Missachtung ernten. Wann werden sie in den Arm
genommen: wenn sie etwas gut gemacht haben oder
wenn ihnen etwas nicht so gut gelungen ist und sie
Trost brauchen? Wann sind sie ihren Eltern ganz nah:
wenn sie aus eigenem Antrieb etwas erreicht haben oder
wenn sie sich genau an die Vorstellungen von Vater und
Mutter gehalten haben?
Emotionale Familienaufträge tarnen sich gut. Sie
können sich sogar in Vornamen verstecken. Vielleicht
trägt der unschuldige Name Friedrich die Hoffnung in
sich, dass das Kind so weltläufig wird wie der Großvater.
Oder eine Maren war einst die beste Freundin der Mut-
ter, bis sie sich zerstritten haben – und nun soll dieses
gute Gefühl der Verbundenheit in der Tochter Maren
wiederauferstehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhiel-
ten viele Kinder die Vornamen der Gefallenen oder Er-
mordeten, und ihnen wurden deren Charakterzüge zu-
gewiesen. Die Psychotherapeutin Dina Wardi hat die
Kinder von Holocaust-Überlebenden »lebende Ge-
denkkerzen« genannt, ihr Auftrag: die verlorenen Men-
schen zu ersetzen. In Vornamen kann auch eine Fa mi-
lien tra di tion durchscheinen oder eine Zugehörigkeit zu
einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Vielleicht soll
der Vorname aber auch besonders gebildet klingen oder
orien tiert sich an einer berühmten Person und verweist
so auf einen Auftrag. »Sei bitte so wie dieser Mensch«
bedeutet aber auch häufig: »Sei nicht so, wie du sein
möchtest.« Besonders schlimm kann es werden, wenn
die Eltern sich ein Mädchen gewünscht haben (und
schon einige Aufträge für sie im Kopf haben) – und es
wird ein Junge. Dann kann es passieren, dass dessen
Aufträge unerfüllbar bleiben, sosehr sich der kleine
Kerl auch plagen mag.
Familienaufträge äußern sich gern in Merksätzen.
Viele Familien haben ihre eigenen Wahlsprüche, die über
Generationen weitergegeben werden. »Ein Indianer
kennt keinen Schmerz.« – »Dir soll es einmal besser
gehen« (mit dem Rückschluss, dass man versagt hat,
wenn es einem aus Sicht der Eltern nicht besser geht
- schließlich hatte man selbst doch alles, »wir hatten ja
nichts«). »Was sollen die Leute von uns denken?« Oder:
»Wer in der ersten Reihe steht, wird erschossen.« Das
klingt nach Großvaters Erfahrungen im Weltkrieg, aber
das hat auch heute eine ganz klare Bedeutung: Halt dich
lieber im Hintergrund, denn wer sich zu weit nach vor-
ne traut, lebt riskant. Flieg nicht zu hoch, mein kleiner
Freund. Wer so hoch hinauswill, der ist in Gefahr. »Bleib
lieber unsichtbar« lautet eine modernere Fassung dieses
Auftrags. Erreg keine Aufmerksamkeit. Mach dich
klein. Ein verwandter kleinhaltender Auftrag lautet:
»Werd nicht größer als ich«, »Überflügel mich nicht«.
Der kann das Leben prägen, führt die Erfüllung doch
dazu, dass sogar Erwachsene ihre eigene Karriere immer
wieder torpedieren, um den Vater oder die Mutter be-
ruflich nicht zu übertreffen. Sie folgen einem geheimen
Wunsch ihrer Eltern, der verbal wohl nie geäußert
würde. Bei den Kindern aber kommt er an. Und führt
dann zu einer Angst, die ihr Fortkommen hemmt – der
Angst, zur Strafe die Bindung zur Familie zu verlieren,
»aus der Art zu fallen«.
Um das Fortkommen kann es auch im übertragenen
Sinn gehen: Familienaufträge können bindend wirken.
Wenn sie etwa verhindern sollen, dass die Kinder ihren
eigenen Weg gehen – denn schließlich führt der meist
weg von Mutter und Vater. Und die bleiben zurück.
Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein, Stock
und Hut stehn ihm gut, ist gar wohlgemut. Aber Mutter
weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr! »Sorg für
uns!« könnte so ein bindender Auftrag lauten. »Ohne
dich bricht hier doch alles zusammen!« Im schlimmsten
Fall: »Rette die Familie, geh nicht fort.« Da besinnt sich
das Kind, läuft nach Haus geschwind. Und lernt vielleicht
nie, eigene Bedürfnisse zu formulieren – schließlich
muss es sich ja um die anderen kümmern. Solcherart
bindende Aufträge sind wie geschaffen dafür, dass das
so stark gebundene Kind sie später auch an den eigenen
Nachwuchs weitergibt.
Ebenso wirksam ist Schweigen. Wenn über etwas nicht
geredet werden darf. Dass Mutter trinkt. Dass Opa in
der SS war. Dass Vater eine heimliche Geliebte hat.
Dass die Firma insolvent ist. In Familiengeheimnissen
stecken mehrere Botschaften, inhaltliche und formelle.
Das, worum es geht, ist oft schambehaftet, der Auftrag
lautet: Erzähl niemandem davon! Und dass darüber
nicht geredet werden darf, birgt in sich die Lehre, dass
Offenheit nach außen schlecht ist und Kom mu ni ka tion
nach innen nicht gewünscht ist. So wird das Kind
zum Hüter der Integrität seiner Familie und zu einem
Geheimnisträger seinen Gefühlen gegenüber. Denn
worüber nicht geredet werden darf, das muss auch im
eigenen Inneren möglichst unangetastet bleiben.
»Auf unserer Reise durchs Leben tragen wir fami-
liäre Erwartungen, Aufträge und Botschaften oft wie
sperriges Gepäck mit uns herum«, sagt Sandra Konrad.
Das Problem: »Wir verinnerlichen die elterlichen Stim-
men und haben sie irgendwann so integriert, dass sie
sich wie eigene anfühlen.« Was uns vorgedacht wurde,
können wir dann nur schwer von unseren eigenen
Gedanken trennen. Introjekte nennt die Psychologie
solche inneren Repräsentationen anderer Menschen,
deren Wünsche und Bedürfnisse in uns widerhallen. Etwas
in uns klingt dann wie unsere eigene Stimme – eigentlich
Emotionale Familien-
aufträge tarnen sich
gut. Sie können sich
sogar im Vornamen
des Kindes verstecken