SCHWEIZSDienstag, 18. Februar 2020 Dienstag, 18. Februar 2020 CHWEIZ
Missverständnis
zweier
Geheimdi enste?
50 Jahre nach dem Swissair-Absturz in Würenlingen
bleiben viele Fragen unbeantwortet. Jetzt sind in den
USA neuebrisante Hinweise aufgetaucht
In einemHangar am Flughafen Zürichwerden im März 1970die Trümmerteile der abgestürztenCoronado ausgelegt. ULLSTEIN / GETTY
MARCEL GYR, MARC TRIBELHORN
Bei regnerischem Wetter hebt am
- Februar1970 um 13 Uhr 14 eine
Coronado derSwissair vom Flughafen
Zürich ab. Das Ziel des Flugs istTel
Aviv. Doch sieben Minuten nach dem
Start meldet die Besatzung plötzlich
Probleme mit dem Kabinendruck, sie
vermutet eine Explosion imFrachtraum.
Flugkapitän Karl Berlinger, einRouti-
nier der Lüfte, entscheidet, nach Zürich
umzukehren.Wegen derRauchentwick-
lung im Cockpit hat er aber baldkeine
Sicht mehr auf die Instrumente. Das
Flugzeugkommt vomKurs ab, und als es
aus derWolkendecke schiesst, setzt Pilot
Berlinger um 13 Uhr 33 jenen tränen-
ersticktenFunkspruch ab, der bis heute
nachhallt:«We are crashing– goodbye
everybody – goodbye everybody.»
Im Sturzflug und mit 770 Kilo-
metern pro Stunde donnert dieSwiss-
air-Maschine in einWaldstück im aar-
gauischenWürenlingen, nur wenige hun-
dert Meter vomKernkraftwerk Beznau
entfernt. DreissigTonnenKerosin lösen
beimAufprall einenFeuerball aus – die
Menschen an Bord habenkeine Chance.
Neun Besatzungsmitglieder und 38Pas-
sagierekommen ums Leben. Den her-
beieilendenRettungskräften zeigt sich
ein Bild des Grauens:Auf der riesigen
Schneise, die das Flugzeug in denWald
geschlagen hat,liegen Leichen- und
Tr ümmerteile. DieWelt blickt geschockt
auf die Eidgenossenschaft. Nur Stun-
den später berichtet die NZZineinem
Extrablatt bereits von einem «Sabo-
tageverdacht». Dieser sollte sich als-
bald bewahrheiten: Zum Anschlag be-
kennt sich eineradikale Splittergruppe
der palästinensischenVolksbefreiungs-
front (PFLP-GC).
50 Jahre sind seither vergangen. Bis
heute ist«Würenlingen» der schlimmste
Terrorakt der Schweizer Geschichte –
Mord in 47Fällen. Doch dasVerbre-
chen bleibt ungesühnt, wichtigeFra-
gen bleiben unbeantwortet:Wer war
für die Sabotage inForm einerPaket-
bombe verantwortlich?War die Schweiz
bloss ein Zufallsopfer?Weshalb wurden
die schon bald identifizierten, dringend
tatverdächtigenPalästinenser nie zur
Rechenschaft gezogen – sondern, wie
imFall zweier mutmasslicher Gehilfen,
von den deutschen Behörden sogar wie-
der auf freienFuss gesetzt? Schliesslich:
Können neueRecherchen der NZZ in
amerikanischen Geheimdienstkreisen
die offenenFragen beantworten?
Wer sich in der verzwickten Causa
Würenlingen einenReim machen will,
reist am besten nach Hamburg.Dort,
im vornehmenViertel Harvestehude,
arbeitet derPolitikwissenschafterWolf-
gang Kraushaar. Mit profunden Stu-
dien zur 68er-Bewegung, zur RAF und
zum palästinensischenTerrorismus hat
sich Kraushaar einen Namen gemacht.
Der 71- Jährige empfängt uns in einem
schmucken Klinkerbau, wo er imAuf-
trag der Hamburger Stiftung zurFörde-
rung vonWissenschaft undKultur auch
imPensionsalter weiter forscht. Sein
Archiv über soziale Bewegungen ist
legendär, der schlohweisse Kraushaar
eine wandelnde Enzyklopädie.Namen,
Daten und Ereignisse rufterblitzschnell
ab, was ihm meist den Gang zu seinen
Zettelkatalogen erspart.
