Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.02.2020

(ff) #1

Die ErmordungvonIngridEscamilla
hätteunbemerkt in die mexikani-
schen Mordstatistiken eingehenkön-
nen. Dochsie lös te einenAufschrei
aus. Die 25 JahrealteFrauwurde vor
gut einerWocheimNordenvonMexi-
ko-StadtvonihremFreundgetöte t.
Im Streit er stachder Mann die junge
Frau mit einem Messer undverstüm-
meltesie. Nachder Tattauchten in
der Boulevardpresse Bilderder Lei-
cheauf, wasviele Mexikanerverur-
teilten. DieStaatsanwaltschaftleitete
zwar eine interneUntersuchung ein,
um aufzuklären, wie die Bilder an die
Pressegelangten. Dochdie Welle der
Empörungwarnicht mehr zustop-
pen. DieRufe gegenGewalt an Frau-
en wurden immer lauter,zuerst in
den sozialenNetzwer ken, dann auch
auf derStraße. Jüngstgingen in Mexi-
ko-Stadt und anderen Städten des
LandesTausende auf dieStraße.Vor
dem Präsidentenpalaststellten femi-
nistische GruppenTransparentemit
ihren Botschaftenauf.
Präsident Andrés M anuel López
Obradorreagierte mit einigerVerspä-
tung auf die Proteste.ErstamMon-
tagsprac herinseiner allmorgendli-
chen Pressekonferenz über denFall
Escamilla und schrieb das Problem
dem Neoliberalismus zu,wasihm die
Kritik derFamilie der Ermordeten
einbrachte. Er arbeitedaran, diese
Fälle zu vermeiden, sagteLópez
ObradorvorReportern.Die Situati-
on in Mexikoerkläresichdurch die
„fortschreitende Verschlechterung,
die mit dem neoliberalen Modell zu
tun hat“.Noch am selbenTaggab die
Staatsanwaltschaftden Fund der Lei-
cheeines siebenjährigen Mädchens
bekannt, das am Samstagzuvor ent-
führtundgetötetwordenwar.IhrTod
befeuerte die Debatteweiter.
DieWelle derEntrüstung nach
demMordanEscamillakamfür vie-
le Mexikaner überraschend, wurde
dochder Gewalt anFrauen nie ein
besonderesAugenmerkgeschenkt.
Dochdie geschlechterspezifische Ge-
walt in Mexikohat zugenommen.
Nach offiziellen Angaben sind die
Morde anFraueninden vergange-
nen fünf Jahrenum137 Prozentge-
stiegen. Nichtregierungsorganisatio-
nen vermuten sogar nochhöhere
Zahlen, da dieVerbrechennicht im-
mer explizit als Morde anFrauen ge-
meldetoder kategorisiert werden.
Vonden rund viertausendgemelde-
tenMorden anFrauen im Jahr 2019
wurdennachAngaben desNationa-
len Systems für öffentliche Sicher-
heit nur 976 als sogenannte Femizide
eingestuft.
Der Protestricht et sichlaut Vertre-
terinnenvonFrauenorganisationen
auchgegen das mexikanische Justiz-
system, in dem Missbrauchund Ver-
brechengegenFrauen vernachlässigt
werden. Das hat in Mexiko–wie in
anderen LändernLateinamerikas –
auchkulturelle Gründe.Inder ausge-
prägten Männergesellschaftist das
ThemaFemizidumstritten. Das zeig-
te sichauchbei denReaktionenauf
den Fall Escamilla in den sozialen
Netzwer ken. Neben derVerurteilung
vonGewalt anFrauen sowie des me-
dialenUmgangs mit dem Themagab
es auchunzähligeBeiträge, die die
Proteste in Fragestellten und imTon
aggressiv gegenüberFrauen waren.
Der Zeitpunkt der Demonstratio-
nen kommt nichtganz zufällig. Der
mexikanische Generalstaatsanwalt
AlejandroGertz hattevor kurzem
die Absicht geäußert, die Klassifikati-
on desFemizids–also wenn eine
Frau spezifischwegen ihres Ge-
schlechts, zum Beispieldurch ihren
Partner,getötet wird–aus demStraf-
gesetzbuchzus trei chenund diese als
„normale“ Morde einzustufen. Das
würde nachoffizieller Argumentati-
on dieAufklärung der Morde be-
schleunigen. DieStaatsanwaltschaft
hat damit jedochfeministische Orga-
nisationen auf den Plangerufen: Sie
sind der Ansicht, dassdie Klassifizie-
rung notwendig ist, umFrauenmorde
sichtbar zu machen und das Problem
gezielt zu bekämpfen. AndereLänder
Lateinamerikas, in denen dieRate
vonFrauenmorden ebenfalls hoch
ist, haben die Gesetzgebung diesbe-
züglichinden vergangenen Jahren
verschärft.
Während die Bürgermeisterinvon
Mexiko-Stadt undParteikolleginvon
Präsident LópezObrador,Claudia
Sheinbaum,den Mord an IngridEsca-
milla und Frauenmorde allgemein
als ein „absolutverwerfliches “Ver-
brechenverurteilte, wirddie Reakti-
on derRegierung als zaghaftund un-
glücklichgewertet. Au fdie Pläne der
Staatsanwaltschaftangesprochen,
die Klassifizierung desFrauenmor-
des zustreichen ,sagteLópez Obra-
dor,dassdas Themavonregierungs-
kritischen Medien „manipuliert“wer-
de. JederUmstand werdegenutzt,
um eine Diffamierungskampagne los-
zutreten.


