Neue Zürcher Zeitung - 18.02.2020

(Darren Dugan) #1

40 SPORT Dienstag, 18. Februar 2020


Die frühere Weltnu mmer eins, Kim Clijsters,


steht in Dubai wieder auf dem Tenniscourt SEITE 38


Wenn Sportlegenden wie Robby Naish oder Boris Becker


die Weltpresse treffen, geht der Wettkampf weiter SEITE 39


Torfabrik mit Za hnarztstuhl


Atalanta Bergamo schiesst mehr Tore als alle anderen Teams der Serie A –und geht chancenreich in die Champions-League-Partie geg en Valencia


TOM MUSTROPH, BERGAMO


Die Atalanta spielt derzeit den besten
Fussball Italiens: 63Tr effer wurden in
24 Matches erzielt – der Spitzenwertin
der Serie A. Kantersiege wie einhisto-
risches 5:0 gegen dieACMilan trugen
zur Bilanz bei; in Europa schwächelte
der Klub anfangsjedoch.Der Champi-
ons-League-Auftakt ging mit einem 0:4
gegen Dinamo Zagreb und einem 1:5
gegen Manchester City daneben.Aus-
gerechnet gegen die Citizens leitete die
Atalanta aber dieAufholjagd ein. Nach
dem 1:1 imRückspiel im Mailänder San
Siro – wo die Equipe ihre internationa-
len Spiele austrägt – klagte Citys Coach
Pep Guardiola: «Zur Atalanta zukom-
men,ist wie ein Besuch beim Zahnarzt.
Es ist wirklich sehr hart.»
Die Zahnarztmentalität hat der
Coach Gian Piero Gasperini seinen


Mannen beigebracht. Die haben auf
demFeld zwarkeinen Bohrer dabei,
aber das äusserst aggressive Pressing
beginnt schon dann, wenn der gegneri-
scheKeeper inBallbesitzkommt. Die
Atalanta übt Druck aus und schaltet bei
Ballbesitz schnell um.Jederkennt die
Laufwege des anderen. «Entscheidend
ist,dass sich in den letztenzweiJahren
das Kader kaum verändert hat. Es ist
das erste Mal in meinerTr ainerkarriere,
dass ich zweiJahre am Stück mit den
gleichen Spielern trainieren kann», sagt
Gasperini über die wichtigste Ursache
des Höhenflugs.

Konstanzstat t Hektik


DerTr ainer ist seit 20 16 an Bord und
hat sein Offensivspiel, mit dem er zu-
vor eine Liftmannschaft wie den CFC
Genoa bis indie Europa League führte,

mit einem besseren Kader nun auf ein
höheres Niveau gebracht. Gasperini
war auch der Mann,der dem schon
alsVersager gehandelten Diego Milito
wieder Selbstvertrauen einflösste.
Milito wurde von Inter gekauft und
wurde mit den Nerazzurri Champions-
League-Sieger.
Ein geschickter Umgang mit Spielern
zeichnet ihn auch jetzt aus. Dem explosi-
ven Dribbler Alejandro «Papu» Gómez
gewährt er vieleFreiheiten. Ihm zuliebe
rückte er sogar vonseinem Dogma des
«OneTouch» ab, des schnellen Direkt-
spiels. Die Atalanta spielt zwar meist
zielgerichtet nach vorn. Steht aber die
gegnerische Defensive, setzt der quir-
lige Argentinier zu seinen gefürchte-
ten Dribblings an und kreiert oft auch
die Lücke. Er ist eine Art Provinz-Messi
und bei der Atalanta am genau richtigen
Ort. Zudem ist er lernfähig. Nach den

Anfangsniederlagen in der Champions
League analysierte er: «Der italienische
Fussball ist viel langsamer. Die europäi-
schenTopteams spielenimmer auf Sieg,
und ihr Pressing ist ohne Gnade. Sie ma-
chen das, was wir in Italien machen.» In
der Champions League aber habe Ber-
gamo Mühe gehabt, weil es dasTempo
nicht gekannt habe.
Die Eingewöhnungszeit ist nun ab-
geschlossen. Und jeder Spieler der Ata-
lanta weiss, dass eram Mittwochgegen
Valencia Geschichte schreiben kann.
Die grösstenVereinserfolge in Europa
sind schliesslich schon drei Jahr-
zehnte her. 1988 wurde der Halbfinal
im Cup der Cup-Sieger erreicht, 1991
derViertelfinal im Uefa-Cup. Damals
schwamm die Atalanta auf der Erfolgs-
welle der Serie A mit. Napoli, Juventus,
Inter undParma gewannen zwischen
1989 und1995 sechs Mal den Uefa-

Cup, Milanreüssierte drei Mal im Cup
derLandesmeister und in der Cham-
pions League. Die Sogwirkung der Liga
brachte immerhin Argentiniens Clau-
dio Caniggia, Stürmer in jenemTeam,
das1990 den WM-Final erreichte, nach
Bergamo.

