Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1


also Hamlets »Es gibt mehr Ding’ im Him-
mel und auf Erden, als Eure Schulweisheit
sich träumt, Horatio«.
Wie antworten Sie als Evolutionssoziologe
auf die Theodizee?
Für einen Optimisten wie mich, der an das
Gute im Menschen glaubt, ist das eine
Herausforderung. Ich spreche von der »So-
ziodizee«: Wie sollen wir auf das Gute im
Menschen vertrauen angesichts des offen-
kundigen Übels? Wenn ich darüber nach-
denke, hilft mir das Konzept »Wabi-sabi«
aus der japanischen Ästhetik. In der euro-
päischen Ästhetik geht es um Symmetrie
und Perfektion, denken Sie an diese Büsche
in Ver sailles, die zu perfekten Pyramiden
oder Kugeln geschnitten sind. Aber im
Wabi-sabi gilt zum Beispiel eine Schale, die
einen Riss hat, als eine schöne Schale. Es ist
die Wertschätzung der Schönheit trotz Un-
vollkommenheit. So sehe ich die Soziodizee:
Wir können die Schönheit und Ordnung
sozialer Systeme würdigen, obwohl unsere
Spezies auch grausam sein kann.
Warum erforschen Sie das Gute und nicht
das Böse?
Sowohl die Wissenschaft als auch die breite
Öffentlichkeit haben sich zu sehr auf die
dunkle Seite der menschlichen Natur ka-
priziert. Der guten Seite wird die Aufmerk-
samkeit verweigert, die sie verdient – ich
fühle mich gerade wie in Star Wars, wo es
ständig um die dunkle und die helle Seite
der Macht geht. Die helle Seite ist jedenfalls
stärker als die dunkle. Denn der Nutzen
eines sozial vernetzten Lebens muss in un-
serer Evolution größer gewesen sein, als die
Kosten es waren. Wenn ich mein Gegen-
über jedes Mal, wenn es in meine Nähe
kommt, belogen, getäuscht oder getötet
hätte, wäre ich als Tier besser dran gewesen,
ein einsames Leben zu führen. Wir sind
aber nicht so. Also muss die Annäherung an
andere mir mehr bieten, als sie kostet.
Wie sieht Ihre Forschung über die Genetik
der Freundschaft konkret aus?
Wir haben untersucht, wie Freundschaft
vererbt wird. Also inwieweit die Position in
einem sozialen Netzwerk – ich rede von
persönlichen Netzwerken, nicht von Online-
Netzwerken – vererbbar ist. Zum Beispiel,
ob man viele oder wenige Freunde hat.
Manche Menschen sind schüchtern, andere
gesellig, außerdem unterscheiden wir uns in
der Wertschätzung von Freundschaft. Und
das ist zum Teil genetisch bedingt.


