Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.02.2020

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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Geisteswissenschaften MITTWOCH,19. FEBRUAR2020·NR.42·SEITE N3


Vorder „schönen Hure“Polemik wur-
de Gotthold EphraimLessing1777ge-
warnt. Wernicht widerste hen könne,
lebe unruhig, schrieb ihmFriedrich
Nicolai: Er bekomme „Krätze oder
Filzläuse, die dannfestsitzen,wenn
die Hureschon längstvergessen ist“.
Der Streit ,der öf fentliche zumal, solle
ruhig und besonnen ausgetragen wer-
den, ohne böses Blut und bittereGal-
le. Einständiges Zwickenund Zwa-
cken tue niemandemgut –den Einzel-
nen nicht, der Gesellschaftnicht, der
Wahrheit erstrech tnicht.
Muss,werÖffentlichkeit will, der
Polemik abschwören? Oderwerden
Polemik und Öffentlich keit, zu beider
Lasten, nur zu selten zusammenge-
dacht? DieFragewar der Ausgangs-
punkt einer literaturwissenschaftli-
chen Tagung in Bonn, die ElkeDub-
bels, JürgenFohrmann und Andrea
Schütte organisierten. Als theoreti-
sches Gerüstdientedie Typologie des
Soziologen ErnstManheim (1900 bis
2002). Als eine der drei Grundformen
führte ervor1933 die polemisch-plu-
ralistische Öffentlichkeit ein. Sie tritt
als basaleForm neben die bekanntere
Unterscheidungvonautoritärer und
deliberativer Öffentlichkeit, die Man-
heim mit denNamen „qualitativ“ und
„transzendental“ belegt.
Indem dieTagungvondiesen Be-
grifflichkeiten ausging,ohne sichdog-
matischauf siefestzulegen,verschob
sie den Denk-und Fragehorizont auf
klugeWeise: Sie ging nichtvoneiner
Verfallsgeschichteder Öf fentlichkeit
aus, die in derPolemikkaum mehr als
eine degenerierteForm einergesun-
den, aufruhigeRationalität setzen-
den Debatteentdeckenkann. Sie wi-
derstand derVersuchung, angesichts
der ubiquitärgewordenen Begegnung
mit der „schönen Hure“ pauschal
über gesellschaftlichen Juckreiz zu kla-
gen. Sie sondierte vielmehrexempla-
risch, ob das Beißen und Kribbeln
nicht aucherkenntnisfördernd wirken
könne.
Kann es? DieFragesetztedie Ta-
gungvorsichtshalber ins Imperfekt.
Sie erkundete Konstellationen um
1800,1900 und2000. Fehdehandschu-
he, Manifeste, Kritikerbeschimpfun-
gen: Beruhigend wirkt eine Literatur-
geschichte, die nicht erst mit Twitter
beginnt.Zugleichzeigt sie die Bruch-
stellen auf, die Entscheidungen, die
den Rückwegabschneiden.Wenn der
Tonschriller wird,wenn der Hammer
die vierteWand durchschlägt,wenn
die SchmähschriftensichamEnde
selbstden Boden unter denFüßen
wegziehen–wie geht es dannweiter?
Taucht die Eskalation insAbklingbe-
cken der Langeweile? Dazu hätte
man gern mehr erfahren.
Schon in derPerückenzeit wirkte
die hygienische undgeschlechterpoli-
tische Prostitutionsmetapher anstö-
ßig. DieTagung widerstanddem Reiz
der politischen Pr ovokation und sorg-
te sichinangenehm unpolemischen
Debatten umNuancen. Dassdie Ret-
tung insTranszendentale erwartbar
war, ändertnichts an ihrer Plausibili-
tät:Gehörtdochzuden Eigenarten
polemischer Öffentlichkeiten, dass
sie nicht nur den Gegenstand derUn-
tersuchung darstellen, sondernzu-
gleichdie Kommunikationsbedingun-
genmarkieren, in denen sichdie For-
schenden bewegen–etwa àlaHand-
ke:„Ichwäregerne nochviel skanda-
löser.“
Wieesdifferenziertergehen könn-
te,zeigteJürgenBrokoff in seinem
Vortrag, der einenWegzur Analyse
der Literaturdebatten seit 1989vor-
schlug. Er bezog sichdabei auf das zu-
sammen mit BerlinerSoziologenkon-
zipierte Projekt„Anfechtungen des
Leitbilds multikulturellerVielfalt“.
Welchen Einflusshaben Skandalauto-
renauf die öffentliche Meinung? Bro-
koff plädiertefür ein Interpretations-
verfahren, dassdie umstrittenenTex-
te vonChris ta Wolf, MartinWalser,
Günter Grassoder PeterHandkege-
nau und imKontextder umliegenden
Kontroversen liest, es sichbei der Be-
stimmung der politischen Anstößig-
keit also nicht zu leicht macht. Dabei
geht es nicht mehr primär um dieUn-
tersuchung polemischer Schreibver-
fahren, sondernumdie Auseinander-
setzung mit derStruktur polemischer
Öffentlichkeiten selbst, wie sie Man-
heim angeregt hat.
Die Verschränkung vonGegen-
stand undKommunikationsbedingun-
genließe sichanManheims Grundla-
genschrift„Die Träger der öffentli-
chen Meinung“studieren. DerGegen-
stand des Buches, dieTransformati-
on der Öffentlichkeit, hat sichindie
Publikations- und Rezeptionsge-
schichteeingeschrieben. Manheim,
der nachdem Scheiternder Räterepu-
blik 1920 ausUngarn geflohenwar,
wolltesichmit seinenStudien zur So-
ziologie der Öffentlichkeit 1932/33
bei HansFreyer in Leipzighabilitie-
ren. Dazukamesnicht mehr:Er
mussteerneut emigrieren, über Eng-
land, wo er einen zweiten Doktortitel
erwarb, in dieVereinigtenStaaten.
Auch wenn die Schrift, die 1933 noch
erschien, während Manheim seine
Ausreisevorbereitete, 1979 neu aufge-
legt wurde,gehörtsie allenfalls zu
den heimlichen Klassikernder Öf fent-
lichkeitstheorie:Zeit für eineWieder-
entdeckung. HENDRIKJE SCHAUER