Die besten Spieler behalten


Diejetzigen Erfolge schafft derVerein
ganz ohne Unterstützung von aussen.
Entscheidend für denAufschwung war
auch, dass sich der solide wirtschaftende
Klubbesitzer AntonioPercassi vor zwei
Jahren entschied, nicht mehr nur auf die
Einnahmen aus demTalenteverkauf der
Jugendabteilung zu setzen, sondern die
besten Spieler zu halten. Derzeit lässt er
zudem das Stadion erweitern – Schritte,
um auch mittelfristig in EuropasFuss-
ball einen Platz zu haben.

Fehlschüsse hat er nicht in seinem Repertoire

Erling Haaland verzückt Dortmund – ist der Norweger wirklich so gut, dass er zum grössten Stürmer seiner Generation werden kann?


STEFAN OSTERHAUS,DORTMUND


Der eine oder andere aus dem Dort-
munder Anhang dürfte aufgeatmet
haben, als Erling Haaland nach nicht
einmal einer Stunde mit demrechten
Fuss zum 3:0 gegen EintrachtFrank-
furt vollstreckte. Es ist nun also doch
keine Krise, in die der junge Norwe-
ger geschlittert ist, der zurRückrunde
von RB Salzburgnach Dortmund ge-
kommen ist. SiebenTorein drei Spielen
hatte er zuvor erzielt,eine unglaubliche
Quote – eineAusbeute, dieAuszeich-
nung und Bürde zugleich ist. Gleich in
seinem ersten Match gegenAugsburg
traf er drei Mal,rettete demBVB den
Sieg. Dann kam das vorletzteWochen-
ende, das Spielgegen Leverkusen. Haa-
land traf nicht – und mancher meinte,
dass Dortmund vor allem deshalb ver-
lor, weil Haaland nicht erfolgreich war.
War er bei bester Gesundheit?War
erkonzentriert genug? Oder hatte er
sein Pulver gar schon verschossen?
Das waren dieFragen, die allen Erns-
tes diskutiert wurden, als genügte nicht
einmal etwas mehr als ein Bundesliga-
spiel ohneTor, um davon zu sprechen,
was man eine elementareVerunsiche-
rung nennt. Doch nun, mit achtTr ef-
fern in fünf Spielen, glaubt sich der
junge Mann bereit für eine Prüfung,
wie sie schwerer kaum sein kann. Am
Dienstag empfängt Borussia Dort-
mund Paris Saint-Germain imAch-
telfinal der Champions League – ein
Duell, das gleich auf mehreren Ebenen
Brisanz verspricht. Zum einen ist Haa-
lands Coach LucienFavre nacheiner
Niederlage im Cup sowie dem unnötig
verlorenen Spiel gegen Leverkusen wie-
der verstärkt in der Kritik, zum anderen
wird PSG vom ehemaligen Dortmunder
CoachThomasTuchel trainiert. Dass all
dieseKonstellationen in denTagen vor
dem Anpfiff in den Hintergrund traten,
ist vor allem einVerdienst des jungen
Aufsteigers Haaland.


Brachiale Erscheinung


Viel ist schon überihnfabuliert worden,
ja mankönnte meinen: allzu viel. Kaum
ein Klischee ist nicht im Übermass stra-
paziert worden. Natürlich war Haaland
seiner Herkunft wegen derWikinger,
was umso besser passte, als er mit sei-
nen 1,94 Meternund den breiten Schul-
tern eine brachialeErscheinung ist. Und
seit er in Dortmundist und trifft, wie es
ihm beliebt, wird schon darüber spe-
kuliert, wie lange er es dort aushalten


wird. Schon wird von einerAusstiegs-
klausel berichtet, die es ihm erlauben
würde, die Borussia ab 2022 für eine ver-
gleichsweise bescheidene Summe wie-
der zu verlassen.Dass er, das mutmass-
licheJahrhunderttalent,auch andern-
orts Begehrlichkeiten weckt, kann kaum
verwundern. Und kaum einer, derRea-
list ist, wird davon ausgehen, dass Haa-
land länger als zweieinhalb Spielzeiten
in Dortmund bleiben wird.
Die Heldenlieder, die auf den jun-
gen Stürmer gesungen werden, sind
aber wohl eher eine Verlegenheits-
lösung. Was sollen dieJournalisten auch
sonst tun.Wer wie Haaland auf gerade
einmal 19 Lebensjahre zurückschauen
kann, der müsste schon aussergewöhn-
liche Dinge erlebt haben, um wirklich
interessant zu sein – mehr jedenfalls, als
tagein, tagaus seine Zeit auf demFuss-
ballplatz und der Schulbank verbracht
zu haben. Aber ErlingHaaland ist – ab-
gesehen von seiner geradezu verstören-
denTr effsicherheit – einTeenager, der
Profifussball spielt, und als solcher ist er
auch nicht viel interessanter als andere