mic. PARIS.Gegen denrussischenAkti-
onskünstler PjotrPawlenskijund die fran-
zösische Jurastudentin Alexandrade
Taddeohat die Staatsa nwaltschaftin
ParisamDienstag ei nStrafverfahrenwe-
gen„Verletzungder Privatsphäre“und
„Verbreitungvon Bildernohne das Ein-
verständnisderbetroffenen Person“ ein-
geleitet. Den beiden Angeklagtendroht
eine Haftstrafe vonbis zu zwei Jahren.
Das Verfahrengeht au fdie Strafanzeige
desPolitikersBenjaminGriveaux zu-
rück,der sich nachder Veröffentlichung
intimerAufnahmen alsKandidat derPar-
tei„La République en Marche“ vonEm-
manuel Macron fürden Bürgermeister-
posteninParis zurückzog.
Die 29 JahrealteStudentingestand
nachInformationen ausPolizeikreisen im
Verhör,imFrühjahr 2018 über soziale
Netzwer ke eine virtuelle Beziehung zu
dem damaligenRegierungssprecher Ben-
jamin Griveaux unterhalten zu haben.
Griveaux habe ihr mehrereerotischeVi-
deoaufnahmen über einenverschlüssel-
tenNachrichtendienstauf ihr Mobiltele-
fongeschickt.Der Regierungssprecher
hattedabei die automatische Löschung

der Aufnahmen eine Minutenachder Ab-
rufung aktiviert. Die Studentin fertigte
aberohne Wiss en de sRegierungssprechers
eine Kopie der Aufnahmen an. ImPolizei-
verhör soll sie denVerdacht zurückgewie-
sen haben, an derWeiter verbreitungder
Bilderbeteiligt gewesen zu sein. IhreEltern
sagten der französischen Presse,ihreToch-
tersei in eineFalle geratenundwerdemani-
puliert. „Sieist keine Anarchistin undist in
keinerWeise politisch engagiert“, sagteihr

Bruder. Pawlenski jsollimPolizeiverhörge-
schwiegenund keineAussagen gemachtha-
ben. Die Regierungrechnetdamit, dass
der russische Aktionskünstler logistische
und finanzielleUnt erstützung bei der Ein-
richtung der inzwischengesperrten Inter-
netseite„Politporno“genoss, über die er
die Sexvideosdes Spitzenkandidaten der
Regierungsparteifür dasRathaus inParis
verbreit ete. Regierungssprecherin Sibeth
Ndiaye sagte, es brauchegewissefinan-
zielle undtechnologische Mittel, um eine
derartigeInternetseiteeinzurichten.Paw-
lenskijlebt mittellos in einer besetzten
Wohnung inParisund hat inFernsehge-
sprächengezeigt, dasserdie französische
Sprache nur eingeschränkt beherrscht.
Die Regierungssprecherin wies darauf
hin, dassdie Internetseiteohne Franzö-
sischfehler eingerichtet worden sei. „Die
Ermittlungenwerden zeigen, ob es sich
um einengrößeren politischen Manipula-
tionsversuchhandelte“, sagteNdiaye am
Dienstag. DieStaatsanwaltschafthat be-
antragt,Pawlenskijwegen einesweiteren
Verfahrens inUntersuchungshaftzuneh-
men. DerKünstler hatteinder Sil vester-
nacht bei einerFeier zwei GästenVerlet-
zungen zugefügt.

