Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1

Voerde im nördlichen Ruhrgebiet, 37.
Einwohner, eine Kleinstadt an der Grenze
zum Niederrhein. Zum dritten Mal ist die
ZEIT hierhergekommen, um mit Mitgliedern
des SPD-Ortsvereins über ihre Partei zu
reden. Beim ersten Gespräch 2013 ging es vor
allem um Inhalte: den Mindestlohn, um
Investitionen in Bildung, die Entlastung der
Schwächeren – und was davon man in einer
Koalition mit der CDU umsetzen könne. Das
zweite Gespräch 2018 war von Frust und
Verzweiflung geprägt: Die SPD hatte die
Bundestagswahl krachend verloren, man war
froh über das Ende der Groko und ging doch,
nach dem Ende der Jamaika-Verhandlungen,
wieder in die ungeliebte Koalition.
Nun hat die SPD zwei neue Vorsitzende. Was
denkt die Basis über sie? Und was macht den
Genossen noch Hoffnung?
Fünf Sozialdemokraten sind zum Gespräch in
einen Nebenraum des Hotels Niederrhein
gekommen. Der frühere Treffpunkt des Orts-
vereins, der Gasthof Zur Kutsche, hat dicht-
gemacht. Der Besitzer weiß noch nicht, wie es
weitergeht. Eben ganz so wie bei der SPD.


Uwe Goemann: Meine Frau hat mir heute Mor-
gen beim Frühstück die neueste Umfrage hinge-
legt. Zwölf Prozent bekämen wir, wenn nächsten
Sonntag Bundestagswahl wäre. Zwölf Prozent!
Da war mein Tag doch schon gelaufen.


Goemann, 60, ist Fraktionsvorsitzender im
Stadtrat. Seit 1976 in der SPD. Sohn aus
einer Bergarbeiterfamilie und selbst einmal
Bergarbeiter. Einer, der das Gespräch gern an
sich reißt. In jedem Fall der Emotionalste der
fünf Genossen.


Bastian Lemm: Ich bin, ehrlich gesagt, ziemlich
frustriert. Ich habe bei der Mitgliederbefragung
für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ge-
stimmt. Ich wollte kein Weiter-so. Ich wollte
nicht Olaf Scholz an der Spitze sehen, einen
Mann, der schön etabliert im Finanzministerium
sitzt und davon träumt, irgendwann Kanzler-
kandidat zu sein. Ich habe mir einen Aufbruch
erhofft, linkere Themen, eine neue Strategie, hin-
ter der sich alle Mitglieder versammeln können.
Ich sehe aber weder Aufbruch noch Strategie.


Lemm, 33, ist der stellvertretende Vorsitzende
des Ortsvereins, schnell im Kopf und schnell
mit dem Wort. Eigentlich kein Linker. 2018
hatte er noch dafürgestimmt, dass die SPD
wieder in die Groko geht. Aber seitdem hat
sich bei ihm etwas angestaut, wie sich zeigen
wird.


Stefan Weltgen: Der Frust, von dem Bastian da
spricht, ist weitverbreitet. Bei uns hat man das
Gefühl, Frau Merkel agiert in Berlin stets im
Hintergrund, und die SPD muss dafür sorgen,
dass die Groko was zustande bringt. Wir pumpen
in diesen Regierungskörper permanent frisches
Blut rein. Es ist aber unser eigenes Blut, das uns
dann fehlt. Wir werden immer schwächer, damit
die Groko überleben kann.


Weltgen, 49, ist der Chef des Ortsvereins. Ein
ruhiger, eher analytischer Mensch, der im
Gespräch immer wieder darauf hinweisen
wird, dass die Lage in Voerde doch viel besser
sei als bei den Genossen in Berlin.


ZEIT: Haben denn alle hier das Gespann Esken/
Walter-Borjans gewählt – so wie Herr Lemm?
Goemann: Nö. Ich habe Olaf Scholz gewählt.
Weil er die meiste Erfahrung mitbringt und der
Einzige ist, der auf dem Berliner Parkett bestehen
kann. Das war meine Überlegung. Leider bin ich
da voll bestätigt worden. Norbert Walter-Borjans
ist mir zu ruhig. Und bei dem, was Frau Esken
abliefert, frage ich mich immer: Gibt es denn in
Berlin gar keine Berater mehr? Bekommt man als
Vorsitzende nicht jemanden an die Seite gestellt,
der sagt: Fass diese Themen nicht an! Was aber
macht Esken? Fordert ein Tempolimit von 130!
Fragen Sie mal unsere Wähler hier, was die da-
von halten.
Tanja Kolbe: Ich habe Walter-Borjans gewählt,
den kannten wir hier vor Ort ja alle aus seiner
Zeit als Landesfinanzminister. Esken wirkte auf
mich weniger sympathisch. Aber ich wollte auf
alle Fälle jemanden an der Spitze der SPD haben,
der einen neuen Blick mitbringt und der mit
dieser ewigen Groko nichts zu tun hat.