Söhne


Manheims


PolemikvorTwitter


AnthonyJ.Nicholls, der am 26. Januarver-
storben ist,warein OxforderUrgestein
und einer der liebenswertest en Brücken-
bauer zwischen britischen und deutschen
Historikern.Am2.Februar 1934 in der
Nähe vonCroydon in Südenglandgebo-
ren, verbrachte er seine frühe Kindheit un-
terdem tiefen Schatten des deutschenNa-
tionalsozialismus, der sichüber Europa er-
streck te.Eine Karriere an einer Elite-Uni-
versität warihm nicht in dieWiegegelegt.
Er kamaus eher bescheidenenVerhältnis-
sen, seinVaterwar Angestellter bei der
ReisegesellschaftThomas Cook.
Als Absolvent einer Grammar School
kamernach dem Militärdienst1954 ans
MertonCollegeinOxford. SeineKarriere
begann er alsForschungsassistentvonSir
John Wheeler-Bennett, einer der schil-
lerndstenFiguren der britischen Histori-
kerzunftmitengen Beziehungen zum briti-
schen Geheimdienst. Am St Antony’sCol-
legeunter richtete Wheeler-Bennett Inter-
nationale Beziehungen, und Nichollsver-
fasste mit ihm eine vielbeachteteUntersu-
chung zu den Friedensregelungen am
Ende des ZweitenWeltkrieges,„The Sem-
blance ofPeace“. Wheeler-Bennetts zwei-
deutigeBeziehungen z uDeutschland–er
warsowohl mit aristokratischen Sympathi-
santen Hitlersals auc hmit spä terenWider-
standskämpferngut vernetzt gewesen –
faszinierten Nicholls, der sichintensiv mit


