Neue Zürcher Zeitung - 27.01.2019

(Sean Pound) #1

Montag, 27. Januar 2020 INTERNATIONAL 3


Netanyahu erhält Schützenhilfe


Wenige Wochenvorden Wahlenin Israel will Donald Tr ump seinenNahost-Friedensplan bekanntgeben


INGAROGG, JERUSALEM


Der geschäftsführende Ministerpräsi-
dent Israelskönnte dringend gute Nach-
richten gebrauchen. Zum dritten Mal
innerhalb einesJahres ringt er darum,
eine Mehrheit derWähler zu gewin-
nen, um sich eine weitere Amtszeit zu
sichern.Dabei steht er wegen schwe-
rer Korruptionsvorwürfe innenpoli-
tisch unter starkem Druck. Die Opposi-
tion will Netanyahu um die angestrebte
Immunität bringen, so dass er sich selbst
imFall einesWahlsiegs vor Gericht ver-
antworten müsste.
Nichts käme Netanyahu gelegener
als ein grosser historischerWurf. Diesen
hat vor wenigenTagen der amerikani-
sche Präsident DonaldTr ump verspro-
chen, als er dieVeröffentlichung seines
Friedensplans zur Lösung des israelisch-
palästinensischenKonflikts ankündigte.
Mehrfach hatteTr ump die Bekanntgabe
des «Jahrhundertplans» nicht zuletzt
deshalb verschoben, weil es in Israel
seit einemJahrkeine voll funktions-
fähigeRegierung gibt. Doch nun soll es
Anfang derWoche so weitsein.


«Ich bin voller Hoffnung»


Dazureisten sowohl Netanyahu wie
sein Herausforderer Benny Gantz am
Sonntag nachWashington. Der «Jahr-
hundertplan», den sein«Freund»Tr ump
präsentieren werde, sei eine einmalige
Gelegenheit, dieIsrael nicht verpassen
dürfe, sagte Netanyahu vor seiner Ab-
reise. Er habe in den letzten dreiJah-
ren in «Hunderten von Stunden» mit
Tr ump und seinen Mitarbeitern über
die nationalen und sicherheitspoliti-
schen Bedürfnisse gesprochen und sei
dabei auf offene Ohren gestossen. «Ich
reise mit dem Gefühleinergrossen Mis-
sion,einer grossenVerantwortung und
einer grossen Chance nachWashington»,
sagte derRegierungschef. «Ich bin voller
Hoffnung, dass wir Geschichte schrei-
benkönnen.»
Gantz war zwar voll des Lobes für
Tr ump, den er einen «wahrenFreund
Israels» nannte, der das Bündnis zwi-
schen beidenLändern «stärker denn
je» gemacht habe. Über denFriedens-
plan äusserte sich der ehemalige Armee-
chef aber deutlich zurückhaltender als
Netanyahu. Obwohl er denPlanals Mei-
lenstein bezeichnete, sieht er darin mehr
eine Grundlage für weitereVerhandlun-
gen als einenVorschlag zur Lösung des
Konflikts. Der Plan ebne denWeg,um
«eine historische undregionaleVerein-


barung» zu erreichen,sagte Gantz am
Samstagabend. Grundsätzlich unter-
scheiden sich seine undNetanyahus
Haltung inFragen desKonflikts mit
denPalästinensern nicht gross, so sprach
sich der Oppositionsführer vergangene
Woche ebenfalls für eine Annexion des
Westjordanlands aus. Im Gegensatz zu
Netanyahu setzt Gantz jedoch aufVer-
handlungen.Davon kann in diesemFall
keineRede sein.
Er habekurzmit denPalästinen-
sern gesprochen, sagteTr ump. Palästi-
nensischeVertreter haben dem wider-
sprochen. Der Präsident derpalästinen-
sischenAutonomiebehörde, Mahmud
Abbas, ist nicht nachWashington ein-
geladen.Aus Jordanien hiess es eben-
falls, dasKönigshaus sei nicht informiert
worden. Der palästinensische Chef-
unterhändler Saeb Erekat nannte den
Plan den «Jahrhundertbetrug». Im Ga-
zastreifen drohtenradikaleFraktionen
miteinerneuen Intifada (Aufstand). Die
Palästinenser mussten schon im vergan-
genenJahr hinnehmen, dass der erste,
wirtschaftlicheTeil des «Jahrhundert-