teste Beispiel sind Tiere, die sich gegenseitig
durch Alarmrufe vor Gefahr warnen.
Erdhörnchen.
Warum sollte ein Tier Alarm schlagen,
wenn es ein Raubtier sieht? Es zieht die
Aufmerksamkeit auf sich. Es erhöht sein
Risiko zu sterben, reduziert aber das Risiko,
dass alle anderen in seiner Gruppe sterben.
Wa n n i s t b e i m Me n s c h e n d i e Z u s a m m e n-
arbeit entstanden?
Um das herauszufinden, müssten wir in die
Vergangenheit reisen und die sozialen Netz-
werke der Menschen kartieren, die vor Tau-
senden von Jahren gelebt haben. Das geht
natürlich nicht. Stattdessen haben wir die
sozialen Netzwerke einer indigenen Ge-
meinschaft kartiert, die heute noch so lebt
wie unsere Vorfahren im Pleistozän. Näm-
lich die Hadza in Tansania, eine Jäger-und-
Sammler-Kultur. Es gibt nur noch etwa
tausend von ihnen. In Zusammenarbeit mit
einem der weltweit führenden Ethnologen
haben wir so gut wie alle erwachsenen Hadza
porträtiert und ihre Bilder auf große Poster
gedruckt. Unsere Postdoktorandin Coren
Apicella suchte die Hadza auf und fragte
sie, wer ihre Freunde sind.
Mit welchem Ergebnis?
Diese Netzwerke gleichen denjenigen, die
man etwa hier in Berlin vorfinden würde.
Sie haben zum Beispiel die Eigenschaft der
Transitivität, das heißt, dass die Freunde
einer Person un ter ein an der befreundet sind.
Das beobachtet man bei uns wie auch bei
den Hadza. Oder die Struktur des Netz-
werks, also das Muster der Beziehungen:
bei uns dieselbe wie bei den Hadza. Ob-
wohl also andere Kulturen die Landwirt-
schaft, Städte und Telekommunikation er-
funden haben, hat sich die grundlegende
mathematische Struktur der menschlichen
sozialen Interaktionen nicht verändert.
Dieses Ergebnis hat uns wirklich begeistert.
Wir haben dann soziale Netzwerke auf der
ganzen Welt untersucht, in Indien, Uganda,
den USA, im Sudan. In Honduras haben
wir 30.000 Menschen in 176 Dörfern erfasst,
eine der größten Studien, die es jemals gab.
Wa s w a r d a s Fa z i t d i e s e r St u d i e n?
Etwas sehr Fundamentales. Wenn man
fragt: Wie funktionieren die Nieren der
Menschen?, würde man feststellen, dass so
ziemlich überall auf der Welt die Nieren
der Menschen nach demselben Prinzip ar-
beiten. Nun könnte man die Frage stellen:
Wie funktioniert Freundschaft? Dann sage

Haben Sie Freunde und Freundinnen dafür
mit DNA-Tests untersucht?
Diese Studie war eine klassische Zwillings-
studie: Wir haben Freundschaftsnetzwerke
von gleichgeschlechtlichen zweieiigen Zwil-
lingen mit denen von eineiigen Zwillingen
verglichen. In einer anderen Arbeit haben
wir die genetische Ähnlichkeit von befreun-
deten Menschen untersucht. Wir konnten
zeigen, dass Menschen bevorzugt diejenigen
als Freunde auswählen, denen sie genetisch
ähneln. Und zwar so, als wären sie Cousins
vierten Grades.
Wie bitte?
Wenn Sie in einer Bevölkerung Paare von
Freunden identifizieren, sind diese sich ge-
netisch ähnlicher als Paare von Fremden.
So wie Ameisen- oder Bienenvölker? Deren
Individuen kooperieren doch mit ein an-
der, weil sie genetische Klone sind.

Genau. Wir binden uns vorzugsweise an
Menschen, die, obwohl sie nicht unsere
Verwandten sind, funktionell unsere Ver-
wandten sind. Aus Sicht der Evolution
macht das keinen Unterschied. Den Genen
ist egal, ob Sie sich an Ihre eigentlichen
Cousins binden oder an Menschen, die die
gleichen Gene wie Ihre Cousins haben.
Andere Wissenschaftler haben die Netz-
werke von Elefanten und Delfinen kartiert
und ganz ähnliche Strukturen gefunden.
Die natürliche Selektion hat also mehrmals
die gleiche Antwort auf die Frage gefunden,
wie wir sozial zusammenleben können. Sie
hat uns die Fähigkeit zur Bildung sozialer
Netzwerke mitgegeben.
Es klingt jetzt nicht so überraschend, dass
Menschen, die zusammen auf die Jagd
gingen, erfolgreicher waren als diejenigen,
die ein Mammut allein erlegen wollten.
Großwildjagd ist eine Erklärung. Aber wir
sind nicht das einzige Tier, das zur Koope-
ration fähig ist. Schon Darwin hat darüber
gerätselt, vor allem über Kooperation, die
mit einem Risiko einhergeht. Das bekann-

Man kann um die
ganze Welt reisen, so
ziemlich überall
findet man dieselbe
Art von Freundschaft
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