dem Aufstieg derNationalsozialistenbe-
schäftigte. 1968 erschien seine Studie
„Weimar and the Rise of Hitler“, die vier
Auflagen erlebteund zu einem Klassiker
der englischsprachigen historischen Lite-
ratur zur deutschen Geschichte wurde.
Im selben Jahr,wurde er Official Fellow
des St A ntony’sCollege. 1976gründete er
dortdas EuropeanStudies Centre, das er
bis zu seiner Emeritierung 2001 leitete.
Hier gelang es ihm, dieVolkswagen-Gast-
professur zuetablieren, die über Jahrzehn-
te ein Who’s Who der deutschen Histori-
kerzunftnach England brachte. Etwas äl-
terals die goldene Generation britischer
Deutschland-Historiker, der David Black-
bourn, GeoffEley, RichardEvans, Mary
Fulbrook, Dick Gear yund IanKershawan-
gehören,warNicholls der Gründungsvor-
sitzende der German History Society,die
bis heutemit ihrem Journal „German His-
tory“eine zentraleVerbindungsstelle zu
den deutschenKollegen ist. Er bauteenge
Beziehungen zum Deutschen Histori-
schen Institut in London auf, zu dessen
Gründung er ebenfalls beigetragen hat te.
In den achtzigerJahrenwandteersich
derGeschichte der Bundesrepublik zu.Sei-
ne Gesamtdarstellung„The BonnRepu-
blic“ von1997 und die drei Jahrezuvor pu-
blizierte Arbeit zur Entwicklung der Sozia-
len MarktwirtschaftinDeutschland mit
dem sprechendenTitel„Freedom withRe-

sponsibility“ ließen seine tiefen, aller-
dings nie unkritischen Sympathien für die
politischeKultur und diegesellschaftliche
Entwicklung der Bundesrepublik erken-
nen. Die Geschichteder BonnerRepublik
warfür Nichollseine Erfolgsgeschichtege-
radeauchimHinblic kauf di eGeschichte
seines eigenen Landes in derNachkriegs-
zeit.Die –wenn auchverspätete–vorbild-
liche Aufarbeitung der nationalsozialisti-
schenVergangenheitstand in markantem
Gegensatzzurvergangenheitspolitischen
Ignoranz der Briten,gerade im Hinblick
auf ihr Empire.
Den sozialliberalen Grundkonsens in
der politischen Mitteder Bundesrepublik
zog er der scharfenideologischenPolari-
sierung im Großbritannien der siebziger
und achtziger Jahrevor.Nichollsverab-
scheuteMargaretThatcher ebenso wie
den Gewerkschaftsführer Arthur Scargill.
In RoyJenkins, David Owen, BillRodgers
und ShirleyWilliams,die 1981 die Labour
Partyverließen und die SocialDemocratic
Partyaufbauten, erkannteerGleichge-
sinnte, die wie ergroße Bewunderer der
Sozialen Marktwirtschaftinder Bundesre-
publik waren. Wiedie „Viererbande“
schätzte Nicholls auchdie proeuropäische
Grundhaltung der Bundesrepublik.Die
Schlusssätze seines Buches zur Sozialen
MarktwirtschaftinDeutschland bekräftig-
tennocheinmal, wie sehr er in seinerPer-

son das britischeFreiheitsstreben mit der
Suche nachsozialer Gerechtigkeit ver-
band. Nicholls sah die Bundesrepublik auf
der „pragmatischen, aber dennochprinzi-
pientreuen Suche nachmateriellemWohl-
stand, verbunden mit persönlicherFrei-
heit und sozialem Ausgleich“. DieserKon-
sens, sowollteerhoffen, werdeeines Ta-
gesvielleicht auchden Nachbarnder Deut-
schen zumVorteil gereichen.