Kolbe, 44, stammt aus einer SPD-Familie. Ihr
Vater war 20 Jahre für die Partei im Stadtrat,
nun sitzt Tochter Tanja dort.


ZEIT: Sie wollten, dass die SPD die Koalition
verlässt?
Kolbe: Nein, das nicht. Es ging mir nur um ein
Signal, dass es so wie bisher nicht weitergehen
kann.
Goemann: Aber die haben doch Wahlbetrug be-
gangen, die beiden! Die sind durchs Land gezo-
gen und haben gesagt: Wenn ihr uns wählt, dann
ist es vorbei mit der Groko! So haben sie sich die
Mehrheit gesichert! Sie haben etwas versprochen,
das sie gar nicht erfüllen konnten! Allein können
die beiden das nämlich gar nicht entscheiden. Ob
es mit der Regierung weitergeht, entscheidet die
Fraktion. Und hat irgendjemand noch mal was


gehört vom Ende der Groko, seitdem die beiden
nun Vorsitzende sind? Ich nicht!
ZEIT: Herr Goemann, bei unserem letzten Tref-
fen vor zwei Jahren, als sie hier darüber diskutier-
ten, ob die SPD noch einmal in die Groko soll,
sagten Sie: »Die Leute wollen Stabilität, Sicher-
heit. Wenn die Sozialdemokraten das verweigern,
gehen wir unter. Deswegen gehen wir in die
Groko. Und wir werden uns in einer Mischung
aus Erfahrung und jüngeren Leuten stabilisieren.«
Wirklich funktioniert hat das ja nicht, oder?
Goemann: Das Land hat sich stabilisiert, aber die
SPD nicht. Und das liegt daran, dass wir zwar

viele gute Sachen in der Regierung umsetzen,
aber nicht genug darüber reden.
Weltgen: Das stimmt nicht, Uwe! Wir reden
doch ohne Ende über das, was wir machen. Aber
die Leute wollen uns nicht mehr zuhören. Und
warum? Weil die in Berlin in einer typischen
Politsprache reden, die bei den Menschen nicht
ankommt. Der Robert Habeck macht das besser.
Als der neulich in Davos die Trump-Rede zerlegt
hat, kamen hier alle an und sagten: Boah, so muss
man das machen! Aber wenn du in einer Regie-
rung bist, musst du Rücksicht nehmen, und dann
kommen halt die üblichen Floskeln. Die aber
haben die Leute satt. Und ich kann das verstehen.
ZEIT: Nun gehören die beiden neuen Vorsitzen-
den nicht zur Regierung. Was hat sich verändert,
seit sie im Amt sind?
Weltgen: Nichts. Das hat heute Morgen auch
meine Frau gesagt, als ich sie genau das gefragt
habe. Man merkt nichts, sagte sie.
Lemm: Was haben wir bekommen? Ein Sammel-
surium an unabgestimmten Vorschlägen, die alle
verpuffen. Mehr kann man sich nicht blamieren.
Kolbe: Die haben am Anfang einfach viel zu viel
auf einmal gefordert.
Lemm: Dabei sind das ja keine politischen Neu-
linge. Gerade weil sie nicht in der Regierung sind,
habe ich erwartet, dass sie mal die Vollausfälle in
der Regierungstruppe der Union aufs Korn neh-

men: den Verkehrsminister, den Wirtschaftsmi-
nister, auch die Verteidigungsministerin. Aber da
kommt nichts. Stattdessen erhalten sie auf alles,
was sie sagen, ein verheerendes Echo, von allen
möglichen Seiten.
Weltgen: Am Anfang haben die beiden wild um
sich geballert – und jetzt gehen ihnen die Patro-
nen aus. Sie wissen gar nicht, worauf sie noch
schießen sollen.
ZEIT: Was macht Ihnen Hoffnung?
Greta Rühl: Dass hier vor Ort ganz andere The-
men wichtig sind als im Bund und dass die SPD
in Voerde auch besser dasteht als in Berlin. Wir

haben im Herbst Kommunalwahlen. Ich glaube,
dass wir da wieder ganz vorne landen können.

