Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1

E


s war eine traurige Nacht damals im Juni
2016, als die Mehrheit der Briten für
einen EU-Austritt stimmte. Europa war
traumatisiert. Die Befürchtung ging um,
dass andere Mitgliedsstaaten Großbri-
tanniens Vorbild folgen könnten. Die
Frage war nicht mehr, welches Land als
nächstes in die EU aufgenommen werden, sondern wel-
ches EU-Mitglied sich als nächstes für einen Austritt ent-
scheiden würde.
Besonders geschockt vom Brexit waren die Osteuro-
päer – und das nicht nur, weil Millionen von ihnen auf
der Insel arbeiten. George Bernard Shaw klagte einmal:
»Der gewöhnliche Brite hält Gott für einen Engländer.«
Die meisten Osteuropäer teilten diesen Glauben. Wie
der ungarische Philosoph, frühere Dissident und unver-
besserliche Radikale Gáspár Miklós Tamás in seinem
wunderbaren Essay »Smileys Leute« erklärt, ist der »My-
thos von England« ein wichtiger Teil der politischen Vor-
stellungswelt Osteuropas. Es ist kein Zufall, dass jeder
Marktflecken dort sein eigenes Hotel Bristol hat. Smileys
Leute (so benannt nach George Smiley, dem Inbegriff
des besonnenen und ehrenwerten britischen Spions in
den Romanen John le Carrés) waren »verführt von
Mäßigung, Pluralismus, Toleranz, von Reife«. In der
politischen Fantasie Osteuropas wussten die britischen
Eliten immer, was sie taten. Sie konnten zynisch und
eigennützig sein, dumm oder irrational aber waren sie nie.
Die Realität des Vereinigten Königreichs nach 2016
hat von diesem Mythos nicht viel übrig gelassen. Die
Osteuropäer hatten das Wesen des Britischseins immer
darin gesehen, dass »sie nicht sind wie wir«. Als der alba-
nische Ministerpräsident im Fernsehen erklärte, das Un-
terhaus erinnere ihn an das bosnische Parlament, wurde
mit einem Mal klar, wie tot der Britannienmythos war.
Für die Osteuropäer bestand ein Teil des Schocks über
den Brexit in der Erkenntnis, »dass sie sind wie wir«. So
spaltete der Brexit Großbritannien, ließ die EU jedoch
zusammenrücken.
Am erstaunlichsten an der EU nach dem Brexit ist, dass
sie zwar keine der Krisen lösen konnte, die sie auseinander-
zureißen drohten (die Finanzkrise, die russisch-ukrainische
Krise, die Migrationskrise), dass aber die Wechselwirkungen
zwischen diesen Krisen und die chaotische Realität Groß-
britanniens nach dem Brexit-Votum auf wundersame Weise
die Bedingungen geschaffen haben, die dem Staatenblock zu
überleben halfen und neue Zuversicht einflößten. Die Union
befindet sich heute in einem Zustand verwirrender Zweideu-
tigkeit, aber nicht mehr im Zustand der Verzweiflung.
Ende 2016 setzten sich anderthalb Dutzend politische
Parteien in Europa für Volksabstimmungen zum Austritt
entweder aus der EU oder aus der Euro-Zone ein. Die un-
erwartete Folge der Brexit-Erfahrung ist, dass es heute, Ende
Januar 2020, da das Vereinigte Königreich die Union tat-
sächlich verlässt, nicht eine einzige größere Partei in Europa
gibt, die offen für einen Austritt wirbt.
2016 war das britische Referendum für viele euro-
päische Nationalisten ein Bekenntnis zum Nationalstaat
und ein Misstrauensvotum gegen Europa als Imperium.
Wie ihnen allerdings nach und nach dämmerte, stimm-
ten viele Leaver nicht deshalb gegen Brüssel, weil die EU
ein Empire ist – sondern weil sie glauben, dass es nicht
ihr Empire ist. Auch sind die Nationalisten auf dem
Kontinent inzwischen zu der Einsicht gelangt, dass eine
mögliche Auflösung der EU nicht die Rückkehr zum
Nationalstaat bedeutet, sondern vielmehr einen Zerfall