Als Nicholls 2004 den jährlichenFest-
vortrag desGerman Historical Institutein
London hielt,reflektierte er über fünfzig
Jahredeutsch-britische Beziehungen un-
terdem Titel„AlwaysGood Neighbours–
NeverGood Friends?“ Er beschrieb Defizi-
te in den deutsch-britischen Beziehungen
seit dem Ende des ZweitenWeltkrieges,
die auchauf tiefenkulturellenUnterschie-
den undvollkommenverschiedenen erin-
nerungshistorischen Parametern beru-
hen. ZuZeiten desgerade vollzogenen
Brexits, de ssen Befürwortermit dem Argu-
ment für den Austrittwarben, dass„our
boys“imZweiten Weltkrieg nicht für die
angeblichvonDeutschengeführte EUge-
fallen seien, lohnt sichdie Lektüre dieses
gedankenreichen Essays allemal.
Seinen vielen Doktoranden amSt An-
tony’s CollegewirdTonyNicholls immer
als ein außergewöhnlic hsensibler,hilfs-
bereiter un düber die Maßengeneröser
BetreuervorAugen stehen, der jederzeit
genügend Freiraum für die intellektuelle
Entwicklung seinerSchützlingebot und
Kapitelentwürfe mit zahllosenkonstruk-
tiven Kommentarenversah. Als Mitglied
der NorthCommission of Enquirytrug
er vorder Jahrtausendwendewesentlich
zur Reform der Verwaltungsstrukturen
der Universität Oxfordbei, so dassseine
Alma Mater auchimneuenJahrhundert
zu den führendenUniversi tätender Welt
zählt. STEFAN BERGER

J


ungeKomponisten, berichtete
die Komponistin Charlotte Sei-
ther beimKongress „Beetho-
ven-Perspektiven“ des Bonner
Beethoven-Hauses,wollen von
Beethovennichts mehr hören –
vondem Genie undÜbermenschen die-
ses Namens, demBeethovender Kulturin-
dustrie, des Jubiläumsbetriebs, derPopu-
lärwissenschaftund Programmheftprosa.
Das traditionelle Beethovenbild ideali-
siereeine „männliche Schöpferkraftin
Kategorien der Dominanz“; damit,stellte
Seitherfest,die als Mentorin mit den Ge-
winnernder Residenzstipendien arbeitet,
die das Beethoven-Haus inZusammenar-
beit mit derStudienstiftung des deut-
schenVolkes vergibt, könntenKomponis-
tenberufsanfänger heute nichts anfangen,
derenvomInternetgeprägteProduktions-
ästh etikdie tendentiell anonyme Gemein-
schaftsarbeit einerseits prämiereund das
Nebeneinander individueller Ansätze an-
dererseits. Der WürzburgerMusikwissen-
schaftler UlrichKonrad, SeithersGe-
sprächspartner in einemvomDeutsch-
landfunk aufgezeichnetenDisput, bestritt
die Dominanz der Dominanzkategorien
in der heutigen Beethoven-Pflege.Wie
vonder Kulturpolitikgewünscht, sei Beet-
hovenfür alle da; angesichts derfast ins
Nichts abgestürzten Preise für akustisch
aufgezeichnete Musikwerdeniemand aus-
geschlossen, es müsse sichaber auch
nicht ausgeschlossen fühlen, wersich
nicht für Beethoveninteressiere.
Konrad legtenahe, dassder Geniekult
in dieTrivialkultur abgesunken und da-
durch unschädlichgeworden ist. Er selbst
hat aber in einem 2016 in den „Beetho-
ven-Studien“, derZeitschriftdes Beetho-
ven-Hauses,gedrucktenVortrag anhand
der Bonner JahreBeetho vens dargelegt,
wie sehr die Konv entionen des he-
roischen Beethoven-Bildes auchdie Per-
spektiven der Wissenschaftwenigstens
bei der HerstellungvonGesamtbildernin
Gesamtdarstellungen nochbestimmen.
Die Panegyrikdes Künstlerheldenim
bürgerlichen Geschichtsbild, die Projek-
tion vonHerrschertugenden auf das
Künstlerindividuum, legitimierte sich, in-
dem die Dominanz zum Lohn der Eman-
zipationstilisiertwurde.Fürden Fall
Beethovenbedeutetdas, dasssein Able-
gender sozialenRolledes Hofmusikers
als eineSache der innerenNotwendig-
keit erscheint.InBonn,als Mitgliedder
Hofkapelle desKölnerKurfür sten Maxi-
milianFranz, hat Beethovenindieser
Sicht in einem Zustand der latenten Ent-
fremdunggelebt,und dieÜbersiedlung
nachWien mussdann ein Akt der Selbst-
befreiunggewesen sein, obwohl es sein
kurfürstlicher Herrwar,der ihn 1792
zum StudiumzuJoseph Haydn schickte.
Dem Bonner Beethovenwar einganzer
Tagdes fünftägigen BonnerKongresses
gewidmet–womit ihm, wie John D.Wil-
son im einleitendenReferatder Sektion
vorAugen führte, deutlichmehr Platzein-