I


nRom ging es am Montagabend
um das schwierigste Erbe der alten
Regierung ausFünf-Sterne-Bewe-
gung und Lega: die Sicherheitsde-
kretedes damaligen Innenministers Mat-
teoSalvini. Siewarendie Grundlagefür
die Sperrung italienischer Häfen für Schif-
fe mit geretteten Migranten an Bord. In
der Kabinettssitzung legte die parteilose
InnenministerinLuciana Lamorgese nun
ihren Plan zurReform der Sicherheitsde-
kretevor.Danachsollen dieverschärften
Bestimmungen für denKampfgegen das
organisierte Verbrechen beibehaltenwer-
den. Die Hafensperrung für Schiffe mit
geretteten Migranten an Bordsowie die
drakonischenStrafenfür privateSeenot-
retter beiVerstößen gegeneine Hafen-
sperrung oder ein Einfahrtverbotindie
Hoheitsgewässer sollen hingegen fak-
tischaufgehobenwerden.
Dochdie linkspopulistischeFünf-Ster-
ne-B ewegung widersetzt sich denRe-
formplänen der Innenministerin, die der
DemokratischenPartei (PD)nahesteht.
Schließlichhatten dieFünf Sterne wäh-
rend ihrergemeinsamenRegierungszeit
mit der Lega vonJuni 2018 bis August
2019den Dekreten Salvinis zugestimmt
und dessen migrationsfeindlichePolitik
mitgetragen.
Der Konflikt über die Sicherheits- und
Migrationspolitik istbei weitem nicht
der einzigeStreit, der in der seitAnfang
September 2019 regierenden Linkskoali-
tion unter Ministerpräsident Giuseppe
Conte derzeit ausgefochten wird. Zumal
die Fünf-Sterne-Bewegung,formal die
stärkste Kraf tder Koalition mit den meis-
tenParlamentsmandaten, befindetsich
in einer Identitäts- und Existenzkrise.
Ende Januar tratParteichef Luigi Di

Maio nacheiner Serieverheerender Nie-
derlagen beiRegionalwahlen zurück. Im
April will diePartei sich bei einem natio-
nalenKongress neu erfinden.
Die Unterstützerder Bewegung arg-
wöhnen, der sozialdemokratischeKoaliti-
onspartner wolle politische Errungen-
schaftenwie das Bürgergeld, daswäh-
rend derRegierungszeitvonFünf Ster-
nen und Legaeingeführtwordenwar,
wiederkassieren.Als weiter ewichti ge Er-
rungenschaftbetrachten dieFünf Sterne
die Abschaffung der „vitalizi“, der auf Le-
benszeitausgezahlten „goldenenPensio-
nen“ fürParlamentarier.Gemeinsam mit
der Legahatten dieFünf Sterne durchge-
setzt ,dassdie Pensionen für die gut 2000
einstigenVolksvertreter rückwirkend an
die effektiv eingezahlten Beiträgeange-
passt werden. Das soll Einsparungen für
den Steuerzahlervonjährlic hrund 280
Millionen Eurobringen. Mehrere ehema-
ligeParlamentarier betrachten dieKür-
zungihrer Leibrenten alsverfassungswid-
rigund kämpfenvorGericht und auchpo-
litischdafür,dassdie Reform rückgängig
gemacht wird.
Innerhalb derKoalition, zu der neben
Fünf Sternen und Sozialdemokraten
auchdie beidenKleinparteien Italia Viva
des früheren Ministerpräsidenten Mat-
teoRenzi und die linksökologischen
„Freien und Gleichen“ unter dem frühe-
renSenatspräsidenten PietroGrassoge-
hören, gibt es anweiterenFrontlinien
Kämpfe.Die schwersteKrise hat zuletzt
Renzi provoziert,weil er sichmit aller
Macht dem PlanvonJustizministerAlfon-
so Bonafede (Fünf Sterne) widersetzt,
die Verjährungsfristen inStrafver fahren
faktisch abzus chaffen.Die FünfSterne ar-
gumentieren, dasswegen der schwerfälli-
genitalienischen Justiz zahlreicheStra f-
tatenungeahndetblieben,weil dieVer-
fahren nichtvordem Ablauf derVerjäh-
rungsfristeninletzter Instanz abgeschlos-
sen werden könnten.Renzi hatgegendie
Reformpläne verfassungsrechtlicheBe-
denken und kritisiertzudem, dassVerfah-
rendann nochlänger dauernwürden,
statt rascher abgeschlossen zuwerden.
DassimJustizwesen dringenderRe-
formbedarfbesteht, istunstrittig:Stra f-
verfahren dauerninItalien bis zum
rechtsgültigenAbschlussindritter In-
stanz durchschnittlichfastvier Jahre,in
manchen Gerichtsbezirkenmehr als
sechs Jahre. In den meistenEU-Staaten
sind vergleichbareProzesse nachgut ei-

