Neue Zürcher Zeitung - 27.01.2019

(Sean Pound) #1

Montag, 27. Januar 2020 RECHT UNDGESELLSCHAFT 11


Sammelklagen: Anwaltsarbeit ist keine Massenware


Wie viel kollektiver Recht sschutz bekommt einem Land?Von Sandrine Rudolf von Rohr


«Zu viel Eis im Eiskaffee» –


Schlagzeilen zu Sammelklagen


gegen Unternehmen sorgen für


Heiterkeit. Bei der Übernahme


vonRechtsinstituten aus den


USA ist aberVorsicht geboten.


Alle haben wir schon einmal denKopf
geschüttelt über Medienberichte zu
den für unserRechtsempfinden abs-
trusen Klagen, die in den klagefreund-
lichen USAregelmässig gegen Unter-
nehmen erhoben werden: zu viel Eis im
Eiskaffee bei Starbucks oder zu kurze
«Footlong-Sandwiches» bei der Sand-
wichkette Subway. Die rechtlichen
Skurrilitäten aus den USA mögen uns
erstaunen, belustigen oder langweilen.
Forderungen nach der Übernahme von
Rechtsinstituten aus den USA wurdein
Europa bisher jedenfalls zuRecht mit
Vorsicht begegnet.
Dennoch ist die EU in ihren Bera-
tungen zur Einführung einer europäi-
schen Sammelklage bereits weit fort-
geschritten. Europäische Unterneh-
men bezweifeln, dass dieserVorschlag
denVerbrauchern etwas bringt.Viel-
mehr sehen sie ein gutes Geschäft für
Anwälte und befürchten einen An-
stieg missbräuchlicherRechtsstreitig-
keiten, wenn amerikanische Anwalts-
kanzleien ihre Instrumente in Europa
einsetzen wollen. Die deutschenWirt-
schaftsverbände haben sich Ende letz-
tenJahres gegen die Einführungeiner
europäischen Sammelklage gewehrt


und sich gegenüber der Bundesregie-
rung besorgt zum neuen europäischen
Richtlinienentwurf geäussert. Die an
das amerikanischeRecht angelehnten
Sammelklageinstrumente im genann-
ten europäischen Entwurf würden
einer «ungehemmtenKommerzialisie-
rung desRechts» und der Erpressbar-
keit von kleinen und mittleren Unter-
nehmen denWeg bahnen.Damit werde
einer Klageindustrie, wie sie die USA
kennen,Tür undTor geöffnet.
Kurz vorWeihnachten hat das Han-
delsgericht Zürich eine Schadenersatz-
klage der Stiftung fürKonsumenten-
schutz gegen die VW-Importeurin
Amag und VW abgewiesen, da der Stif-
tung fürKonsumentenschutz als Klä-
gerin die Prozessfähigkeit fehle. Laut
Medienberichten geht es nicht an, dass
sich die Stiftung als «Inkassovehikel»
für rund 60 00 Autobesitzer zurVer-
fügung stellt. Sie gehe damit ein erheb-
liches Risiko ein, das durch ihren Stif-
tungszweck nicht abgedeckt sei. Der
Stiftung fehle für diesenkonkretenFall

die Handlungsfähigkeit.Das Urteil ist
noch nichtrechtskräftig, erst die aus-
führliche Urteilsbegründung des Han-
delsgerichts wird eine Analyse in zivil-
prozessualer Hinsicht zulassen.

Lauter Ruf nach Sammelklagen

Bereits bevor sie in prozessualer Hin-
sicht vor erster Instanz unterlegen
waren, priesen Konsumentenschüt-
zer in der Schweiz neu einzufüh-
rende Sammelklagen als «rechtspoliti-
sches Heilmittel» an. Diese altbekann-
tenRufe nach Einführung von Instru-
menten deskollektivenRechtsschutzes
in der Schweiz dürften nun kaum lei-
ser werden. In den USA, dem Mutter-
land der Sammelklagen, führen Letz-
tere eher selten zum Prozess. Stattdes-
sen machen die Klägeranwälte hor-
rendeForderungen geltend, damit sie
höchst lukrativeVergleiche zulasten
der Unternehmen schliessenkönnen.
Der 2 01 6 verstorbene US-Supreme-
Court-Richter Antonin Scalia meinte