geräumt wurde als in denStandardwer-
kender Beethoven-Biographik.Die 22
Bonner Jahremachen 39 Prozent der Le-
benszeit Beethovens aus, aber die Biogra-
phen widmen ihnen im Durchschnitt nur
ein Zehntel der Buchseiten.Wilsonssta-
tistische Demonstrationwareine virtuo-
se Darbietung, dieetwasaussagteüber
denEhrgeiz und den Geistdes interdiszip-
linären,vonBirgit Lodeskoordinierten
Wiener Forschungsprojekts zur Musikkul-

tur am Bonner Hof, dessen neuesteErgeb-
nisse in Bonnvorgestellt wurden.
Wegender geringenZahl unmittelba-
rerQuellenzeugnisse mussteForschung
zum jungen Beethovenseit jeher Erkun-
dung seinesUmfeldssein.Das Wiener Un-
ternehmen macht aus der scheinbaren
Materialnoteine methodische Tugend
durch systematische Erhebung und Ge-
wichtung der Informationen über die Mu-
sik,die vonBeetho venund seinenKolle-

geninBonn aufgeführtwurde.Warum
kehrte Beethovennicht nachBonn zu-
rück?Wenn manvongeniepsychologi-
schen Spekulationen absieht, mussdie
Antwortlauten:weil der HofvonMaximi-
lian Franz im Oktober 1794vonden fran-
zösischenRevo lutionstruppenvertrieben
wurde. Als derKurfürst ohne Land um
1800 einen Entwurffür dieRestauration
des Hofstaats in seinem rechtsrheini-
schen Territorium Münsteraufsetzte,
fand sichdortdie Verfügung: Beethoven
bleibt ohne Gehalt inWien, bis er einbe-
rufenwird. Als derKurfürst und diegro-
ße Mehrzahl seiner Bedienstete nins Exil
gingen, nahmen sie die transportablen
Materialien der Hofverwaltung mit–dar-
unter dasNotenmaterial der Hofkapelle.
Erst in den dreißiger Jahren des zwan-
zigstenJahrhunderts wurde der For-
schung bekannt, dassdie Musikbibliothek
vonMaximilianFranz auf dem Erbwegin-
nerhalb des Hauses HabsburgnachMode-
na gelangteund dorterhalten ist. Das
Wiener Forscherteam hat sichdie Katalo-
gisierung dieser Notenvorgenommen
und stand dabeivorerheblichenkodikolo-
gischen Herausforderungen,weil bei der
Eingliederung dergeerbten Manuskripte
in die Hofbibliothek in Modena die alten
Signaturen nicht erhaltengeblieben sind.
Außerdem möchte man die in Bonn ange-

