Neue Zürcher Zeitung - 18.02.2020

(Darren Dugan) #1

Dienstag, 18. Februar 2020 FEUILLETON 33


Die Welt scheint in den Händen starker Männer zu sein –


doch sie sind verwundbarer, als man denkt SEITE 34


Mit der Abspaltung der ukrainischen Orthodoxen


von Moskau droht die Kirche auseinanderzufal lenSEITE 35


Wer einsteigen will, braucht etwas Mut


Paternoster waren einst Symbole des Fortschritts, heute wecken sie nostalgische Gefühle.Von Be rnd Noack


Jetzt kommt das vierte Stockwerk. Und
dann geht es in dieDunkelheit. Die
Kabine ruckelt ein wenig, es wird etwas
lauter. Erst noch die schwarzeWand
direkt vor meinenAugen. Jetzt gleite ich
langsam hinein ineinen dunklen hohen
Raum mit einem riesigen Zahnrad. Es
riecht nach Maschinenöl. Aber was ge-
schieht nun mit mir?MeineFüsse auf
dem hölzernen Grund,meinKopf in der
Höh e. Werde ich jetzt auf denKopf ge-
stellt?Wird gleich meinKörper senk-
recht nach unten zeigen?
Ich fahre Paternoster. Und der alte
Witz geht doch so:Wer auszusteigen
vergisst, der wird aller Schwerkraft
zum Trotz auf demKopf stehend wie-
der abwärtsfahren.Aber nein, natürlich
ist das nicht so, wenngleich ein mulmi-
ges Gefühl bleibt. Standfest wird man
oben herumgehievt wie in einem Rie-
senrad, und nach Sekunden der Unge-
wissheit schwebt mankorrekt aufrecht
auch schon wieder langsam am vierten
Stockwerk vorbei, hinab, immer tiefer:
im Keller das gleiche Spiel, nur dass es
hier noch gehörig lärmiger zugeht.Da
arbeitet mitsteter, knatternder Kraft der
Motor vor sich hin, der das ganzeWun-
derwerk amRotieren hält.


Gepflegte Langsamkeit


«Es ist etwas Altes, aber man fühlt sich
herrlich jung darin», sagt beruhigend
und lockend der «Paternostermacher»
zum ängstlichen Erzähler inJess Joch-
imsensRoman «Abschlussball». Und
tatsächlich ist dieserAufzug, der be-
dächtig und ohne Unterbrechung seine
Kabinen durch die Etagen mehrstöcki-
ger Häuser gleiten lässt, ein technisches
Relikt aus vergangener Zeit, das uns
heute noch zu faszinieren versteht. Mit
einer Geschwindigkeit von gerade ein-
mal 0,25 Metern in der Sekunde bewegt
sich derPaternoster in derRegel gerade
so windstilleilig wie der Benutzer selbst,
um ihn ohne Gefahr zu besteigen und
wieder zu verlassen.
Diesebesondere Art der Benutzung
hat ihn vonAnfang an auch jedemFahr-
gast etwassuspektgemacht. Es gibt da-
für zahllose Zeugnisse, sei es aus dem
realen Leben, sei es aus Literatur oder
Film.Ähnlichmüssen die Nöte der Men-
schen gewesen sein,die1884 in England
erstmals vor einemPaternoster standen.
Sie mussten mit dieser Erfindung, mit-
tels deren zuvor nurLasten transportiert
worden waren,umzugehen lernen.Auch
bei den Hamburgern,die zweiJahre spä-
ter in einem der grossenKontorhäuser
den erstenAufzug auf demKontinent
sahen,überwog Skepsis. InVerwaltungs-
gebäuden (der Begriff «Beamtenbag-
ger» war schnell gefunden) undFabri-
ken, Kauf- undFunkhäusern zwischen
Berlin undWien, Prag und Zürich war
der Paternoster von Beginn des 20.Jahr-
hunderts an beimPersonal indessen
bald beliebter als dieTreppe.
«DerPaternoster ist eine Beschleuni-
gungsmaschine, die uns veranschaulicht,
wie wichtig die Zirkulation von Men-
schen und Gütern, vonWaren generell
geworden ist», sagt Peter Payer, Kustos
im Technischen Museum inWien. Inso-
fern passe er in den ganzen Beschleuni-
gungsmythos der Moderne, in das Effi-
zienzstreben «und auch in die bürger-
liche Denkweise». Schliesslich gehe es
um das Credo «Nütze deine Zeit!», auch
im Sinne eines wirtschaftlichen Erfolges:
ein Beförderungsmittel ohneWartezei-
ten, mit dem man permanent und wirt-
schaftlich sinnvoll überall hingelangen
kann in derVertikalen.Für Payer ist der
Paternoster dasSymbol desAufbruchs
in einer Ära,in der man ohne dauernde
Bewegung undSchnelligkeit kaummehr
bestehenkonnte.
Heute muten dieseAufzüge, die wie
aus derVergangenheitkommend an