nem Jahrabgeschlossen. ZumalSilvio
Berlusconiund dessen Anwälte beherr-
schen dieKunstdes „Aussitzens“ meister-
haft:Zehn Prozessegegenden Unte rneh-
mer und Mehrfach-Regierungs chef kolla-
bierten, weil die Verfahren nicht bis zum
Ablaufder Verjährungsfristen abge-
schlossenwerden konnten.
Nach BonafedesRefor mplan soll der
Ablaufder Verjährungsfristen nachei-
nem Schuldspruchinerster In stanz aus-
gesetzt, bei einer Bestätigung desUrteils
in de rBerufungsinstanz sogarganz ge-
stopptwerden: Die entsprechendeStra f-
tat würde auf jedenFall geahndet, unab-
hängigdavon, wie langeesbis zumUrteil
in letzterInstanz dauert. Dem Gesetzent-
wurfstimmte das Kabinett amFreitag-
aben dzu, allerdings ohne dieStimmen
vonRenzisPartei Italia Viva: Landwirt-
schaftsministerinTeresa Bellanova und
Familienministeri nElena Bonetti hatten
auf GeheißvonPartei chef Renzi dieRe-
gierungssitzunggeschwänzt.Ministerprä-
sident Contereagierte wütend.Kabinetts-
sitzungen seien Pflichtveranstaltungen,
sagteConte. DerRegierungschef emp-
fahl Renzi, der seine neue zentristische
Partei er st MitteSeptember alsAbspal-
tung vonden Sozialdemokratengegrün-
dethatte, er mögedie Regierungverlas-
sen, wenn er sich nicht derKoalitionsdis-
ziplinunter werfen wolle.

I


talia Viva istbei Umfragen nochnie
über vier Prozent hinausgekom-
men. Die neuePartei verfügt aber
über zweiKabinettsposten. Renzi
konntezudem 31Abgeordnete und 17 Se-
natorenvonden Sozialdemokraten zu
sichherüberlocken. Im Senatverfügt die
Koalition ohne dieStimmenvonItalia
Viva über keine Mehrheit.UmBonafedes
JustizreformdurchsParlament zu brin-
gen, will Contedie Abstimmung darüber
mit derVertrauensfrageverbinden.Renzi
sagt, seineLeute würden demRegierungs-
chef eventuell das Vertrauen ausspre-
chen, anschließend aber einen individuel-
len MisstrauensantraggegenJustizminis-
terBonafede einbringen. Contehält dem
entgegen, ein Misstrauensantraggegenei-
nen Ministerricht esichzugleichgegen
die gesamteRegierung.
Wiedas Armdrückenzwischen Conte
und Renzi ausgeht,steht dahin. Conte
versucht, einigevon Renzis Senatoren
zur Rückkehr zu den Sozialdemokraten
zu be wegen–mit demVersprechen at-
traktiverPosten in Ministerien.