Rühl, 24, ist vor zwei Jahren in die SPD ein-
getreten. Sie ist die Stillste in der Runde, aber
man sollte sie keinesfalls unterschätzen.
Immerhin ist sie auch Chefin der örtlichen Jusos.

Kolbe: Das stimmt schon, was Greta sagt, wir
sind hier in Voerde als SPD ja noch in einer ganz
angenehmen Situation. Und trotzdem kriegen
wir, wenn wir zum Beispiel mit unserem Stand
am Marktplatz stehen, die volle Breitseite der
Wut auf Berlin ab. Dann kommen die Leute und
sagen: Ist ja ganz schön, dass ihr mir jetzt ein
Blümchen gegeben habt, aber die SPD wähle ich
dennoch nicht mehr! Und wenn man dann nach-
fragt, warum, dann haben sie plötzlich keine Zeit
mehr und gehen weiter.
ZEIT: Und wenn die große Zeit der SPD einfach
vorbei ist?
Weltgen: Dazu passt aber nicht, dass wir im März
2017 in den Umfragen kurzzeitig mal bei 30 Pro-
zent standen. Es gab damals eine große Sehn-
sucht nach einer sozialeren Politik und mit Mar-
tin Schulz auf einmal auch jemanden, auf den
das projiziert werden konnte. Und diese Sehn-
sucht gibt es nach wie vor. Nur werden wir in
Berlin eben nicht als ehrliche Makler wahrgenom-

»Wie klein kann man sich machen!«


Rückkehr nach Voerde:


Zum dritten Mal


besucht die ZEIT den


SPD-Ortsverein.


Was denkt die Basis über


die neue Parteispitze? Was


macht angesichts mieser


Umfragewerte Hoffnung?


men. Weil wir die Finanztransaktionssteuer nicht
entschlossen genug vorantreiben. Und weil wir den
Mindestlohn immer noch nicht auf zwölf Euro an-
gehoben haben.
Lemm: Umweltpolitik ist auch ein hoch soziales
Thema! Ist ja schön, wenn wir demnächst alle
E-Autos fahren werden. Aber erstens muss man
sich die leisten können. Und wer in einer Miet-
wohnung wohnt, der muss auch irgendwo eine
Steckdose vor der Haustür haben.
Weltgen: Wir haben in Voerde im Stadtrat im letz-
ten Jahr den Klima-Notstand ausgerufen. Wir
hatten einen extrem heißen Sommer, richtig tro-
cken. Wir gehören neben Brandenburg zu den tro-
ckensten Regionen Deutschlands, wir haben den
Rhein vor der Haustür, und auf einmal hatte der
kein Wasser mehr. Die Schifffahrt war stark ein-
geschränkt. Nun muss man aber wissen, dass wir
gerade in einen großen Binnenhafen investieren,
sechs Kilometer von hier. Eine riesige Gewerbe-
ansiedlung, viele Arbeitsplätze sollen dort entste-
hen, man hofft auf große Gewerbesteuereinnah-
men. Und wenn das Niedrigwasser im Rhein im
Sommer zum Dauerzustand wird, dann haben wir
dort ein echtes Problem.
Goemann: Das Wort »Notstand« hat für große
Diskussionen im Stadtrat gesorgt. Kann man sich
ja vorstellen.

In Voerde ist die SPD noch Volkspartei. Bei der
Kommunalwahl 2014 erreichte sie 39,5 Prozent.
SPD-Bürgermeister Dirk Haarmann kam sogar
auf 59,1 Prozent.

