Neue Zürcher Zeitung - 27.01.2019

(Sean Pound) #1

8 MEINUNG & DEBATTE Montag, 27. Januar 2020


Dass der Krieg der«Vater aller Dinge» sei, wie der
Philosoph Heraklit meinte, stimmt gewiss nicht.
Allerdings hat er neben Kanonen, Splitterbomben
und Drohnen auch immer wieder nützliche Dinge
hervorgebracht: für Napoleons Eroberungszüge
den optischenTelegrafen oder für den ausgeblie-
benen drittenWeltkrieg das Internet.
Und auch das Radio verdanken wir Heraklits
«Vater aller Dinge». Der ErsteWeltkrieg hinter-
liess ausserTr ümmern und Soldatenfriedhöfen eine
MengeFunkgeräte, für die der «drahtlose Kriegs-
nachrichtendienst» erst einmal beendet war. Gleich
nutzten clevere Geschäftsleute den elektronischen
Kriegsmüll, um Börsennachrichten zu funken.
Doch imJahr1920 übernahmen fast alle europäi-
schenLänder die politische und kulturelle Nutzung
der «Ätherwellen» oder vergaben Sendelizenzen.
In den USA und England funkten Privatdienste
Wort- und Musikbeiträge. In der Schweiz machte
derVölkerbund1920 das neue Medium denFrie-
densbemühungen nutzbar. ImgleichenJahr brachte
der deutsche SenderKönigsWusterhausen als Pre-
miere dieFriedensbotschaft einerWeihnachtsfeier.


Stürmische Entwicklung


DieFunktechnik und derRundfunk waren zu-
vor aus einer stürmischen Entwicklung hervor-
gegangen. Heinrich Hertz hatte 18 88 den Nach-
weis elektromagnetischerWellen erbracht und
mithilfe eines Oszillators und eines Funken-
induktors ein Signal drahtlos übertragen.Da-
bei entstanden tatsächlichFunken, die derTech-
nik ihren deutschen Namen gaben. 1901 gelang
es Guglielmo Marconi, ein Morsesignal über den
Atlantischen Ozean zu schicken. Er wurde zum
Pionier des Seefunkverkehrs und erhielt dafür
19 09 den Nobelpreis für Physik.
Ehe der Seefunk aber zum Standard werden
konnte, mussten auf drei SeefunkkonferenzenRe-
geln und Codes wie das berühmte SOS-Zeichen
festgelegt werden. Als die«T itanic» im April 1912
unterging, konnten dank MarconisFunktechnik
viele Überlebende von anderen Schiffen gerettet
werden.Damiterhielt dieseTechnik einen mäch-
tigen Schub. Aber die Schiffsfunker und Seefunk-
stationen tauschten immer noch Morsezeichen.Für
das Senden und für den Empfang vonTonsigna-
len, von Musik und Sprache, mussten noch weitere
Bauteile erfunden werden, wie Lichtbogensender,
Detektoren undVerstärkerröhren.Dann erst grif-
fen die Kriegsherren zu und schickten ihreTr uppen
drahtlos in die Schlachten.
Zugleich sorgten sie dafür, dass während des
ErstenWeltkrieges in Europa und den USA die
Lizenzen fürFunkingenieure und andere Erfinder
eingezogen wurden.Immerhinkonnte Lee deFo-
rest 1916 in den USA die Stimme Enrico Carusos
über einen eigenen Sender in den Äther gehenlas-
sen, nachdem bereits 1901 der kanadischeFunk-