Wütend:Conteäußertsichzum Fernbleiben zweierMinisterinnen vonder Kabinettssitzung amFreitag. FotoCorbis

Entführt,


erstoch en


Proteste weg en Gewalt


gegenFrauen inMexiko


VonTjerkBrühwiller,


SãoPaulo


Ankl agein PariserSexvideo-Affäre


Justiz leitet Strafver fahren gegenrussischen Künstler und französischeStudentin ein


Angeklagt:PjotrPawlenskij FotoImago

Salvinis schwieri gesErbe


Die Regier ung in Italien


istheillos zerstritt en.


Allei ndie Furcht vorder


rech tspopulistischen


Legaeintdie


Koalitionspartner noch.


VonMatthias Rüb


BRIEFE AN DIE HERAUSGEBER


Zu „Der größteBauer erntetdie kleins-
tenKartoffeln“ (F.A.Z.vom18. Januar),
Leserzuschriftvon Helmut Kiesel
(F.A.Z.vom5.Februar):Die Analyse
und klugeSchlussfolgerung vonLetzte-
remtreffen das aktuelle Problem der
missverständlichen Selbstdarstellung
der Landwirte und desgestörtenVer-
ständnisses der nicht länger nurvonih-
nen ernährtenBürger: „die defizitäre
kulturelleRepräsentanz der Landwirt-
schaf toder Bauernschaft“. Die Diskre-
panz dergegenseitigenWahrnehmung
beruht auf der bäuerlichen Selbstsicht,
dass sie–imSinne der überkommenen
ständischenTrias –die Ernährer desVol-
kesseien, auchder städtischen Bürger
und Gebildeten, auchdes Kaisersund
seinerRegierung. Solches auf die eigene
KulturreduziertesVerstehen ihrer sozio-
ökonomischenFunktion spiegeln litera-
rische Darstellungen im 19.und 20. Jahr-
hundert. Ein Beispiel sind die populären
Textedes niederdeutschen DichtersJo-
hann Hinrich Fehrs(1838 bis 1916). In
denhumorvollen, harmlos kritischen Er-
zählungenstellt er die dörfliche Kultur
dar und bestärktderen Neigungzur
Selbstisolierung. Der Landwirt,gekenn-
zeichnetvon Bauernschläue,Tumbheit
und Gewinnsucht, definiereseine Exis-
tenz als die des freien Grundbesitzers.
Er benutzeNatur,Personal,Tiereaus-
schließlich im ökonomischen Eigeninte-
resse. Er bestimme das Dorfleben, in
dessen erzählterWelt es nur ihngebe,
seine Arbeit undgeselliges Leben,keine

Lehrer,Ärzte, Läden, Bücher,Politik
und Zeitgeschichte–die ländliche Pro-
vinz, fernab vonGroßstadt und Indus-
trie.
Fehrsspricht über diese ländliche
Idylle, die Gefahr läuft, verlorenzuge-
hen und die er bewahren will, auch
durch die niederdeutsche Sprache mit ih-
reragrarkulturellenSemantik. Seine
Textesind für die soziale Integration
kontraproduktiv,verfestigen kulturelle
Eigenartund Isolierung, fördernfal-
sches Selbstbewusstsein und Ideologi-
sierbarkeit.Solche Voraussetzungen füh-
renzudem bizarrenPreislied vonFried-
rich Schnoor1907 :„O, wo wärdat nüd-
lich, /OpdeWelt gemütlich,/Harrn de
Plattdütschen datRegiment!“
Die patriotischeVerklärung des Land-
lebens unterstützen Durchhaltetexte im
Ersten Weltkrieg wie „Johann Hinrich
Fehrs’ Geburtsdagsfier in’n Schüttengra-
ben inFrankriek 1916“,vorbereitend de-
renPervertierung zur Blut-und-Boden-
Metapher und ihrerstaatlichgesteuer-
tenideologischen Überhöhung im soge-
nannten Reichsnährstand. Symptoma-
tischfür das wirklichkeitsfremde, auf
die deutscheNationbezogene Selbstbe-
wusstsein und die heutigeexistentielle
Irritatio ndes Landwirts angesichtsglo-
baler agrarökonomischerUmstände ist
der DialogvomEnde der 1930erJahre:
„Wat hestdudenn für’nFruheirat?“
„Een Lehrersdochter!“„Ach, Lehrer,de
Ärms te vondeArmen. Watder verdent,
dat mok ik all ut de Eier!“

