Neue Zürcher Zeitung - 27.01.2019

(Sean Pound) #1

10 SCHWEIZ Montag, 27. Januar 2020


BLICK ZURÜCK


General gegen Bundesrat


Ende Januar 1871 stehen die Zeichen an der Schweizer Grenze auf Krieg –doch die Landesregierung scheint dies nicht zu kümmern


ROBIN SCHWARZENBACH


Man hätte die drohende Gefahr erken-
nenkönnen, wenn man die täglichen
Frontberichte der Zeitungen im Bun-
deshaus aufmerksam gelesenhätte. Am
13.Januar1871 trifft beim Militärdepar-
tement zudem ein alarmierenderRap-
port eines Schweizer Armeekomman-
danten im BernerJuraein:Bei Mont-
béliard, nur 30 Kilometer von Prun-
trut entfernt, stehen sich eine150 00 0
Mann starke französische Armee und
das XIV. Korps der Preussen gegen-
über. Es ist davon auszugehen, dass
sich das Kampfgeschehen im Deutsch-
Französischen Krieg schon bald an die
Schweizer Grenze verlagernkönnte.
Was dann?
Die Antwort ist klar. «Die Grenzbe-
setzungstruppen würden nicht mehr ge-
nügen, wenn ein grösseres französisches
Korps von den Deutschen auf Schweizer-
gebiet hinübergedrückt werden sollte»,
heisst es im Protokoll der folgenden
Bundesratssitzung mit Bezug auf diesen
militärischen Bericht. Gleichesgilt für
denFall, dass dieFranzosen den Preus-
sen in denRücken fallen und dazu über
Schweizer Boden marschieren wollten.
Auch über dieses bedrohliche Szenario
ist dieLandesregierunginformiert. Der
Kommandant in Pruntrut bittet dringend
umVerstärkung. Aufzustellen sei min-
destens eine zusätzliche Division.


Wer führt eigentlich die Armee?


Doch in Bern lässt man sich nicht aus
der Ruhe bringen. Bundesrat Emil
Welti, der ebenso machtbewusste wie
kostenbedachteVorsteher des Militär-
departements, diktiert dem Gremium
seineVorstellungen. Statt einer Division
sei lediglich eine Infanteriebrigade mit
Milizionären aus Zürich und drei wei-
teren Deutschschweizer Kantonen auf-
zubieten. Die Armee hat also mit knapp
einem Drittel der verlangtenTr uppen-
stärke auszukommen. Bis die Soldaten
aus dem weit entfernten Zürich eintref-
fen in der Grenzregion, werden zudem
mehrereTage vergehen.
Der Krieg zwischenFrankreich und
Preussen und seinenVerbündeten in-
des nimmtkeineRücksicht aufkompli-
zierte Entscheidungswege und schlep-
pendeVorbereitungen für den Ernstfall
in der Schweiz. DreiTage lang versucht
das französische Heer unter General
Charles Denis Bourbaki, denWider-
stand der zahlenmässig weit unterlege-
nen Preussen zu brechen – vergeblich.
Dann ziehen sich dieFranzosen zurück
nach Südosten, der Schweizer Grenze
entlang. Die Gefahr ist also noch nicht
gebannt, zumal die Bourbaki-Armee bei
Pontarlier von zwei Seiten von heran-
rückenden deutschenTr uppeneinge-
kesselt zu werden droht.Von dort bliebe
denFranzosen nur einAusweg: hinüber


ins naheVal deTr avers in Neuenburg
und in denWaadtländerJura.
Derweilkommt der Bundesrat in
Bern zu einer weiteren Sitzung zu-
sammen.Wieder ist esWelti, der seine
Ministerkollegen überForderungen der
Armeespitze informiert. Erneut ist es
der Militärvorsteher, der dieseWünsche
zurechtstutzt mit dem Hinweis, dass jede
zusätzliche Einheit das knappe Budget
des Bundes gefährde, und der sich kraft
seinerPersönlichkeit durchsetzt – das
Aufbieten vonTr uppen ist schliesslich
Sache des Bundesrates und nicht etwa
der militärischenFührung.
Doch dann bringt Bundespräsident
Karl SchenkeineFrageauf, die inPolitik
undÖffentlichkeit seitWochen zureden
gibt:Was ist eigentlich mit dem Ober-
befehlshaber der Armee? Ist Hans Her-
zog nun General oder nicht?

