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Malte Ossowski
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Rot ist nicht nur die Liebe
Kristen R. Ghodsee: »Warum Frauen im Sozia-
lismus besseren Sex haben«
Hatten ostdeutsche Frauen mehr Spaß im
Bett als westdeutsche Frauen? Ein unregu-
lierter Kapitalismus sei jedenfalls schlecht
für Frauen, behauptet Kristen Ghod see.
Die US-amerikanische Historikerin und
Ethnografin hat den Zusammenbruch des
Staatssozialismus und den Wandel vom
Kommunismus zum Kapitalismus in Ost-
europa untersucht – »das perfekte Labor«,
um die kapitalistischen Auswirkungen auf
das Leben von Frauen zu erforschen. Einige
sozialistische Ideen könnten zu einem bes-
seren Leben, sogar zu einem besseren Sex-
leben verhelfen, behauptet sie. Schon Fried-
rich Engels schrieb 1884 von einer Zukunft
im Sozialismus, in der Frauen sich nieman-
dem aus ökonomischen Überlegungen heraus
hingeben müssen. Ghodsee, die eine Pro-
fessur für Russische und Ost euro päi sche
Studien an der Universität von Pennsylvania
hat, trägt allerhand belastbare Belege dafür
zusammen, dass sich vor 1989 in den ost-
europäischen Staaten weniger kommodifi-
zierte Beziehungen entwickelten, in denen
Frauen zur Ware wurden. Sie erinnert an
die Idee der »wahren Liebe« von August
Bebel und Alexandra Kollontai und an die
Idee der »Mutterschaftsversicherung« von
Lily Braun – viel historisches Material, das
angereichert wird mit persönlichen Anek-
doten. Und so gelingt Ghodsee eine eben-
so eindrückliche wie unterhaltsame Kapi-
talismuskritik. Silke Weber
Suhrkamp, 277 S., 18 €
Schöner leben
in der möblierten Stadt
Vittorio Magnago Lampugnani: »Bedeutsame
Belanglosigkeiten«
Wir nehmen sie selten bewusst wahr, aber
sie prägen das Bild unserer Städte wie
Wahrzeichen oder Denkmäler – die vielen
öffentlichen Toiletten und Haltestellen,
Sitzbänke, Abfallkörbe oder Ampeln und
auch die sichtbaren Strukturen des Urbanen:
die Bodenbeläge, Bürgersteige und Schacht-
deckel. Für den Stadthistoriker Vittorio
Magnago Lampugnani sind diese Gegen-
stände und bebauten Räume materieller
Ausdruck von Bedürfnissen; hier kommen
»Leben und Gestaltung zusammen, im
Ideal fall Leben und Schönheit«. Er erzählt
die Geschichte ausgewählter Objekte, und
dabei erfährt man allerhand Er staun liches.
Dass zum Beispiel Trinkhallen ein gerichtet
wurden, um die Menschen davon abzuhal-
ten, zu viel Alkohol zu trinken. Dass im
London des 17. und 18. Jahrhunderts aus-
rangierte Schiffskanonen als Poller dienten.
Dass der klassische Abfallkorb der Sechzi-
gerjahre auf den Namen »Otto Orange«
hörte und die ersten Bürgersteige wohl etwa
2000 vor Christus in Anatolien entstanden.
Das Kleine deutet dabei auf das Große.