denn auch einmal pointiert, dass nicht
Anwälte, sondern Ingenieure und Leh-
rer einemLandFortschrittundWohl-
stand brächten.
Es ist zu hoffen, dass der Bundes-
rat mit der bald erwarteten Botschaft
zur Änderung der Zivilprozessordnung
nicht an den Grundfesten unserer be-
währtenRechtsordnung rüttelt und für
den schweizerischenWirtschaftsstand-
ort schädliche Instrumente deskollek-
tivenRechtsschutzes einführen will. Es
ist bereits heute unter dem bestehenden
schweizerischen Zivilprozessrecht mög-
li ch,Rechtsuchende gut zu schützen. Im
Vorentwurf zur Änderung der Zivilpro-
zessordnung sind zudem noch weiter-
gehendeVerbesserungen im Interesse
der Klägervorgesehen, beispielsweise
Vereinfachungen zur Klagenhäufung
und zur einfachen Streitgenossen-
schaft. Sollte das neu gewählteParla-
ment dieAuffassung derWirtschaft
nicht teilen und der Ansicht sein, die
Interessen vonkollektivRechtsuchen-
den seien noch weiter auszubauen, so

wären zunächst zukunftsgerichtete und
mit unsererRechtskultur besser zu ver-
einbarende Ansätze wie dieAuswei-
tung von Schlichtungs- oder Ombuds-
verfahren zu prüfen.

Eine MillionAnwälte

Keine Lösung stellt jedenfalls die Ein-
führung von – auch als noch so milde
präsentierten – Instrumenten deskol-
lektivenRechtsschutzes dar. Diese sind
stets stark missbrauchsanfälligundför-
dern eine für einLand in jeder Hinsicht
unerwünschte Klageindustrie. DerVor-
entwurf zur Änderung der Zivilpro-
zessordnung sieht eineKombination
von Gruppenvergleich undVerbands-
klagerecht vor, was beispiellose Macht-
spiele zulasten von Unternehmener-
möglicht. Eine damit einhergehende
«Kommerzialisierung desRechts» ist
demFortschritt in unseremLand nicht
dienlich. Hinzukommt, dass die zu er-
wartenden neuen Prozess- undVer-
gleichskostenrisiken über die Preise
aufKonsumenten abgewälzt würden.
Dies träfe dieKonsumenten empfind-
lich.Auch für sie sind Sammelklagen
nicht gratis zu haben.
Wenn Sammelklagen also weder im
Interesse derWirtschaft noch im Inter-
esse derKonsumenten liegen, in wes-
sen Interesse sind sie dann? Am besten
beantwortet der sozialkritischeameri-
kanischeFolksängerTomPaxton diese
Frage.Erbefürchtete bereits1985 in
einemLied, dass in den USA inner-
halb einesJahrzehnts «one million law-
yers» tätig sein würden, was er als nicht
eben förderlich für dasWohl desLan-
des ansah– entsprechend betitelte er
sein Album «One MillionLawyers and
Other Disasters». In der Schweiz pflegt
der Anwaltsstand auch heute noch ein
traditionellesVerständnis. Der Anwalt
willdas Bestefür den Klienten und
nicht für sich selbst herausholen. Wenn
auch unter unseren Anwälten zahlrei-
che kritische Stimmen gegen eine un-
gehemmte Kommerzialisierung des
Rechtes zu vernehmen sind, macht das
hellhörig. Sie stellen ihren Berufsstolz
ins Zentrum und wünschenkeinRecht
«à l’américaine» samt seinen negativen
Auswüchsen.

Lic.iur. LL. M. San drin e Rudolfvon Rohr
ist Rechts anwält in und stv. Bereichsleiterin
Wettbewerb und Regulatorisches bei Econo-
miesuisse. Sie befasst sich unter anderem mit
dem Thema kollektiver Rechtsschutz.

Aus der Lehre


und aus der Praxis


zz.· An dieser Stelle erhaltenJuris-
ten jeweils die Gelegenheit,einen Gast-
beitrag zu verfassen. Mit derRubrik
«Recht und Gesellschaft» will die NZZ
Themen desRechts mehrRaum geben
undJuristen aus der Praxis, aber auch
aus der Lehre eine Plattform bieten. Be-
leuchtet werden aktuelleRechtsfragen,
ein juristisches Problem, einrechtlicher
Missstand oder schlichtThemen, die sich
an der Schnittstelle zwischenRecht und
Gesellschaft bewegen.Auch Nichtjuris-
ten sollen sich von den Beiträgen ange-
sp rochen fühlen. DieRubrik erscheint
zweimal im Monat. Sie finden die Bei-
träge auch im Internet.


Zahlreiche Anwältewollen keineKommerzialisierung derRechtsprechung: im Bild dasBundesgericht. ANNICK RAMP / NZZ

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