DR.ALEXANDERRITTER,ITZEHOE

Der vonPräsidentTrumppräsentierte
„Deal des Jahrhunderts“ istnicht ganz
neu. Er ähneltmehreren siedlungspoliti-
schen PlänenIsraels aus derVergangen-
heit, so dem Allon-Planvon1967 und
den Plänenvon ArielSharonvon
(als Landwirtschaftsminister) und 2002
(alsPr emierminister).Gemeinsam istih-
nen ,den PalästinensernseparateSied-
lungsgebietewestlich des Jordantals zu-
zuges tehen, dasvonIsrael zu annektie-
rensei. ImUnterschied zum Allon-Plan,
der eineKonföderation derPalästinen-
sergebiete mit Jordanienvorsah, folgt
der gegenwärtig eKushner–insofern
dem zweiten Scharon-Plan, als ervonei-
nem palästinensischenStaat spricht.Da-
mit steht er in derTradition des Oslo-
Prozesses, den er mit einerWarnung an
die PalästinenserzuEnde bringen will:
Dies sei ihreletzte Chanceauf einen ei-
genen Staat.Allerdings hättendie Paläs-
tinenser,sowirdKushner zitiert(Majid
Sattar ,„Trumps Dealmaker“,F.A.Z. vom


  1. Januar), oftgezeigt,dasssie in der
    Lageseien, Gelegenheiten zuverpassen.
    Diehäufig verwendete Formulierung
    des früheren israelischen Außenminis-
    ters Abba Eban,die Araber würden jede
    Gelegenheit nutzen, Gelegenheitenzu
    verpassen, wirdhier vonKushner auf
    die Palästinenser bezogen. Allerdings
    gibtes in diesemFall für sie nichts zuver-
    passen: EinStaatsgebiet, das aus diver-
    sen „Archipelen“ (Joachim Stahnke,
    „NetanjahusTraum“,F.A.Z. vom30. Ja-
    nuar) bestehen soll,unter ihnen zwei se-
    parat eGebie te in der Wüste Negevent-
    lang der ägyptischen Grenze, würde
    wohl nur dann funktionieren,wenn die


Kontrahenten vonvornhereinbeste
Freunde wären. Solltedas zutreffen,
wäre eigentlichunklar,wozu diePalästi-
nenser dann einen eigenen Staat brauch-
ten. Es trifftaber nichtzu. Undsoähnelt
der Staat derPalästinenser aufKushners
Reißbrett dann eher einemkommerziel-
len Unternehmenmit Filialenindiver-
sen Landesregionen. Dieswäre auf ein
politischesGemeinwesen und eine unter-
nehmerfreundliche Infrastruktur ange-
wiesen.Das Gemeinwesen wäre Israel,
Palästina ein Subunternehmer. Sollte
der ImmobilienentwicklerKushner mit
seinem Plan, der imkuri osen Projektei-
nes HochtechnologieparksimWüsten-
sandgipfelt, einesolcheVorstellung ver-
binden?
Im Unterschied zu früheren amerika-
nischen Akteuren,dieals Vermittler zwi-
sche nKontrahentenwahrgenommen
werden wollten, fordertKushnervon
denPalästinensernoffen diebedingungs-
lose Kapitulation.Dassdiesmit demVöl-
kerrecht nichtzuvereinbaren ist,küm-
mertseinen Schwiegervate rimWeißen
Hauskaum. Dessen Affekt gegenden
Multilateralismusdroht nicht nur Millio-
nen Araberinden besetzten Gebieten
endgültigzuentrechten undgefährdet
nicht nur israelischeAraberin deren Bür-
gerrechten. Mit seinen Festlegungen
zum Jordantal und zum Tempelberg
setzt derPlander amerikanischenRegie-
rung auchIsraelsFriedensvertrag mit
Jordanien aufsSpiel und bringt damit
womöglichdie Sicherheitsarchitektur im
östlichenund westlichenUmkre is Isra-
els insWanken.