pionierReginaldA.Fessenden die angeblich erste
drahtlose Musik- und Sprachübertragung gefunkt
hatte: Nach eigener Angaberezitierte er aus der
Bibel und spielteWeihnachtslieder auf der Geige.
Niemand begriff so schnell die politische und
mediale Macht derRadionachrichten wie der rus-
sischeRevolutionär Wladimir Iljitsch Lenin. Er
funkte am 12. November 1917 das soeben vom
Sowjetkongress beschlosseneFriedensdekret «An
alle. An alle». DieseAdresse war derTaufspruch für
dasRadio. Auch die ersten drahtlosenKonzerte in
Deutschland, die von derVersuchsfunkstelle Ebers-
walde in Brandenburg kamen, wurden imJahre
1919 ausdrücklich «An alle» gesendet.
Nie zuvorkonnte sich ein Medium in dieser
Form «an alle» wenden. Daher gingen in den zwan-
zigerJahren europaweit die Staaten zuregelmässi-
gen Sendungen über. VierzigJahre später bezeich-
nete der Medientheoretiker Marshall McLuhan
dasRadio deshalb als eine elektronische Stammes-
trommel.Auch im wesentlich kleineren,rein akusti-
schen Hörraum sollte dasTr ommelsignalalleTr om-
melfelleerreichen.
Das hat sich bis heute nicht geändert,obgleich
dasRadio seine technische und kulturelle Gestalt
unablässig verändert hat. In derFrühzeit desRund-
funksversammelte sich dieFamilie um das Gerät
wie um einen Hausaltar. AlteWerbeplakate zeigen
Eltern und Kinder, die mit geneigtenKöpfen den
Stimmen derKünstler und Diktatoren lauschen.

Das Radio verbindet


die Völker nicht durch


Verständigung, wie Einstein


hoffte, sondern durch


seichte Musik und


schlechte Nachrichten.


Heute scheint der Hörfunk an denRand derAuf-
merksamkeit gedrängt.Das Radio ist nur noch eine
von unzähligenAppsauf unseren Mobiltelefonen.
Doch noch vor dem Mobiltelefon tauchte in
den fünfzigerJahren das mobileKofferradio auf,
das die musik- und wortmoduliertenFunkwellen
nicht mehr mit störanfälligenRöhren,sondern mit
Tr ansistoren verarbeitete. Zu dem «An alle» der
Radiosendung war damit das «Überall» des Emp-
fangs getreten. Und wer heute via Internet die digi-
talenRadiosignale aus allen Erdteilen undLändern
empfängt, der erlebt neben dem «Überall» auch ein
«Überall dasselbe», denn die überwiegende Masse
der «Funksignale», die von unzähligen Sendern
rund um den Globuskommen, liefert Unterhal-
tungsmusik. Die Statistik errechnet zwar, dass in
Deutschland undder Schweiz jedePerson rund drei
Stunden täglichRadio hört, aber das ist vor allem
Musikhören mit «halbem Ohr».

Und dann kam Goebbels


Daher sollten wir uns in diesemJubiläumsjahr an
die wechselhafte Geschichte desRadios erinnern.
Vor hundertJahren bemächtigten sich die staat-
lichen Institutionen des Mediums, weil es «an alle»
funkenkonnte.Der Staat wusste gleich, waser
senden wollte. So erliess imJahr1932 die deutsche
Regierung des Kanzlers vonPapen einschlägige
Rundfunkrichtlinien: «DerRundfunk nimmt an der
grossenAufgabe teil, die Deutschen zum Staatsvolk
zu bilden und das staatliche DenkenundWollen
der Hörer zu formen und zu stärken.»
Zu dieser Zeit überlegten auchdie Dichter noch,
was sie senden wollten. Ende September1929 tra-
fen sich in Kassel die literarischen Häuptlinge der
Preussischen Akademie derKünste und beschlos-
sen, vor allem Literatur zu senden. DerAutor des
grossenRomans «Berlin Alexanderplatz», Alfred
Döblin, rief damals in kühnem Optimismus:
«Demokratie, dein Mund heisstRadio!» Aller-
dings stellte sich heraus, dasskeiner der in Kas-
sel versammelten Akademie-Dichter einen eige-
nenRadioapparat besass. Dabei entstand zur glei-
chen Zeit mit dem Hörspiel eine ganz eigene neue
Li teraturgattung, an die sich auch die Hörer erst
noch gewöhnenmussten.Als in den USA1938, am
Tag vor Halloween, das von OrsonWelles bearbei-
tete Hörspiel «Krieg derWelten» gesendet wurde,
hielten vieleRadiohörer die fiktiveReportage über
eineLandung von Marsmenschen in NewJersey
für einen Live-Bericht und wandten sich besorgt
anden Sender und an diePolizei.
Anders als seineKollegen bekannte sich der
Dichter Gottfried Benn, der nach1933 mehrfach
imRadio zu hören war, alsregelmässigerRadio-
hörer. In einemVortrag erklärte er1955, dass der
moderne Dichter, obgleich erkeinKommunist sei,
zu Lenins «allen» zähle, die vomRundfunk er-
reicht würden: «Er sitzt zu Hause, bescheidenevier

