisaufnahme schließt. Gar nicht so selten
sollen originelle Ausreden vor Gericht zu Straf-
rabatt führen. Ob man beleidigt reklamiert, mit
welchem Quatsch einem hier kostbare Zeit ge-
stohlen wird. Die Beweisaufnahme gleichfalls
schließt; Strafverschärfung wird sich leider – we-
nigstens offiziell – nicht begründen lassen. Ange-
klagte dürfen straffrei lügen. Oder ob man sagt:
Ich rieche zwar nüscht, halte es aber auch nicht für
ausgeschlossen, dass Somnambulismus in der Luft
liegt. Die Hauptverhandlung habe ich unterbro-
chen in der Hoffnung, aber ohne sichere Aussicht,
einen psychiatrischen Sachverständigen zu finden,
der sich mit Schlafwandeln auskennt.
Es war nicht einfach. Das schriftliche Gut-
achten umfasst schließlich 50 Seiten. Zum Erst-

Der Gutachter legt sich am Ende seiner 50
Seiten immerhin in einem Punkt fest: Die Krite-
rien für einen schädlichen Alkoholgebrauch nach
dem weltweit einheitlichen ICD-10-Code halte er
für erfüllt. Im Übrigen kommt er zu einem ty-
pischen Forensischer-Gutachter-Schluss: Ein som-
nambules Fahren kann nicht ausgeschlossen wer-
den. Komplexe motorische Handlungen wie das
kollisionsfreie Herausfahren aus der Tiefgarage
seien in diesem Zustand möglich, durchaus auch
für die Dauer einer halben Stunde. Auch die frü-
heren Episoden sprächen für einen Somnambulis-
mus, der sich stets auf eine Alkoholintoxikation
aufgesetzt habe. Allerdings, wenn er sich entschei-
den solle, halte er einen Blackout im Rahmen der
starken Alkoholisierung für wahrscheinlicher. Wie
auch immer – bei dem Angeklagten habe eine tief-
greifende Bewusstseinsstörung vorgelegen, die sei-
ne Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgehoben
habe. Aus medizinischer Sicht sei der Angeklagte
zur Tatzeit schuldunfähig gewesen.
Damit schien sich nach anderthalbjähriger Ver-
fahrensdauer offenbar erfüllt zu haben, was sich
der Mann mit seinem Einspruch gegen den Straf-
befehl erhofft hatte. Schuldunfähig. Ohne Schuld
keine Strafe. Doch was der juristisch nicht gebildete
Bürger über die vermeintlich alles entschuldende
Wirkung des Alkohols vor Gericht zu wissen
meint – und regelmäßig heftig beklagt –, war
schon immer kaum mehr als Halbwissen. Für P.
lässt sich der Ausgang des Verfahrens in einem Satz
zusammenfassen: Außer Spesen nichts gewesen.
Einer Verurteilung wegen der angeklagten vor-
sätzlichen Straßenverkehrsgefährdung steht nun
zwar der Befund des Gutachters entgegen, der das
Gericht überzeugt. Zugleich meint das Gericht
aber, dass der Angeklagte seine Zurechnungsun-
fähigkeit durch seinen exzessiven Alkoholkonsum
über viele Stunden vorsätzlich herbeigeführt hat.
Er hätte aufgrund seiner biografischen Vorerfah-
rungen damit rechnen müssen, dass Wodka bei
ihm eine neue somnambule Episode auslöst, die
für jede Torheit schlecht ist: Wer in einen Schrank
pinkelt, startet auch betrunken einen Pkw. Und
wer sich an Trinkspielen mit hartem Schnaps be-
teiligt, handelt nicht mehr fahrlässig, sondern
vorsätzlich. Der Angeklagte hat sich damit des
vorsätzlichen Vollrausches gemäß § 323 a Straf-
gesetzbuch schuldig gemacht. Diese Rechtsnorm
richtet sich gegen den Missbrauch von Alkohol
(und anderen Rauschmitteln) zur Herbeiführung
eines Zustandes mangelnder Zurechnungsfähig-
keit. Grund der Strafbarkeit ist also die Gefährlich-
keit des Vollrausches. Damit dient § 323 a StGB
dem Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die
ihr bei der unberechenbaren Wirkung des Alko-
hols auf den einzelnen Menschen drohen.
Die Strafe für den Vollrausch darf nicht schwe-
rer sein als jene, die für die im Rausch begangene
Tat – hier also die Straßenverkehrsgefährdung –
angedroht ist. Der Angeklagte ist nicht vorbestraft,
eine Geldstrafe damit üblich. Mit 60 Tagessätzen