DR.VEITFRIEMERT,BERLIN

Zu „Der Westen führt, der Ostenfolgt“
(F.A.Z.vom14. Februar): Geht man da-
vonaus, dasspolitische Mitsprache und
Macht durch die Zahl der Mandateim
Bundesrat abgebildetwirdund damit
die Möglichkeit,Politik zugestalten,
dann istdie Aussage„der Westen führt,
der Ostenfolgt“falsch: Wirvergessen
immer wieder das Übergewicht der
Mandatszahlen der neuen Bundeslän-
der im Bundesratgegenüber den „al-
ten“ Ländern: Die neuen Bundesländer
ohne Berlinstellen etwa 15 Prozent der
deutschen Bevölkerung, haben aber
mit 19 Mandatenrund 27,5 Prozent der
Stimmen,während die Länder NRW,
Bayern und Baden-Württemberg,die
mehr als die Hälfte der Bevölkerung

stellen (von ihrer prozentualenWirt-
schaftskraftabgesehen), nur 18 Manda-
te haben, das heißtweniger als die neu-
en Bundesländer.Besonders krasswird
das Verhältnis, wenn man NRWmit
rund 18 Millionen Einwohnernmit 6
Mandaten und einem Bevölkerungsan-
teil vonrund 22 Prozent heranzieht.
Der kleinsteRegierungsbezirkMüns-
terland mit 2,6 Millionen Einwohnern
istgrößer als jedes der neuen Bundes-
länder mitAusnahme Sachsens, dasge-
rade mal an denRegierungsbezirkDüs-
seldorfheranreicht (abgesehen von
dem RegierungsbezirkKöln mit mehr
als 5Millionen Einwohnern).

HELGEHANSBURGHARDT,MONHEIM

ZumBeitrag „Endlichausatmen“von Jo-
chen Buchsteiner (F.A.Z.vom1.Febru-
ar): Es istdoch geradezu rührend, wie
Boris Johnsonvoneiner führendenRol-
le schwärmt, die Großbritannien in der
Welt spielenwerde, jetzt nachdem sein
Land dabei sei, sichvon denFesseln der
EU zu befreien. JaneAusten oder Tho-
mas Hardy lassengrüßen odergerade
nochWinstonChurchill. Das istleider
nicht mehr als ein möglicherweise sogar
liebenswerterRomantizismus. Da spielt
einer mit dergroßen Historie seines
Landes undverspielt sie am Ende noch.
Während überall in derWelt völlig an-
dereschwerwiegende Probleme anste-
hen, leistetsichEngland, leistetsichEu-
ropa derlei Spielchen. Es istwie bei klei-
nen Kindernund spricht irgendwoinun-
serenZeiten auchfür Europa, dasshier
alle amüsiertbis besorgt einwenig mit-
spielen,weil es dochsoaufregend ist,
die je weiligenAbstimmungen imUnter-

haus verfolgt zu haben, die Märchen,
die handfestenLügen, die da aufgetischt
werden, zu bewerten. Das istunterhalt-
samer,spannender,als sic hzuüberle-
genund vorallem umzusetzen, wie man
die CO 2 -Wertereduzierenoder die
Flüchtlingsproblematik lösenkönnte.
Ichselbstbin einFander feinen engli-
schen Art, habe mitgroßer Begeiste-
rung wie sehr viele hier in Deutschland
und wohl in derganzen Welt „Downton
Abbey“ gesehen. DieseWelt is tunwie-
derbringlichvergangen undgerade zwar
deswegen,weil sie sovöllig andersals
unsereWirklichkeitwar. Aber aus die-
ser PerspektiveheutePolitik machen zu
wollen, übrigens mit einer Mehrheit, die
weder Austen nochHardy gelesen ha-
ben dürfte, sondernvor allemvon„Frü-
her waralles besser“ träumt, istnicht
nachvollziehbar.

WOLFWIECHERT,WERTHEIM AMMAIN

Bauernohne kulturelleRepräsentanz


EnglischerRomantizismus


AufSand gebaut


Manchmal führtauchder Osten


SEITE 6·MITTWOCH, 19.FEBRUAR2020·NR.42 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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