Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1

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»Verhandlungen verlaufen in 95 Prozent der Fälle anders.
Es gibt fast immer eine Lösung, bei der Vorteile für
beide Seiten entstehen.« Entscheidend sei die richtige
Einstellung. Dafür hat Roman Trötschel zusammen mit
Valentin Ade eine Skala entwickelt, die scale of in ter ac tive
mindset. Sie erfasst die drei wichtigsten Eigenschaften
von guten Verhandlungsführern: Erstens Neugier, um
die Perspektiven und Sichtweisen der anderen Seite zu
verstehen. Zweitens Kooperation – die Verhandlung
nicht als Wettbewerb, sondern als gemeinsame Suche
nach einer Lösung zu begreifen. Und drittens Kreativität.
Roman Trötschel erklärt das so: »Eine Strategie, die auf
das dickste Stück vom Kuchen abzielt, ist natürlich
legitim. Der beste Weg ist aber, dass ich den Kuchen erst
größer mache und dann von diesem vergrößerten Kuchen
ein möglichst dickes Stück abbekomme.« Anders aus-
gedrückt: Wer die Verhandlungsmasse erweitert, dem
gelingt es besser, seine eigenen Interessen durchzusetzen,
weil der Widerstand der anderen Seite geringer ist. Und
dafür braucht man eben kreative Ansätze. Statt nur zu
streiten, ob man am Wochenende Schwiegereltern und
Schwester besucht oder nicht, könnte man also anbieten,
den Aufenthalt mit einer Fahrt ins nahe Wellnessbad
zu verbinden. Oder der Partner schlägt vor, nächste
Woche ein Gourmetdinner als Entschädigung für den
entgangenen Restaurantbesuch zu kochen.
Zur Vorbereitung empfiehlt Trötschel eine intensive
Auseinandersetzung mit den eigenen Zielen, Limits und
Interessen. Was möchte ich unbedingt erreichen? Was

sind meine Alternativen, wenn die Verhandlung schei-
tert? Was will die Gegenseite? Welche zusätzlichen
Ressourcen kann ich anbieten? Auch die Zukunft kann
eine Verhandlungsressource sein. Roman Trötschel
nennt das »Wenn-dann-Vorschläge«. Wenn die Eltern
dieses Wochenende nicht alleine mit der Gartenarbeit
fertig werden, dann helfen wir nächstes Wochenende.

Neugier, Kreativität, Kooperation – das klingt gut.
Und so vernünftig. Mit anderen Worten: nach dem
genauen Gegenteil von den Streitigkeiten, die ich oft
führe. Da fliegen Vorwürfe, fließen auch mal Tränen.
Da habe ich Wut im Bauch, wenn der andere einfach
nicht nachgeben will. Unter keinen Umständen. Wie
vor einigen Wochen, als ich eine Vorstellung des Circus
Roncalli besuchte, mit freier Platzwahl und langen
Bänken. Eine, bei der nicht jeder Platz gleich gut ist,

weil hin und wieder Stützpfeiler die Sicht versperren.
Um von diesen Stützpfeilern nicht gestört zu werden,
setzte sich eine alte Dame so dicht an mich heran, dass
ich ihren Atem riechen konnte. Und drängelte unent-
wegt mit spitzem Ellbogen, bis ich entnervt aufgab. Sie
hat ihren Willen durchgesetzt – mit purer Sturheit.
Ta t s ä c h l i c h k o n n t e e i n e i m Journal of Applied Psycho-
logy e r s c h i e n e n e S t u d i e z e i g e n , d a s s s i c h a g g r e s s i v e s Vo r-
gehen lohnt. Wer bei einmaligen Verhandlungen Wut
oder Ärger taktisch einsetzt, kann den Verhandlungs-
partner zu Zugeständnissen bringen. Für langfristige
Beziehungen aber ist das kontraproduktiv. Blowback,
Rückstoß, heißt der Effekt, wenn die vorgetäuschte Wut
der einen Seite echte Wut auf der anderen Seite hervor-
ruft und Vertrauen zerstört. Mit Freundlichkeit kommt
man hier weiter, zeigt eine Studie der Stanford University.
Die Forscher ließen Studierende um einen Firmenwagen
feilschen. Die Gruppe, die kurz vor der Verhandlung
mit dem Verkäufer plauderte, konnte ein stärkeres Ver-
trauensverhältnis aufbauen und schloss 60 Prozent ihrer
Verhandlungen erfolgreich ab. Der Vergleichsgruppe
gelang das nur in 40 Prozent der Fälle.
Hart in der Sache, freundlich im Ton: In Groß-
britannien, den USA und auch in vielen asiatischen
Ländern sei das selbstverständlicher als hierzulande, sagt
Matthias Schranner, Autor zahlreicher Verhandlungs-
bücher. Statt »Du musst aber verstehen, dass ...« heißt
es dort: »Tolle Idee! Aus meiner Sicht könnte es aller-
dings ein Problem geben.« Die Menschen betonen, was
sie geleistet haben, und sagen, wo sie sich Lösungen vor-
stellen können – und erst dann, wo aus bestimmten
Gründen wenig Spielraum besteht.
Auch der Verhandlungstrainer Ulrich Brock emp-
fiehlt eine positive, barrierefreie Sprache. Er schult Jura-
Studierende der Leibniz-Universität Hannover in den
Finessen des Verhandelns. Er sagt: »Wörter wie ›nicht‹,
›vielleicht‹ oder ›eigentlich‹ sollten gar nicht mehr vor-
kommen. Stattdessen muss ich eine Sprache verwenden,
die positiv nach vorne gerichtet ist, genau wie meine
Idee ja positiv nach vorne gerichtet ist.« Gerade bei
schwierigen Gesprächen, sagt Brock, etwa wenn ein
Partner die Beziehung be enden will, helfe die Sprache.
Statt der Formulierung »Ich möchte nicht mehr mit dir
zusammen sein« schlägt er vor: »Es war eine gute Zeit
mit dir. Ich sehe die Zukunft aber anders.« Er sagt: »Mit
einer positiven Linie kann ich den anderen mitnehmen.
Er kann mir folgen, ohne das Gesicht zu verlieren. Er
kann sagen: ›Ja, das stimmt, was du sagst‹, und von
diesem gemeinsamen Bild können wir weitergehen.«

Mein Wille geschehe – durch Freundlichkeit? Ein
Blick auf die Weltbühne offenbart ein anderes Bild.
Trump, Putin, Erdoğan – viele, die in der Weltpolitik
ihren Willen durchsetzen, sind nicht gerade Sympathie-
träger. Im Gegenteil: Ihnen wird Machthunger vorge-
worfen, Selbstherrlichkeit, Ma ni pu la tion. Männer wie

Wer den Kuchen
vergrößert, setzt
sich eher durch, weil
die Gegenseite auch
davon profitiert
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