schaf ften und hergestelltenNotenvon de-
nen unterscheiden, die MaximilianFranz
beimRegierungsantritt 1784 ausWien
mitbrachte. In einer neuenUnterabtei-
lung der Bonner Schriftenzur Beethoven-
Forschung ist2018 dervonElisabethRei-
singer,Juliane Riepe und John D.Wilson
bearbeiteteKatalog der Opernpartituren
erschienen.
Dassder jüngste Sohn derKaiserin Ma-
riaTheresia in seinem Hoftheater nie
eine Oper derKomponistenaus dem
Kreis seiner Hofmusiker aufführen ließ,
istnicht als Geringschätzung desPerso-
nals zu interpretieren, sondernwar Ef-
fekt einer Programmpolitik,die imWett-
streit der Hofmusikstädte ein überregio-
nal attraktives aktuellesRepertoirevom
Kaliber der „Hochzeit desFigaro“präsen-
tieren wollte. DerKurfürst spielteselbst
die Bratsche, das Instrument, für dasBeet-
hovenimHoforchestereingeteilt war,
sang beim halböffentlichenStudium der
neuesten Operndem Zeugnis einer musik-
kritischenZeitschriftzufolg e„die meis-
tenArien“ selbstund galt als „fertigerPar-
titurleser undgenauer Beurteiler“.
Anna Sanda, die an der Erstellung des
vorder PublikationstehendenKatalogs
der KirchenmusikbibliothekvonMaximi-
lian Franz beteiligt war, sprac hüber den
Neubau der Orgelder Bonner Hofkirche,
die der Brand deskurf ürstlichen Schlos-
ses 1777 erforderlic hmachte. DievonMa-
ximilianFranz vorgesehene Orgelwar
deutlichkleiner als Instrumente, die zur
gleichenZeit für andereKirchen in sei-
nem Erzbistum gebaut wurden. Aber
wenn derKurfürst die ihmvorgeschlage-
ne Disposition des Orgelpositivsals „lä-
cherlich“ rügte,weil zu vieleRegister„der
Instrumentalmusik schädlich“wärenund
„so ungereimten Effekt“ machen müssten
wie die Orgeln derFranziskaner in Brühl
und Bonn, dannwarwohl auchdiese Spar-
samkeit Ergebnis genauer Beurteilung.
Beethoventeiltesichdie Stelledes Hof-
organisten mitseinem LehrerChristian
GottlobNeefe. InsReichder Legendege-
hörtdie Vorstellung, er habesich später
für die Schöpfung der Missa solemnis zu-
nächsteinmal die Grundlagen der Messe
aneignen müssen.Konrad erläutertin sei-
nem Aufsatz, dassBeetho vens regelmäßi-
gerDienstanOrgel und Cembalodie
Grundlagefür sein kompositorisches
Handwerklegte,weil derUnterricht an
den Tasteninstrumenten imPartimento-
Verfahren erfolgte, anhand bezifferter
oder unbezifferter Generalbass-Stim-
men. „Das Partimento-Prinzip“, postu-
lierte jetzt RobertLevin in Bonn, „hat
eine enormeAusstrahlung“: Fürdie
durch diese SchulegegangenenMusiker
seien Aufführen, Ergänzen und Improvi-
sieren einsgewesen. Levinvermutet des-
halb, wie er am Flügel zu demonstrieren
unternahm,dassinBeetho vens frühes-
ten, demKurfürsten gewidmetenKlavier-
sonaten die angeordnetenWiederholun-
gennicht zur identischenWiedergabe,
sondernzur freihändigenFortentwick-
lung gedachtgewesen seien. Später sei
dieseÜbung ausgestorben.
„Irgendwann zu Beethovens Lebzeiten
gewinntVerzicht überWagnis.“ Dieser
Befund Levinsstellt nun das bürgerliche
Bild vomÜbergang vonder höfischen zur
bürgerlichen Musikpraxis auf denKopf.
Wilson, der wie Levin alsKonzertpianist
ausgebildetist und seine Dissertation
über Beethovens Tonartencharakteristika
schrieb, arbeitet an einer Biographie über
den jungen Beethoven, die auchbei den
jungenKollegen Charlotte Seithersauf
Neugier stoßen dürfte, da ein Hofmusiker
alles sein durfte, nur nicht dominant.
Ohne Motivzitat aus der Genietradition
konnteindes auchSeither den Geistder
heutigenTonsetzer nicht beschreiben: „Je-
der macht das,wasermit größter Intensi-
tät, mitgrößter Kraft, mitgrößtemWil-
len verfolgt.“ PATRICKBAHNERS

Bonn war eineMessepro Woche wert


Beim Orgelspiel in der
Bonner Hofkirchewett-
eifer te er mit denStuck-
engeln. JosephNeesens
Silhouettedes Fünf-
zehnjährigen,gedruckt
1838in den „Biographi-
schen Notizen“ von
Wegeler und Ries, wird
nur seltenreproduziert
–weil dieser Beethoven
echt zu brav aussieht?
FotosBeetho ven-Haus Bonn
(oben), HelgeKlaus Rieder

Es gibt eineAlternative


Der HistorikerAnthonyJ.Nicholls sah in der Bundesrepublikein Ge genmodell zum nostalgisc hzerrissenen Großbritannien


Anthon yJ.N icholls Foto St Antony’sCollege

NurinWienkonnte


BeethovenBeetho ven


werden, glauben die


Biog raphen. In seiner


Geburtsstadt hörte


mannun umstürzende


Einsichten überdas


Musiklebenseiner


höfische nLehrjahre.

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