Herzog,der frühere Inspektor der
Artillerie,wird bei Kriegsausbruch im
Juli 1870 vonderBundesversammlung
zum Oberbefehlshabergewählt. Doch
gekämpft wirdvor allem weitweg, im
nördlichen Elsass, in Lothringen und bei
Paris. Bereits EndeAugust, noch vor dem
Sieg der Deutschen bei Sedan und der
Abdankung des französischen Kaisers
Napoleon III., verfügtWelti die Entlas-
sung aller stehendenTr uppen. General
Herzog wird beurlaubt, das heisst seines
Kommandos, nicht aber des Amtes ent-
hoben. Der starke Mann im Bundeshaus
hält den Krieg für entschieden. Herzog
jedoch bleibt skeptisch. Er weiss, dass
sich dieFronten inFrankreich schnell
wieder auf die Schweiz zubewegenkön-
nen. Doch für ein Kräftemessen mit sei-
nemVorgesetzten fehlt ihm in den ers-
ten Monaten desWaffengangs die Kraft.

Stattdessen legt er Ende November
einen wenig schmeichelhaften Bericht
über dieTr uppenaufstellung im Sommer
vor undreicht gleichzeitig einRücktritts-
gesuchein – dasWelti indes geflissent-
lich ignoriert. Im Dezember erneuert
Herzog seine Bitte um Demission, dieses
Mal mit einem Schreiben an den Natio-
nalratspräsidenten. Doch auch dasParla-
ment will von einemRücktritt des Gene-
rals nichts wissen. Herzog bleibt nichts
anderes übrig, als sich «demWunsch der
hohen Bundesversammlung zu unter-
ziehen», wie er selber schreibt, und im
Amt zu bleiben. Der Berufssoldat leidet
sichtlich unter der dominierenden Stel-
lung von BundesratWelti. In bitteren
Worten fährt der Oberbefehlshaber fort:
«Das Gefühl der ungeheuren Verant-
wortung ist ein wahrhaft peinliches, und
zwar umso mehr, als dem General alle
und jede direkte Einwirkung auf Organi-
sation undVorbereitung der Armee auf
den Ernstfall entzogen ist – eine Situa-
tion, die an Unsinn grenzt.»

Herzog setzt sich durch


Am 20.Januar1871 ist Herzog zurück
imKommando. Und er bekommt es
gleich mit seinemVorgesetzten zu tun.
Welti zitiert den General nach Olten.
Bei dieser Unterredung allerdings führt
der Oberbefehlshaber dasWort, und
zwar ein deutliches: Die vom Bundesrat
nach wie vor zurückbehaltenen Solda-
ten seien sofort marschbereit zu machen
und in denJurazu verschieben.Über
die Absichten der Deutschenkönne es
kaum mehr Zweifel geben: Sie wollten
die Bourbakis in die Schweiz werfen
und damit unschädlich machen.Dafür
ge lte es bereit zu sein!Welti hat ein Ein-
sehen, die verlangte Division kann end-
lich aufgeboten werden.
EineWoche später stehen imVal de
Tr avers und imWaadtländerJura 19500
Mann bereit.Auf der anderen Seite der
Grenze kampfbereite preussischeTr up-
pen und die Bourbaki-Armee, deutlich
geschrumpft zwar, erschöpft und de-
moralisiert von Niederlage,Rückzug
und eisigenTemperaturen, aber immer
noch ein Heer von 87 00 0 Mann.Was
wird nun geschehen?Werden die Deut-
schen angreifen?Werden die zurück-
weichendenFranzosen dann in der neu-
tralen Schweiz einfallen und sich den
Weg nach demrettendenLyon in der
Waadt freizukämpfen versuchen?
Für zusätzlicheVerwirrung in dieser
angespanntenLage sorgt am 29.Januar
die Nachricht, dass sich die Kriegs-
parteien inVersailles auf einenWaf-
fenstillstand geeinigt hätten. Sämtliche
Kampfhandlungen seien einzustel-
len. EmilWelti hat ebenfalls davon er-
fahren. Der gewiefte Militärvorsteher
bringt den Bundesrat umgehend dazu,
vom General die Entlassung der eben
erst aufgebotenen Soldaten zu verlan-