uns vorbeiziehen, wie gemütlicheVehi-
kel an.Dabei waren sie ehedem nicht
nur beliebt und freiwillig stark frequen-
tiert.Fritz Lang zeigtein «Metropolis»
die ganz andere Seite des in derRe-
gel sanftrotierendenVerkehrsmittels.
In der Anfangssequenz des Monumen-
talfilms strömen Massen von Arbei-
tern wie getriebenesVieh inPaternos-
ter, deren Kabinen Hunderte fassen. Die
Szene zeigt einen mörderischenTrans-
port hinab in dieTiefe, aus dem man
ni cht ausbrechen kann: ein Fahrstuhl
wie zum Schafott. Er macht die Men-
schen zu Lemmingen, die sich willen-
los ins dunkle Nichts befördern lassen.
«DerPaternoster – dieser nie innehal-
tendeAufzug, der wie eine ununterbro-
cheneReihe von Brunneneimern den
neuenTurm zuBabel durchschnitt–
holte die Männer hoch und goss sie wie-
der aus», steht inFritz Langs Drehbuch
zu demFilm.
Man kann sich diesen Schrecken nur
schwer vorstellen,wenn man inWien im
Rathaus oder im Haus der Industrie am
Schwarzenbergplatz steht und die höl-
zernen kleinen Kabinen an sich vorbei-
ziehen sieht. Hier laufen noch die ori-
ginalen und wohl ältestenPaternoster
der Welt aus den1910erJahren.Ihren
Auftrag erfüllen sie zuverlässig und vor
allem dezent mit einem ganz feinen und
leisen Knacken undÄchzen des Gehöl-
zes und einem leichtenRumoren der
Ketten, an denen sie in die Höhe ge-
zogen oder in dieTiefe gelassen werden.
Man besteigt sie mit einem beherzten
Schritt und gleitet dann durch das Haus,
schwebend fast, vorbei an den offenen
Stockwerken.Je nachdem, in welche
Richtung man fährt, sieht man wartende
Menschen sich aufbauen: zunächst die
Schuhe, die Beine, den Oberkörper, den
Kopf. Sie werden gleich in der nächsten
Box zusteigen, eine Etage vielleicht nur
überwinden und wieder hinaustreten,
manche springen.

Ein Auslaufmodell


Ich zögere aber zunächst: Es muss ein
kalkulierter Entschluss sein,den Pater-
noster zu verlassen, um sicherenTritt
auf festem Boden zu erlangen. Gar
nicht so einfach – und dochrelativ un-
gefährlich. In der über 130-jährigen Er-
folgsgeschichte desPaternosters kamen
kaum nennenswerte Unfälle vor. Den-
noch sind dieAufzüge, die noch in Be-
trieb sind, mitWarnhinweisen versehen,
so ausufernd ausführlich wie Beipack-
zettel starker Medikamente.
Zwar fahrennoch weit über zweihun-
dert derartigeFahrstühle (indenen man
freilich nie sass!) in Deutschland, etwa
zwanzig in Österreich und einige wenige
alte Modelle in der Schweiz, es dürfen
aberkeine neuen mehr gebaut und
installiert werden. In der Bundesrepu-
blik untersagt zudem seit fünfJahren ein
Bundesgesetz die öffentliche Nutzung;
nur noch mit einer betriebsangehörigen
Begleitperson darf einFremder mit dem
Paternoster fahren.Dieser stirbt aus und
wird alsbald zum Museumsexponat.
Ich aber stehe immer noch allein in
meiner Kabine – mit dem Gefühl, wenn
es abwärtsgeht, zuschrumpfen, und
wenn es nach oben geht, zu wachsen.
Zum dritten Mal bin ich schon in die-
sem Kreislauf, mein Blick wie der einer
Kamera: an den unverputzten Mauern
zwischen den Stockwerken vorbei mit
der geschlossenen, dann sekundenkurz
nur mit der offenen Linse, die mir Zu-
fallsbilder liefert.Fragmente von Men-
schen,Leere, Böden und Decken,Leere,
die Beine einerFrau, der Hutein es
Mannes, ein Augenkontakt, ein fremder
Gruss irgendwo zwischen Himmel und
Erde. Das Leben blitzt auf und vergeht
gleich wieder – eine melancholische
Schon in den sechzigerJahren war der Paternoster einRelikt aus einervergangenenEpoche. FRIEDRICH/INTERFOTO Zeitreise und ein sinnlichesVergnügen.
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