Wände, er istkeinKommunist, (.. .) er dreht das
Radio an, er greift in die Nacht.. .»
Noch imJahr1930 hoffte Albert Einstein auf der
BerlinerFunkausstellung, dass derRundfunk zur
Völkerversöhnung beitragen werde. Das «An alle»
schien ein solchesVersprechen zu enthalten. Aber
kaum zehnJahre später war es allen Deutschen
untersagt,neben dem Nazi-Staatsrundfunk anderen
Sendern zu lauschen. Aktualisiert lautete Döblins
Diktum jetzt: «Radio, deinMund heisst Goebbels!»
Daher erfanden1939 gewitzte deutscheJuristen
den Straftatbestand des «Rundfunkverbrechens».
Ab1940 waren dafür Sondergerichte zuständig, die
dieWeiterverbreitung von Nachrichten der «Feind-
sender» alsLandesverrat oft mit der Höchststrafe
ahndeten. So wurde1943 ein 56-jähriger Deutscher
vomVolksgerichtshof alsRundfunkverbrecher zum
Tode verurteilt, weil er feindlichenRundfunk gehört
und darüber gesprochen hatte. Dieses Urteil wurde
dann zur Abschreckung auf derRückseite der Quit-
tungen abgedruckt, die die Hörer bei Bezahlung
ihrerRundfunkgebühren erhielten.
Aberesgibt auch ein bewegendes Dichter-
zeugnis dafür, was dasRadio einem Exilanten aus
dem Nazi-Imperium bedeutenkonnte. ImJahre
1940 schrieb der nachDänemark geflohene Dich-
ter Bertolt Brecht ein kleines Gedicht auf seinRa-
dio: «Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug/
dass seineLampen mir auch nicht zerbrächen / Be-
sorgt von Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug/
Dass meineFeinde weiter zu mir sprächen.» Zu-
vor, in den zwanzigerJahren, zählte Brecht, der
mehrere seiner Stücke,aber auch Shakespeare-
Dramen für den Hörfunk bearbeitet hatte, zu den
Vordenkern eines demokratischenRadios. Er for-
derte einenRundfunk, der nicht nur sendet, son-
dern auch selbst empfängt, nämlich dieReaktion
und Meinung des Publikums zu politischenThe-
men. Heute haben Social Media diese einstmals
utopischeFunktion übernommen.
Die Epoche des politischenRadios istkeines-
wegs vorbei. Noch in den achtzigerJahren des
letztenJahrhunderts wollten es linke Aktivisten
aus den Händen der Staatsmacht befreien. Heute
scheint es wirklich befreit. Überall ist Empfang.
Überall sind wir alle. Das Radio sitzt imAuto, im
Spielzeug, in Mondraketen. Es istkein kleiner Kas-
ten mehr, sondern ein winziger Chipim Universal-
medium Computer. Oder es hängt als miniaturi-
sierte Maschine an unserer Hand.
Das Radio verbindet dieVölker nicht durch
Verständigung, wie Einstein hoffte, sondern durch
seichte Musik und schlechte Nachrichten. Uns
Europäer leitet dasRadio nicht mehr. Aber Mil-
lionen vom KriegVertriebener auf allenKontinen-
ten halten es sich ans Ohr. Ihnen dient es als unent-
behrlicher Begleiter.

Manfred Schneiderist emeritierter Professor für deut-
sche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität
Bochum.

«An alle,


an alle!» –


hunder t


Jahre Radio


Wie vorJahrzehnten beim Internet ging die


Erfindung des Radios nach dem Ersten Weltkrieg


mit viel demokratischemOptimismus einher. Doch


auch Diktatoren begriffen schnell die gewaltige


politische Wirkungsmacht des neuen Mediums.


Gastkommentar von Manfred Schneider

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