gen. Die Grenzbesetzung sei so bald wie
möglich auf wenigeTr uppen zuredu-
zieren. Doch Herzog, der sich zu die-
sem Zeitpunkt bereits im Neuenburger
Grenzort LesVerrières befindet, wei-
gert sich. Erkönne sich den Standpunkt
derLandesregierung nicht gefallen las-
sen, «solange die Gefahr für Grenzver-
letzungen noch so gross ist wie heute»,
kabelteran Bern zurück.
Der General hat allen Grund, ver-
ärgert zu sein, denn er ist besser infor-
miert als dieLandesregierung. Die Deut-
schen setzen die Kampfhandlungen fort,
denn anders als vom Bundesrat und von
den Bourbaki-Truppen angenommen
gilt derWaffenstillstand nicht für dieses
Gebiet. DieLage der umzingeltenFran-
zosen ist aussichtslos. In der Nacht zum


  1. Februar bittet ein französischer Offi-


zier den Schweizer Oberbefehlshaber
umVerhandlungen über den Grenzüber-
tritt der Bourbaki-Armee. Schnell wird
eineVereinbarung getroffen: Die Solda-
ten müssen ihreWaffen abgeben, sobald
sie Schweizer Boden betreten.Damit ist
gewährleistet, dass die Deutschen ihnen
nicht über die Grenze nachsetzen. Der
Einzug der geschlagenenFranzosen in
die Schweiz dauert 48 Stunden. ImVal
deTr avers bietet sich ein trauriges Bild.
«Die Mannschaft, schwarz von Pulver
und Schmutz, mager, elend,sieht kaum
kräftiger aus als ihre Pferde», schreibt
derKorrespondent der NZZ. Später
werden die Bourbakis zur Internierung
insLandesinnere verbracht.
General Herzog lässt es sich nicht
nehmen, in seinem abschliessenden Be-
richt zur Grenzbesetzung allen Beteilig-
ten für die Bewältigung der Krise und
dieAufnahme derFranzosen zu dan-
ken: seinen Offizieren und Soldaten, den
Freiwilligen vor Ort, denRegierungen
und derBevölkerung der Kantone. Bun-
desrat Welti lässt er unerwähnt.

EmilWelti
Vorsteher
Militärdepartement

Hans Herzog
General der
Schweizer Armee

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JedeWoche beleuchtet
die NZZ ein historisches Ereignis.
DieBeiträge der Serie finden Sie auf:

nzz.ch/schweiz


  1. Februar1871: Schwei zer Soldaten nehmen fliehendenTruppen der französischen
    Bourbaki-Armee dieWaffen ab. KUNSTMUSEUM LUZERN


Kampf gegen eine Zehn-Millionen-Schweiz


An ihrer Delegiertenversammlung schwört sich die SVP auf den Abstimmungskampf zur Begrenzungsinitiative ein


MICHAEL SURBER, SEEDORF


Bis zum17. Mai wirdes fürdieSVP nur
noch einThema geben: die Begrenzungs-
initiative. Diese erneute Abstimmung
über das zukünftigeVerhältnis zur Euro-
päischen Union war dasdominierende
Thema an der Delegiertenversammlung
derPartei vom Samstag im urnerischen
Seedorf. Um die zahlreichangereisten
Delegierten aufdie anstehende Abstim-
mungsschlacht einzuschwören, setzte die
Parteileitung auf das Mittel derWieder-
holung.Fünfder sechsRedner desVor-
mittags leuchteten die ausgemachten Pro-
bleme mit der anhaltenden Zuwanderung
aus der EU in allenFacetten aus. Sei es die
anhaltende Zersiedlung,die verstopften
Strassen, die überfüllten Züge, der Druck
auf ältere Arbeitnehmer oder die kultu-


relle Identität: Die Million Zugewander-
ten, die seit der Einführung derPersonen-
freizügigkeit mit der EU in die Schweiz ge-
zogen sind, stehen für dieSVP am Anfang
so mancher aktueller Probleme.