Weltgen: Ein Thema hier vor Ort ist die Vereinsa-
mung der älteren Menschen, die allein in ihrer
Wohnung leben und niemand haben, der sich um
sie sorgt. Das mag in den Großstädten noch drän-
gender sein. Aber wir merken das auch. Und da
müssen wir Angebote schaffen, dass Menschen in
ihrer letzten Lebensphase, wenn sie noch aktiv sein
und am Leben teilnehmen können, dass sie da mit
einbezogen werden können.
Rühl: Von meinen Freunden – wir sind alle An-
fang bis Mitte 20 – sind einige bei den Grünen,
die meisten aber in keiner Partei. SPD zu wählen,
finden viele von ihnen uncool. Aber sie interessie-
ren sich für das, was ich mache. Wir reden fast nie
über die SPD im Bund und kaum über die im
Land. Wir reden einfach darüber, was wir in
Voerde hinbekommen wollen. Klimaschutz ist ein
Thema. Aber nicht das einzige.
ZEIT: Ist Kevin Kühnert ein Hoffnungsträger für
die SPD?
Goemann: Was Kevin Kühnert sagt und denkt, ist
nicht gut für die SPD. Das ist zu grün. Er vergrault
damit unsere Stammwähler hier.
Rühl: Als Juso-Chef muss er doch provozieren,
muss lauter sein als andere, neue Ideen einbringen.
Das ist doch seine Aufgabe. Ein Juso-Chef, der al-
lem zustimmt, was – entschuldige, Uwe – die
60-Jährigen in der Partei für richtig halten, der hat
doch seinen Job verfehlt.
Lemm: Ich teile Kühnerts Aussagen über Enteig-
nungen nicht. Aber mit seiner Grundthese, das
Vermögen in Deutschland sei ungerecht verteilt,
hat er völlig recht.
Weltgen: Aber ist das nicht verrückt, dieses Wahn-
sinns-Echo auf zwei Sätze eines Juso-Vorsitzenden?
Alle haben sich auf Kühnert gestürzt, die Medien,
der politische Gegner, ja sogar viele in der SPD.
Sie zerreißen eine Aussage in der Luft, ohne genau
hinzuschauen, was eigentlich gesagt wurde. Dieses
Übersteigerte ist für mich ein Zeichen: Es gibt, in
der Gesellschaft wie in der SPD, eine große Sehn-
sucht nach neuen Ideen – und zugleich eine noch
größere Angst vor diesen neuen Ideen.
ZEIT: Sie sehen Kühnert also positiver als Herr
Goemann?
Weltgen: Ich habe ein Problem mit seiner Biogra-
fie. Außer Politik ist da nicht viel. Und wenn je-
mand zu früh mit zu vielen Lorbeeren behangen
wird, dann kriegt der entweder einen Haltungs-
schaden oder es haut ihn komplett um.
Goemann: Früher hätte man gesagt: Dem fehlt der
Stallgeruch.
ZEIT: Der neue Co-Chef Walter-Borjans hat die
Frage aufgeworfen, ob die SPD bei der nächsten
Bundestagswahl überhaupt noch mit einem Kanz-
lerkandidaten antreten solle. Was halten Sie davon?
Weltgen: Wie klein kann man sich selber machen!
Goemann: Lieber ohne Kandidaten als mit einem
der beiden Vorsitzenden. Warum nicht Olaf
Scholz?
Lemm: Franziska Giffey!
Kolbe: Da gehe ich mit.
Weltgen: Och nee, Leute, was soll Giffey denn
noch alles werden? Regierende Bürgermeisterin in
Berlin, Kanzlerkandidatin, nächste SPD-Chefin?
Giffey ist doch kein Allheilmittel, so wie dieses ja-
panische Heilpflanzenöl, das gegen alles hilft, ge-
gen Rheuma, Husten und Heiserkeit.
ZEIT: Die SPD redet jetzt schon seit mehreren
Jahren über Erneuerung ...
Lemm: ... da sind wir groß drin!
ZEIT: Aber was ist, abgesehen von der Wahl der
beiden Vorsitzenden, neu geworden in dieser Zeit?
Weltgen: Ich hatte dieses Logo »SPD erneuern«
unter meiner E-Mail-Signatur als Ortsvereinsvor-
sitzender. Das habe ich irgendwann gelöscht. Weil
es nicht reicht, sich immer nur zu wünschen, dass
sich etwas ändert. Man braucht dann halt auch
mal eine veränderte Politik.

Das Gespräch moderierten
Marc Brost und Peter Dausend

Die Genossen vom Niederrhein: Bastian Lemm, Tanja Kolbe, Uwe Goemann, Greta Rühl und Stefan Weltgen (v. l. n. r.)

Nicht ohne unsere Gummi-Ente:
In Voerde ist die SPD-Welt noch in
Ordnung – finden sie hier im Ortsverein

Fotos: Maya Claussen für DIE ZEIT

8 POLITIK 30. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6

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