der heutigen Mitgliedsstaaten nach sich ziehen könnte.
Der Brexit hat das Vereinigte Königreich ja nicht geeint,
im Gegenteil: Er hat die Gefahr, dass Schottland es ver-
lässt, noch realer gemacht.
Seit 2016 hat sich Großbritannien auf fast unvorstell-
bare Weise verändert. Es ist provinziell, orientierungslos
und irrelevant geworden. Was einmal das größte Weltreich
der Geschichte war, gleicht inzwischen eher einer aufrüh-
rerischen Kolonie. Die Ironie der kommenden Verhand-
lungen über das Verhältnis zwischen dem Vereinigten Kö-
nigreich und der EU nach dem Brexit kann keinem Beob-
achter mit Sinn für die Geschichte entgehen.
Großbritannien war in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts weithin damit beschäftigt, die Auflösung seines
Empires auszuhandeln. Es musste sich mit jungen Nationen
auseinandersetzen, die begierig darauf waren, selbst Macht
zu gewinnen, während sie gleichzeitig willens waren, mit
ihren früheren imperialen Herren über Handelsfragen zu
sprechen. Großbritannien wiederum legte Wert darauf, die
Rechte seiner in den nunmehr unabhängigen Ländern ver-
bliebenen Bürger zu sichern.
Insgesamt waren dies sehr asymmetrische Verhandlun-
gen. Londons Vorteil lag in der Überlegenheit seiner Büro-
kratie und seiner Erfahrung mit Handelsfragen. In aller
Regel agierte Großbritannien zudem aus einer Position der
Einigkeit, während seine Verhandlungspartner innerlich
gespalten und von Wunschdenken geblendet waren. Den
in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten fehlten nicht
einfach nur die Experten, sie misstrauten vielmehr dem
Beamtenapparat, den sie aus der Kolonialzeit geerbt hatten.
Wirtschaftliche Argumente spielten in ihren Entscheidungs-
prozessen nur eine untergeordnete Rolle.
In den Brexit-Verhandlungen fand sich London nun
paradoxerweise in der Position seiner ehemaligen Kolo-
nien wieder: begierig darauf, aus dem »europäischen
Reich« herauszukommen, und gezwungen, einen hohen
ökonomischen Preis für seine »Befreiung« zu bezahlen.
So wie seine früheren Kolonien zum Zeitpunkt ihrer
Unabhängigkeit verfügt das Königreich heute nicht über
genügend ausgebildete Experten, um erfolgreiche Ver-
handlungen zu führen; Neuseeland hat ihm großzügig
angeboten, ihm ein paar auszuleihen. Die Brexiteers an
der Macht misstrauen ihrem eigenen Staatsdienst, der
mit überwältigender Mehrheit für Remain gestimmt
hatte. Und viele in London befürchten, dass sich Brüssel
in den Verhandlungen mit Großbritannien so hässlich
und demütigend zeigen wird wie dieses selbst gegenüber
seinen Kolonien in nicht allzu ferner Vergangenheit. Vor
allem diese erniedrigenden Konsequenzen der britischen
Nostalgie sind dafür verantwortlich, dass sich die euro-
päischen Populisten mit der EU versöhnt haben.
Während freilich der Brexit bisher Großbritannien ge-
spalten und die EU geeint hat, könnten die Handelsgesprä-
che, die nach dem 31. Januar beginnen, genau den gegen-
teiligen Effekt haben: Sie könnten Großbritannien zu
größerer Einheit verhelfen und die vorhandenen Spaltungen
in der EU vertiefen. Boris Johnsons Strategie der Blitzkriegs-
verhandlungen (die nach seinen Vorstellungen am Ende des
Jahres abgeschlossen sein sollen) verfolgt den Zweck, maxi-
malen Druck auf die EU auszuüben (die eine mächtige,
aber langsame Maschine ist) und Trumps Washington als
Verbündeten einzuspannen, um einen besseren Deal von
Brüssel zu bekommen.
Wie Edoardo Campanella und Marta Dassù in ihrem
Buch Anglo Nostalgia behaupten, haben sich Boris Johnson
und seine Kollegen nicht deshalb für den Brexit stark-