«Positive Signale aus demVolk»


Man wollekeine Zehn-Millionen-Schweiz,
hiess es am Samstag. Ginge esmit der Zu-
wanderung wie bisher weiter, würde man
jedoch bald dort angelangt sein. Es sei da-
her an der Zeit, wieder selbständig die Zu-
wanderung zu steuern. DieSVP fordert
eine Neuverhandlung mit der EU über die
Personenfreizügigkeit und allenfalls eine
Kündigung des Abkommens.
Ein solcher Schritt würde die ande-
ren Verträge aus demPaket der Bilate-
ralen I gefährden.«Von diesen sechsVer-

trägen profitiert aber auch die EU stark»,
sagt Präsident AlbertRösti vor den Dele-
gierten und deutet damit an, dass er nicht
sorecht an einenWegfall dieserVerträge
glauben will, sollte diePersonenfreizügig-
keit von der Schweiz gekündigt werden.
«Wenn Sie aufder Strasse dieLeute
fragen, ob diese die Zuwanderung eigen-
ständig regeln wollen, antwortet ein
Grossteil davonJa»,sagt derFraktionschef
und Zuger NationalratThomasAeschi im
Gespräch. Zu viele würden jedoch noch
immer der Angstkampagne der Gegner
aufden Leim gehen. Die Drohung, dass
eineKündigung desFreizügigkeitsabkom-
mensgleichzeitig das Ende der Bilatera-
len bedeuten würde, verfängt für seinen
Geschmack viel zu stark. Hier gelte es in
denkommenden Monaten anzusetzen.
Schwierig sei dies nicht, istRösti über-

zeugt: «Die Argumente sind ja alle auf
demTisch.»

Schlechte Umfragewerte


«Wir brauchen Siealle», rief der abtre-
tendeRöstiden Delegierten entgegen.
Das Einschwören derSVP-Basis ist laut
ersten Umfragen vonTamedia von An-
fangJanuar auch nötig. Derzeit unterstüt-
zen nur gerade 35 Prozent der Befragten
die Initiative, 58 Prozent lehnen sie ab.
DerSVP fällt es offensichtlich schwer,
über die eigeneBasis hinaus zu punkten.
Für Aeschi sind die schlechten Umfrage-
werte allerdings noch langekein Grund
zur Beunruhigung, wie er sagt. Bei Zuwan-
derungsthemen seien Umfragen ohnehin
ungenau.DieBefragten täten hier nur be-
dingt ihre wahren Stimmabsichten kund.

Auch Nationalrat Marcel Dettling,
Verantwortlicher für die Abstimmungs-
kampagne und hoch gehandelter Kandi-
dat fürRöstis Nachfolge, sieht dies so. Im
Kontakt mit der Bevölkerung spüre man,
dass es bei vielen Stimmbürgern,die sonst
nicht zurSVP tendierten, ein Unbehagen
wegen der Zuwanderunggebe.«Dieses
äussern sie aber nur hinter vorgehaltener
Hand», sagt Dettling amRande derVe r-
anstaltung. Diese Bevölkerungsschichten
gelte es abzuholen. Natürlich würde es der
Initiative helfen, wenn die Zahlen der Zu-
wanderung aus der EU höher wären als
gegenwärtig. «Doch auch die rund 50 000
proJahr sind schon zu viel», sagt Dettling.
Zu einer allfälligen Kandidatur für das
Amt desSVP-Präsidenten will sich der
Schwyzer nicht äussern. Er werde zu ge-
gebener Zeit informieren.
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