»Tatsächlich erzählen die kleinen Objekte
des Stadtraums nicht nur die eigene, son-
dern auch die Geschichte ihrer Stadt«,
schreibt Vittorio Magnago Lampugnani
und richtet einen Appell an die Architekten
von heute: »Sie dürfen die Gelegenheit
nicht ungenutzt lassen, die Stadt, ihre Ge-
schichte, ihren Charakter und ihre Kultur
rei cher zu machen« und auf Unverwech-
selbarkeit zu setzen, statt auf uniform
möblierte Innenstädte. Sven Stillich
Wagenbach, 192 S. mit zahl. Abb., 30 €
Erinnern heißt Gedanken weben
Paul Broks: »Je dunkler die Nacht, desto heller
die Sterne«
Wenn ein Neuropsychologe über den
Krebstod seiner Frau und seine Trauer um
sie schreibt, könnte man ein vergleichsweise
sachliches Buch erwarten. Doch was Paul
Broks zusammenträgt, ist in höchstem
Maße emotional und faszinierend. Er
taucht nämlich durch einen reißenden
Fluss aus Träumen, Tagebuchnotizen, Fall-
geschichten, Quantenphysik, Astronomie
und griechischer Mythologie und sucht
mit dieser wagemutigen Mischung nach
Antworten, welche seine Dis zi plin, die
Neuropsychologie, in der Beziehung zwi-
schen Gehirn und Geist vermutet. Aber was
ist der Geist überhaupt, fragt Broks. Was
macht uns aus? Wahrnehmung, Gefühl,
Verstand, Sprache oder doch unser Ge-
dächtnis? Er stellt bekümmert fest, wie we-
nig er erinnert – wo gehen sie hin, all die
Gedanken? Was webt unser Gehirn aus
dem, was wir erleben? Kurzum, was bleibt
von uns übrig? Am Ende seiner Analyse steht
die bittere Wahrheit im Sinne Scho pen-
hauers, dass seine Frau Kate »jetzt nirgend-
wo ist«. Doch »wie tief die Nacht auch sein
mag«, es zählt, »dass sie einmal da war und
das wärmende Wissen, dass sie ihr Leben
mit mir geteilt hat«. Hella Kemper
C. H. Beck, 320 S., 26 €
Wo finde ich mich?
Armin Nassehi: »Muster. Theorie der digitalen
Gesellschaft«
Hat die Digitalisierung die Welt zu einem
unberechenbaren, undurchsichtigen Ort
gemacht? Das Gegenteil ist der Fall, sagt
Armin Nassehi. Der Soziologe nimmt eine
pragmatische Perspektive ein, indem er
fragt: »Für welches Problem ist Digitalisie-
rung die Lösung?« Seine These: Mit ihrer
Hilfe können wir die komplexen Muster
der modernen Gesellschaft durchschauen.
Vor der Geburt des Digitalen schien unser
Zusammenleben einem unsichtbaren Regel-
werk zu folgen. Mithilfe von Big Data wer-
den diese verborgenen Strukturen sichtbar
und berechenbar. Es wird deutlich, dass wir
gar nicht so individuell und unabhängig
leben, wie wir glauben – die Partnerwahl
wird vom sozialen Status beeinflusst, ge-
nauso wie die Ernährung und der Gesund-
heitszustand. Entstehen kann ein nachvoll-
ziehbares Bild menschlichen Handelns –
das macht die Digitalisierung zu einem
Geschenk: Sie hilft bei der Suche nach der
sozialen Ordnung, einer Art Skript, an
dem sich unser Zusammenleben orien tiert.
Nassehis Analyse kann dabei helfen, sich
selbst im verworrenen Geflecht, das sich Ge-
sellschaft nennt, zu ver orten. Sophie Weller
C. H. Beck, 352 S., 26 €
Jede Träne eine Geschichte
Heather Christle: »Weinen«
Wir weinen vor Lachen und vor Glück, bei
Schmerz, Trauer und aus Enttäuschung,
aber warum weinen wir überhaupt? Und
dürfen wir immer weinen, wenn uns danach
ist? Eigentlich wollte die amerikanische
Lyrikerin Heather Christle eine Karte der
Orte erstellen, an denen sie jemals eine Trä-
ne vergossen hat – also eine Art Heul-Atlas.
Entstanden ist aber ein Buch, das einer
besonders emotionalen »Ausdrucksbewe-
gung« des Menschen nachspürt; manchmal
aphoristisch in zwei, drei Sätzen, als wäre es
ein Gedicht, ein andermal mitreißend as-
soziativ. »Die potentesten Tränen sind,
glaube ich, die, die man bei einem winzigen
Anlass inmitten einer größeren Tragödie
vergießt«, schreibt Christle. Schlüsselmo-
mente ihrer Tränen-Biografie sind eine Ab-
treibung, der Tod ihres besten Freundes und
die Geburt der Tochter – Glück und Leid
liegen nah bei ein an der, besonders beim Wei-
nen. Ihre Entdeckungsreise ins Reich der