plans» vorgestellt wurde, ohne dass sie
darauf einen Einfluss hatten. Sollten
sich israelische Medienberichte bestä-
tigen, wäre die Zweistaatenlösung vom
Tisch. So würde der Plan von wenigen
Ausnahmen abgesehen sämtliche israe-
lische Siedlungen im besetztenWest-
jordanland legitimieren.Nicht nur ist
das für diePalästinenser inakzeptabel,
eswäre auch ein Bruch von internatio-
nalemRecht.

Gantz wählt einen Mittelweg


Die israelische Oppositionund zahl-
reiche Kommentatoren sind sich
darin einig,dass es beidemTermin
inWashington mehr umWahlkampf-
hilfe für Netanyahu als umFrieden mit
denPalästinensern geht.Der «Jahr-
hundertdeal» sei ein «Jahrhundertge-
schenk», schrieb die linksliberaleTages-
zeitung «Haaretz». Ursprünglich soll-
ten Gantz und Netanyahu den ameri-
kanischen Präsidenten gemeinsam am
Dienstagtreffen. Nicht nur hätte der
Oppositionsführer in dieserKonstella-

tion klar die zweite Geige gespielt, am
gleichenTag steht in der Knesset auch
eine wichtige Abstimmung an, die die
Weichen über die politische Zukunft
des langjährigenRegierungschefs stel-
lenkönnte. Das Parlament soll über
die Einrichtung einesAusschusses ent-
scheiden; dieserwiederum entscheidet,
ob Netanyahu imFalle einerWieder-
wahl Immunität erhält.
Gantz konnte die Einladung ins
Weisse Haus freilich schlecht ausschla-
gen, hätteer seinem Rivalen damit
doch erstrecht eine Steilvorlage gebo-
ten.Tr ump ist unter denWählern von
Netanyahu äusserst populär. Am Ende
fand Gantz einen Mittelweg. DerSpit-
zenkandidat des Bündnisses Blau-
Weiss trifft sich nun bereits am Mon-
tag mit dem amerikanischen Präsiden-
ten,als Chef der«grössten israelischen
Partei», wie er vor seiner Abreise be-
tonte. Das scheint wiederum Netanyahu
aufgeschreckt zu haben. Nach eigenen
Angaben will er sich nun nicht nur am
Dienstag, sondern auch am Montag mit
Tr ump treffen.

Regelmässig demonstrierenPalästinenser im Gazastreifen gegen Israel,wie hierin KhanYunis am 27. Dezember 2019.A. AMRA / IMAGO

Londoner Polizei setzt auf Gesichtserkennung


Kameras imöffentlichenRaumsol len wirkungsvollere Fahndungnach Kriminellen ermöglichen –breite Kritik


MARKUS M. HAEFLIGER, LONDON


Wer in der britischen Hauptstadt von
der U-Bahn-Station aufsTr ottoir tritt
oder Geschäftsstrassen entlangspaziert,
dessen Gesicht wird möglicherweise ge-
scannt und das Ergebnis auf Computern
derPolizei mitFahndungsbildern abge-
glichen. Das hat die MetropolitanPolice,
die LondonerPolizei, amWochenende
angekündigt. DiePolizeibehörde will in
gewissen Quartieren der Stadt speziell
markierte Kameras zur biometrischen
Gesichtserkennung einsetzen. Die An-
wendung der umstrittenenTechnologie
geschieht trotzVorbehalten vonDaten-
schützern und Menschenrechtsgruppen,
die einen Eingriff in die Privatsphäre
der Bürger und unzuverlässige Ergeb-
nisse befürchten.