zu je 15 Euro, insgesamt also 900 Euro, kommt
der Arbeitslose auf den ersten Blick glimpflich da-
von. In der Rechnung der Justizkasse werden aller-
dings auch die Prozesskosten stehen, die schon
wegen des aufwendigen Sachverständigengutach-
tens ein Mehrfaches der Geldstrafe betragen. Und
auch die Verteidigerin wird liquidieren. Der Ein-
spruch gegen den Strafbefehl erweist sich damit im
Nachhinein wirtschaftlich als Eigentor. Nicht zu-
letzt bestätigt das Gericht im Urteil die Entziehung
der Fahrerlaubnis. Für die Erteilung einer neuen
Fahrerlaubnis setzt es noch eine dreimonatige
Sperrfrist. Angeklagter und Staatsanwaltschaft
nehmen das Urteil an.
Somnambulismus – als ich mich nach langer
juristischer Ausbildung für meinen Beruf ent-
schied, war mir klar, dass ich nicht auf alle An-
und Herausforderungen vorbereitet war, die er
bereiten würde. Das macht nicht unwesentlich
seinen Reiz aus. Womit ich nicht gerechnet hatte,
waren die olfaktorischen Zumutungen. Wenn an
einem heißen Sommertag, in stundenlanger Ver-
handlung, ein schweißfüßiger Angeklagter – unbe-
sockt in Lederslippern – die richterliche Unbefan-
genheit via Nase atomisiert. Mein Kollege Müller
ließ einst junge Skinheads am Eingang des Sit-
zungssaales ihre Springerstiefel ablegen. Er wollte
damit pädagogisch ein Zeichen setzen. Mir war
das nicht zuletzt mit zu viel Masochismus verbun-
den. Auch ungewaschene Achselhöhlen sind
furchtbare Biotope zur Terrorisierung der Richter-
bank. Ein Schöffe brachte einst, ohne viel zu sa-
gen, hohes Tempo in den Gang der Hauptver-
handlung. Äußerlich angemessen, erschien er in
seinem alten Konfirmationsanzug. Exklusiv für
das Gericht hatte er ihn am Morgen aus seinem
mottenkugelbewehrten Kleiderschrank geholt.
Parfüm ist meist ähnlich peinsam. Schöffen, die
gleich nach der (Raucher-)Pause dem Vorsitzen-
den längere Fragen oder Anmerkungen dicht ins
Ohr flüstern, riskieren die Verhandlungsfähigkeit
des Gerichts. Mit Akten arbeiten zu müssen, die
zuvor ein kettenrauchender Staats- oder Rechts-
anwalt auf dem Schreibtisch hatte, ist gleichsam
ein biblisches Übel. Gar nicht so selten auch fühle
ich mich am frühen Verhandlungsvormittag schon
irgendwie betrunken, obwohl es morgens nur Kaf-
fee gab. Dafür reicht es, über eine Stunde die von
einem bestimmten Verfahrensbeteiligten ausgeat-
mete Luft eingeatmet zu haben. Im Falle von Al-
kohol ist die Suche nach der Emissionsquelle gar
nicht so einfach, vor dünkelhaften Fehlzuweisun-
gen sollte man sich unbedingt hüten. Die Wahr-
scheinlichkeit, dass die Ausdünstung auf eine der
anwesenden schwarzen Roben zurückgeht, ist
nicht gering.

*Name aus Datenschutzgründen geändert

Thomas Melzer ist Richter in Brandenburg.
In »Meine Urteile« schreibt er in loser Folge über
Geschichten, die hinter seinen Fällen stecken

gespräch erschien P., lese ich gleich zu Beginn, in
einem Pullover der Rockband Böhse Onkelz und
mit geflochtenen Zöpfchen, fixiert von runen-
förmigen Klemmen. Natürlich fragen sich Richter
und Gutachter, wenn sie sich auf solche Geschich-
ten einlassen, ob sie nicht grandios auf den Arm
genommen werden. Ob sie eine Story grundieren,
die bei jedem folgenden Trinkspiel den Staat und
seine Justiz prustend ins Schnapsglas bläst. Es geht
nicht anders. Die Alternative wäre schlimmer als
ein schlechter Witz.
In seiner Familie steht schon lange außer Zwei-
fel, dass P. nachts gelegentlich nicht weiß, was er
tut. In der letzten Silvesternacht sei er aus dem
Schlaf heraus durch die mütterliche Wohnung ge-
geistert und habe sich an den Abwasch gemacht.
Im September zuvor irritierte er die Eltern seiner
Freundin, als er nachts deren Haus nach einem
Base cap durchsuchte. Und vor zehn Jahren schon
soll er, zu Besuch bei einem Onkel in Dresden, zu
dunkler Stunde in einen Schrank gepinkelt haben.
Alkohol war in allen Fällen Begleiter der nächt-
lichen Eskapaden. Mehr noch, Bier erweist sich in
der psychiatrischen Exploration, und da mag P.
noch so sehr auf seinen trinkfesten Erzeuger he-
rabsehen, als sein täglich Brot. Auf vier Flaschen
beziffert er dem Gutachter die Grundration, gele-
gentlich seien es auch schon mal fünf Liter. Seiner
jahrelangen Tätigkeit im Wach- und Objekt-
schutz, später als Brandwache in der zehnten Etage
eines Luxushotels, habe das nicht entgegengestan-
den. Den Außendienst-Job bei einer Werbefirma
verlor er dann allerdings, als ihm noch in der
Nacht der Trunkenheitsfahrt der Führerschein ab-
handenkam.

Ich


rieche


nichts


Meine Urteile (VIII):
Wie Gerüche und schwindelerregende
Ausreden das Gericht
beeinflussen können VON THOMAS MELZER

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Illustration: Lea Dohle

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UND WAS SIE ÜBER DIE
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