Teenager, die Profifussball spielen.Als
er sich nach seinem Bundesliga-Match
gegenKöln, indem ihm gleich zweiTr ef-
fer gelangen, denFragen der Presse ent-
zog, äusserte «DieWelt»Verständnis:
«Vielleicht war es auch besser so, denn
was hätte der19-jährigeAusnahmestür-
mer, der ohnehinkeinFreund grosser
Worte ist, auch sagen sollen?»
Dennoch ist derTr ubel enorm. Seit
er in Dortmund kickt, verzeichnen die
Hoteliers eine starkeNachfrage sei-
tens norwegischer Journalisten. Als
eine Art Sondergesandter für das nor-
wegischeTVfungiertJan Aage Fjör-
toft, einst Profi inFrankfurt, der sich
mit dem Aperçu unsterblich machte,
er wisse nicht, ob der als Schleifer be-
kannteTr ainerFelix Magath dieTita-
nic gerettet hätte, doch die Überleben-
den wären sicher topfit gewesen. Selbst
dieser gewitzte Fjörtoft vermochte Haa-
land nur wenig zu entlocken.
Eher istesdie Herkunft,die ihn inter-
essant macht, derFussballerhaushalt mit
demVater Alf-Inge Haaland, der in der
Premier League spielte. Er führte Haa-

land junior bedächtig an den Profifuss-
ball heran. Den Schritt nach Salzburgzu
tun,erschienkonsequent, denn imFuss-
balllabor des Red-Bull-Konzerns ist
schon manchesTalent herangereift, ohne
dass es sofort unter grösstem Druck ver-
schlissen wurde. Zudem ist Haaland se-
nior gut mit dem Manchester-United-
Coach Ole Gunnar Solskjaer bekannt.
Der stammt aus Norwegen, so wie die
Familie Haaland.Dank den gutenVer-
bindungen galt ManU lange alsFavorit
auf dieVerpflichtung Haalands.
Dortmund aber machte dasRen-
nen – wohl auch, weil derBVB glaub-
haft vermittelnkonnte, immer wieder
junge Spieler an internationales Spitzen-
niveau heranzuführen: Profis wieRobert
Lewandowski,Pierre-EmerickAuba-
meyang, Ilkay Gündogan,Ousmane
Dembélé und neuerdingsJadon Sancho.
Dass Manchester United kürzlichrecht
offensivkommunizierte, man habe Haa-
land bloss wegen diverser Klauseln, die
sich dasLager des Spielers gewünscht
habe, nicht unterVertrag genommen,
mag auch damit zu tun haben, dass man

ein wenig verstimmt darüberist, nicht
den Zuschlag bekommen zu haben.
Welcher Klub würde schon freiwil-
lig auf die Dienste eines solchesTalents
verzichten, wenn sich die Gelegen-
heit zurVerpflichtung bietet, zumal Er-
ling Haaland von RB Salzburg für nur
20 Millionen Euro Ablösesumme zu be-
kommen war? Und das für einen Stür-
mer, der herausragt in seiner Genera-
tion. Michael Zorc, der Dortmunder
Sportdirektor, sagte der«Welt»: «Er hat
eine unglaubliche Abschlussstärke mit
dem linkenFuss, aber dann auch – was
bei seinerKörpergrösse ungewöhnlich
ist – technischesFeingefühl und eine
enorme Schnelligkeit.» Und: «Er ist ein
komplett anderer Spieler als die, die wir
bisher hatten.»

Lieberlinks stattrechts


Zorc spielt nicht zufällig auf die Qualitä-
ten Haalands mit links an. Sieben seiner
achtTr effer erzielteerso, er braucht den
Ball nur auf demFuss zu haben, um ab-
zuschliessen.Fehlversuche scheint es in
seinemRepertoire kaum zu geben. Der
rechteFuss dagegen schien – bis zum
3:0 gegen dieFrankfurter Eintracht–
lediglich der Stabilisierung des Stand-
beins zu dienen. Ebenso ist erstaunlich,
dass Haaland wenig Ehrgeiz imKopf-
ballspiel zeigt, obschon ihn seine Grösse
dafür prädestinieren würde.
Seineeigentliche Qualität istgar
nicht so spektakulär, doch inVerbin-
dung mit seiner massiven Physis wird
sie zu einemWerkzeug, mit dem zumin-
dest gegenwärtig kaum eine Defensive
zurechtkommt: Haaland hat ein extrem
gutes Gespür dafür, sich beim schnellen
Angriff seinesTeams inPosition zu brin-
gen. Beschleunigter dann seine95 Kilo-
gramm, ist er kaum aufzuhalten.
Er ist also das genaue Gegenteil von
Paco Alcácer, der den Klub nach nur
anderthalb Saisons verliess und zurück
nach Spanien ging. Zwar wurde der bei
Barça fussballerisch sozialisierte Alcá-
cer vonFavre mit einer Bemerkung
bedacht, die für dessenVerhältnisse
einen Superlativ darstellt («Er denkt
Fussball»), glücklich wurde der we-
nigrobuste Angreifer aber nicht. Doch
anders als Alcácer, der kaum Deutsch
sprach und auch nur über rudimen-
täre Englischkenntnisse verfügte, kann
sich Haaland den Mitspielern mittei-
len.Was er von ihnen will, ist meist
vergleichsweise einfach: Ein präziser
Pass in denLauf genügt schon, um ihn
glücklich zu machen.

Acht Treffer infünf Spielen: Erling Haaland ist bereit für die nächstePrüfung. SASCHA STEINBACH / EPA
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