EUwill Einsatzregulieren


Die Polizei erhofft sich von der
Methode eine wirksamereVerfolgung
von Schwerverbrechern wie Tätern bei
tödlichen Messerstechereien oder Kin-
derschändern. Die Kameras würden
in Quartieren eingesetzt, in denen es


wahrscheinlich sei, dass sich bestimmte
Gesuchte bewegten, hiess es in der An-
kündigung vomFreitag. Jedes lokale
Kamerasystem soll über eine eigene
Art Fahndungsliste mit den gespei-
cherten Fotos von Gesuchten ver-
fügen. Die biometrische Gesichtserken-
nung wurde bisher in China, Brasilien,
Indien und teilweise in den USA an-
gewandt; ausChina ist bekannt, dass
damit breitflächig Oppositionelle über-
wacht und auch verhaftet werden.
Die Europäische Union sucht im
Rahmen ihrer Datenschutzgesetz-
gebung nach Mitteln, um den Einsatz
der Polizeitaktik zuregulieren. Erst
vergangeneWoche hatte die EU-Kom-
mission einVerbotangekündigt, das
so lange gelten soll, bis ein wirksames
Regelwerk in Kraft ist. EineWoche vor
dem formellen EU-Austritt fühlen sich
die britischen Behörden offenbar nicht
mehr an die Massnahme gebunden.
Britische Menschenrechtsgruppen
verurteilten den Entscheid als gefähr-
lichen Schritt in einen Überwachungs-
staat. Die Gesichtserkennung erlaube
es Behörden, Bürger inbisher unge-
ahnterWeise zu erkennen und ihre

Bewegungen zu verfolgen, sagte Clare
Collier von der Organisation Liberty
der Agentur Bloomberg.LetztesJa hr
hatte ein unabhängiger, von derPolizei-
behörde inAuftrag gegebener Bericht
möglicheFortschritte bei derFahndung
als fragwürdig kritisiert.Laut dem Be-
richt lieferte dieTechnologienur in
wenigenFällen einen eindeutigen Be-
fund; mitderVerletzung vonPersön-
lichkeitsrechten müsse gerechnet wer-
den, heisst es weiter.

Bedenken vomTisch gewischt


Die innenpolitische Unterhauskommis-
sion hatte imJuli ein Moratorium für
laufende Pläne,die Gesichtserkennung
versuchshalber einzuführen, empfohlen.
Aber die von BorisJohnson eingesetzte
Innenministerin PritiPatel, einePoliti-
kerin vomrechten Flügel derTory-Par-
tei, wischte die Bedenken vomTisch und
liess ScotlandYard, wie die Hauptstadt-
polizei auch genannt wird, freie Hand.
Die Behörde, die bei besonderenVer-
brechen und Methoden national feder-
führend ist, steht angesichts einer Zu-
nahme von Bandenkriminalität und

Messerstechereien unter Druck.Auch
die nationaleDatenschutzbehörde hatte
einen vorläufigenVerzicht auf dieTech-
nologiegefordert, bis dieRegierung ent-
sprechende Richtlinien erlassen habe.

«Rassistische» Algorithmen


Menschenrechtler kritisieren unter
anderem,die Methode liefere ein-
seitig unzuverlässige Ergebnisse. Laut
dem KriminologenPeteFussey von der
Universitätvon Essex,einem der Co-
Autoren des genannten Berichts, sind
die von künstlicher Intelligenzausge-
werteten Algorithmen mit Bezugauf
Alter,Geschlecht und ethnische Zu-
gehörigkeit unterschiedlich leistungs-
fähig. Angesichts dieser Mängel fehle
dieRechtsgrundlage für einen Einsatz,
sagteFussey gegenüber der «Financial
Times» vomWochenende. Ein Sprecher
derPolizeirechtfertigte dieVerwen-
dung gegenüber der Zeitung. DieVer-
fahren seien erprobt, sagte der stellver-
tretendePolizeikommissar Nick Eph-
grave; der Einsatz erfolge in mässiger
Form und sei für die Öffentlichkeit
nachvollziehbar.

Sicherheitskräfte


räumenirakische


Protestcamps


Seitenwechsel Muktada al-Sadrs


INGAROGG, JERUSALEM

Einerseits in den Hinterzimmern der
grünen Zone inBagdad Politik ma-
chen, anderseits Reformen fordern
und dieKritiker derRegierung unter-
stützen: Dieser doppelbödigeKurs war
in den letzten Monaten das Marken-
zeichen von Muktada al-Sadr. Beson-
ders glaubwürdig war das nie, aber es
hat demschillernden schiitischen Geist-
lichen vieleSympathien eingebracht,
selbst viele seiner Kritiker glaubten, in
ihm einenVerbündeten zu haben.