Herr Kraushaar, wieso befassen Sie sich
als Deutscher so intensiv mit demFall
«Würenlingen»?
Aus zwei Gründen. Zum einen war es der
erste terroristische Bombenanschlag auf
ein ziviles Flugzeug – zusammen mit dem
wenige Stunden zuvor von derselben
palästinensischen Kommandogruppe
verübten, aber zum Glück glimpflich ab-
gelaufenen Attentat auf eine Maschine
derAustrian Airlines. Diese war in
Frankfurt gestartet undkonnte nach der
Explosion derPaketbombe gerade noch
notlanden. In derTerrorismusforschung
ist der 21. Februar1970 also eine wich-
tige Zäsur. Zum anderen weist derFall
«Würenlingen» aber auch auf engeVer-
flechtungen zwischen Bundesdeutschen
und denFedayin hin. ArabischeTerro-
risten operierten in grösserer Zahl von
der Bundesrepublik aus und wurden in
ihrem antiisraelischen Kampf von Links-
undRechtsextremen unterstützt, die zu-
vor von ihnen gleichermassen im Gue-
rillakampf ausgebildet worden waren.
In einem Ihrer Bücher betonen Sie, dass
«Würenlingen» nicht isoliert betrachtet
werden dürfe. Wie meinen Sie das?
Eine Betrachtung aus einer reinen
Schweizer Perspektive erscheint mir
wenig zielführend. Schliesslich war das
Attentat auf die Coronado derSwiss-
air gewissermassen der Schlusspunkt
einer Serie von antiisraelischen An-
schlägen, die zwischen dem 10. und dem
- Februar1970 entweder in oder von
München aus verübt wurden. Angefan-
gen hatte das mit einem Überfall auf
eine El-Al-Maschine auf dem Flughafen
München-Riem, bei dem ein israelischer
Passagier getötet und mehrere schwer
verletzt wurden, darauf folgte ein
Brandanschlag auf das israelitische Ge-
meindezentrum in München mit sieben
Toten. DieAufgabe jenerPaketbombe,
die in derSwissair-Maschine landete, er-
folgte vermutlich von einemPostamt in
München aus und bildete den Abschluss
dieser unheimlichenSerie. Es waren
die schrecklichstenTaten, die sich in
Deutschland seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs gegenJuden gerichtet haben.
Wieso diese Häufung?
Am ehesten ist das mit dem Besuch
des israelischenAussenministers Abba
Eban unmittelbar nach dieser Serie
am 22.Februar1970 zu erklären. Es
handelte sich um den ersten offiziel-
len Besuch eines israelischen Minis-
ters in Deutschland. Eban hatte zur Be-
dingung gemacht, das ehemaligeKon-
zentrationslagerDachau zu besuchen.
Deshalb landete er erst einmal in Mün-
chen und nicht gleich in Bonn. ImVor-
feld hatte es eine antiisraelische Protest-
welle gegeben, bei derTeile derradika-
len Linken eng mit denPalästinensern
kooperierten.Das eigentliche Ziel des
Bombenanschlags, der von einer palästi-
nensischen Splittergruppe durchgeführt
wurde, war ja ein Flugzeug der israe-
lischenFluggesellschaft El Al. Dem
israelischenAussenminister sollten so-
zusagen zwei Bomben beziehungsweise
die Überreste zweier El-Al-Maschinen
vor dieFüsse geworfen werden.
Waren dieBesatzung und diePassagiere
der Swissair-MaschinealsoZufallsopfer?
Ja, genauso wie jene derAustrian Air-
lines. DieFrankfurterPaketbombe war
von einem fiktiven Absender an eine
Adresse inJerusalem aufgegeben wor-
den, die Münchner wahrscheinlich eben-
falls. Die Attentäter gingen davon aus,
dass sie bei einerbestimmtenFlughöhe
in den Frachträumen zweier El-Al-
Maschinen detonieren würden,die an
jenem 21. Februar1970 von München
beziehungsweise von Frankfurt nach
Tel Aviv fliegensollten. Doch durch selt-
sameGegebenheitenging dieser Plan
nicht auf: AmFrankfurter Rhein-Main-
Sufian Kaddoumi
Mutmasslicher
KEYSTONE Haupttäter
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