gemacht, um Großbritannien vor der Globalisierung zu
schützen. Sie träumten vielmehr von einem neuen »globa-
len Großbritannien«, das Londons Beziehungen mit den
USA und dem Commonwealth stärken, zugleich aber auch
neue Handelsbeziehungen mit dem Fernen Osten auf-
bauen werde. Das zentrale Paradox des Brexits ist, dass die
Leave- Stim men vor allem aus dem Lager jener Briten ka-
men, die sich vor der Globalisierung fürchten, während
umgekehrt die Führer der Brexit-Kampagne darauf setzen,
dass die Entglobalisierung nur eine kurze Pause darstellen
und die Zukunft eine Freihandelswelt sein wird.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich Johnson stark vom
amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Für Johnson
war der EU-Austritt vor allem ein Misstrauensvotum gegen-
über der Fähigkeit der EU, als effektive globale Macht zu
agieren – und nicht so sehr Nostalgie für einen englischen
Nationalstaat, den es in Wirklichkeit nie gab. Obwohl
Großbritannien doppelt so viel Handel mit der EU treibt
wie mit den USA, neigt London daher dazu, die Vereinigten
Staaten für strategisch wichtiger zu halten als Europa. Auch
der Traum von einer »Anglosphäre« der englischsprachigen
Länder von Kanada bis Australien mit den USA als wich-
tigster Macht wird in London geträumt. Doch könnte
Johnsons nostalgischer Globalismus leicht Schiffbruch er-
leiden, wenn er auf die Realität einer Welt trifft, die von
Großmachtpolitikern wie Trump, Chinas Präsident Xi und
Russlands Präsident Putin bestimmt wird. Dann wird der
Brexit wie ein kollektiver Selbstmord aussehen.
Auf beiden Seiten des Kanals fantasieren viele noch
von einem »Breturn«, einer Rückkehr des Vereinigten
Königreichs in die EU. Sie verdrängen die Realität der
Londoner Scheidung von Brüssel. Stattdessen sollte es
das Hauptziel der EU sein, sicherzustellen, dass die Han-
delsgespräche mit dem Vereinigten Königreich die Bezie-
hungen zwischen beiden Seiten nicht vergiften und den
jeweiligen inneren Spannungen keine Nahrung bieten.
In einer Welt, die am wahrscheinlichsten von der Groß-
machtrivalität zwischen den USA und China geprägt
werden dürfte, bleibt Großbritannien der wichtigste
strategische Partner der EU. Ohne die militärischen Fä-
higkeiten der Briten kann die Union ihr Ziel, ein auto-
nomes Machtzentrum zu werden, niemals erreichen –
zumal angesichts wachsender Unsicherheit über die Rolle
der USA in Europa. Wenn Brüssel über die künftigen
Handelsbeziehungen spricht, sollte es nie vergessen, dass
sich Europas Beziehungen zum Vereinigten Königreich
nicht auf den Handel beschränken. In einer von nostal-
gischem Nationalismus vergifteten Welt bleibt London
der engste Verbündete der EU.
In den 1980er-Jahren machte Premierministerin Mar-
garet Thatcher die Bemerkung: »Gott trennte Großbritan-
nien vom europäischen Festland, und er hatte seine Grün-
de.« Wir können über diese Gründe nur spekulieren. Doch
während die EU in den vergangenen drei Jahren von dem
Chaos profitiert hat, das auf das Brexit-Referendum gefolgt
ist, könnte eine neue Welle des Chaos Europa nur scha-
den – besonders wenn sie mit einer Auflösung des Vereinig-
ten Königreichs einherginge.

Aus dem Englischen von Michael Adrian

Ivan Krastev ist Leiter des Centre for Liberal Strategies in
Sofia und Permanent Fellow des Instituts für die
Wissenschaften vom Menschen in Wien. Sein jüngstes Buch
ist »Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung«, Ullstein 2019
(zusammen mit Stephen Holmes)

Kollektiver Selbstmord


Ein historischer Einschnitt: Nach Jahren des Streitens und Hoffens


verlässt Großbritannien an diesem Freitag die Europäische Union


Großbritannien verlässt die
EU nach insgesamt
17.197 Tagen Mitgliedschaft

Die EU muss künftig mit
rund 14 Milliarden Euro weniger
pro Jahr auskommen

Das Bruttoinlandsprodukt
der EU schrumpft
um 2,424 Billionen Euro

Die EU muss alles dafür tun, dass London engster Verbündeter bleibt VON IVAN KRASTEV


Foto: Simon Dawson/Getty Images (o.); Videograb: AFP/Getty Images (u.)


September 2019: Der neue Premierminister kann sein Glück kaum fassen

Freude und Frust: Zwei Briten am Strand von Brighton

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  1. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6 POLITIK 5


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