Die Maskefallen gelassen


AmWochenende vollzog derPopulist
einenradikalenKurswechsel – und liess
aus Sicht seiner Gegner die Maske fal-
len. Sadr entzog der Protestbewegung,
die seit Monaten gegen dieRegierung
demonstriert, seine Unterstützung. Er
sei «enttäuscht» von den Protestieren-
den, erklärte er am spätenFreitagabend.
Gleichzeitig bezeichnete er dieRegie-
rungskritiker als «bezahlte Handlanger»
ausländischer Mächte. «Ich dachte, sie
würden mich und den Irak unterstüt-
zen», liess Sadr verlauten. Offensichtlich
fühlte er sich beleidigt, weil sichTeile der
Protestbewegung über seinen Grossauf-
marschgegen die Amerikaner mokiert
hatten. Hunderttausende von Sadr-An-
hängern hatten amFreitag den Abzug
der amerikanischenTr uppen aus dem
Irak gefordert.VielenRegierungskriti-
kern ist das zu einseitig, sie verlangen,
dass sich auch Iran aus dem Irak heraus-
halten müsse und die mitTeheran ver-
bündeten Milizen aufgelöst werden.
Wenige Stunden nach Sadrs Erklä-
rung zogen sich viele seiner Anhänger
von den Protesten inBagdad und den
südirakischen Städten zurück undräum-
ten die Zelte ab, die sie in den letzten
Monaten errichtet hatten. Die Sicher-
heitskräfte sahen darin ein Signal da-
für, mit harter Hand gegen die Protest-
bewegung vorgehen zukönnen.InBag-
dad stürmten sie den zentralenTahrir-
Platz, Brücken und Strassen sowie eine
Schnellstrasse im Osten der Haupt-
stadt, die Kritiker besetzt beziehungs-
weise blockiert hatten. In den beiden
südirakischen Grossstädten Naseriya
undBasra griffen die Sicherheitskräfte
ebenfalls hart durch.Dabei feuerten sie
ausser mitTr änengas auch mit scharfer
Munition. Aufseiten der Protestierenden
attackierten Gewaltbereite diePolizis-
ten und Soldaten mit Molotow-Cocktails.
Die Zusammenstösse forderten über das
Wochenende mindestens zehnTote und
Dutzende vonVerletzten. Seit Beginn
der Proteste im Oktober wurden be-
reits mehr als 500Personen getötet und
fast 20 00 0 Personen verletzt.Für einen
Grossteil der Opfer werdenschiitische
Milizen verantwortlich gemacht.

Weitere Proteste angekündigt


AmTahrir-Platz brannten die Sicher-
heitskräfte die kleine Zeltstadt nie-
der, in der täglich Hunderte übernach-
tet hatten. Sollte dieRegierungaber ge-
glaubt haben, siekönne ihre Kritiker
dadurch zum Schweigen bringen, hat sie
sich getäuscht. Am Sonntag gingen lan-
desweit erneutTausende auf die Strasse,
es waren die grössten Demonstrationen
in den letztenWochen.Für die nächsten
Tage sind weitere Protestmärsche ange-
kündigt. Nachdem sie den ersten Schock
überwunden hatten, widersetzten sich ei-
nige der jugendlichen Anhänger Sadrs
dessen Anordnung. Das Gros von Sadrs
Gefolgschaft gehört insbesondere inBag-
dad den ärmeren Schichten an, in denen
Arbeits- undPerspektivlosigkeit beson-
ders gross sind.
Sadr seinerseits rief am Sonntag zu
einer Gegendemonstration auf, die auch
zur amerikanischen Botschaft, die An-
fangJanuarvonMilizionären attackiert
worden war, hätte führen sollen. Zwar
nahm er denAufruf später zurück. Den
Regierungskritikern drohte er jedoch da-
mit, er werde die Sicherheitskräfte unter-
stützen, sollten sie nicht auf ihren «ur-
sprünglichen» Pfad zurückkehren.
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