Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1
Auch viele Buchhandlungen können we-
gen des Coronavirus nicht weitermachen.
Bislang hat einzig Berlin eine Ausnahme
verordnet, dort bleiben die Läden weiter-
hin geöffnet. In den meisten anderen Bun-
desländern mussten die Buchhandlungen
am Mittwoch schließen. Aber die Notschlie-
ßungen bedeuten nicht, dass Kunden auf
Bücher verzichten müssen: Wie in anderen
Branchen verlagert sich auch hier das Ge-
schäft ins Netz, und Onlinehandel ist auch
weiterhin zugelassen. Viele Buchhändler,
die auch schon vor der Corona-Krise On-
lineshops betrieben haben, nehmen Bestel-
lungen telefonisch oder online entgegen.
Die Auslieferung funktioniert unterschied-
lich: Manche liefern im engeren Umkreis
kostenfrei und stellen die Sendungen per
Fahrrad zu. Alles andere läuft per Post.
Die Lage ist dennoch prekär: Vor allem in
kleineren Buchhandlungen macht der Ver-
kauf im Laden den größten Teil des Umsat-
zes aus. Müssen sie jetzt für Wochen schlie-
ßen, ist das existenzbedrohend. Nicht ver-
kaufte Ware geht aus den Läden zurück an
die Verlage. Den Buchhändlern gegenüber
sind diese laut Börsenverein kulant, sowohl
bei Rücksendungen als auch bei vereinbar-
ten Zahlungszielen. Der Börsenverein des
deutschen Buchhandels sieht aber umso
mehr die ganze Buchbranche bedroht und
fordert Soforthilfen. „Wir benötigen des-
halb effektive und unbürokratische Sofort-
maßnahmen von staatlicher Seite“, sagt
Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis.
Der Verein bittet die Politik zu prüfen, wie
die Grundversorgung der Bevölkerung
gewährleistet werden kann – etwa mit ver-
tretbaren Ausnahmeregelungen: „Gerade
wenn das öffentliche Leben so drastisch
eingeschränkt ist, ist die Versorgung der
Bürger*innen mit Büchern und damit ,geis-
tiger Nahrung‘ elementar.“ So müsste der
lokale Buchhandel auch die Versorgung
mit Schulbüchern übernehmen.
Vorerst bleibt es also der beste Weg,
online, aber am Ort zu bestellen. Der Ver-
lag Kiepenheuer und Witsch baut dafür in
sozialen Netzwerken unter #findyourbook-
store ein Verzeichnis lokaler Buchhändler
auf. carolin gasteiger

Die Vatikanischen Museen bieten sieben
virtuelle Rundgänge an. Interessierte kön-
nen unter http://www.museivaticani.va die Sixti-
nische Kapelle mit den Fresken Michelan-
gelos oder die Stanzen des Raffaels besich-
tigen.
DieMünchner Kammerspieleveröf-
fentlichen jeden Tag den internen Mit-
schnitt einer Inszenierung, darunter
Susanne Kennedys „Drei Schwestern“
(19. März), Yael Ronens „#Genesis“
(20.März) sowie Christopher Rüpings „Ham-
let“ (22. März). Die Mitschnitte sind jeweils
von 18 Uhr an für 24 Stunden verfügbar.
Beim „Spotlight Werbefilmfestival“
wählt eine Fachjurydie besten Werbe-
spotsdes Jahres aus, außerdem gibt es ei-
ne Publikumsjury mit ganz normalen Kino-
gängern. Wegen der Corona-Pandemie ist
die Publikumsabstimmung über die 54 Fi-
nalisten ins Netz verlegt worden. Ganz
Deutschland kann nun über die besten
Spots des Jahres 2019 abstimmen, einge-
reicht von Profis und Studenten. Das Vo-
ting-Tool ist bis Freitag, 22 Uhr, verfügbar.
Der Link zur laufenden Abstimmung lau-
tet: https://www.spotlight-festival.de. Die
Gesamtlaufzeit der Spots beträgt knapp
90 Minuten, die Gewinner werden kom-
mende Woche bekannt gegeben.
Aus derBerliner Clubszenewerden täg-
lich von 19 Uhr an DJ-Sets live übertragen.
„Wir wollen Clubkultur zugänglich ma-
chen auch in Zeiten der Quarantäne“, sagte
Lutz Leichsenring, Sprecher der Clubcom-
mission, in Berlin. Das sei allerdings kein
Aufruf zu einer Privatparty. Die Aktion
„#UnitedWeStream“ dient auch dazu,
Spenden für die in ihrer Existenz bedroh-
ten Clubs zu sammeln. Es sei zwar vom Se-
nat bereits ein Rettungspaket in Höhe von
zehn Millionen Euro gefordert worden,
„aber wir wollen nicht warten, sondern ak-
tiv werden mit der Kampagne“, sagte Leich-
senring.
Das Literaturhaus Graz startet am
20.März ein Corona-Tagebuch-Projekt,
bei dem österreichische Autoren über
ihren Alltag während der Corona-Krise
schreiben sollen. Die Beiträge werden je-
den Freitag online veröffentlicht. DasLite-
raturhaus Berlinbietet Livestreams der
Lesungen an. sz

von peter laudenbach

S


tephan Behrmann neigt nicht zu Hys-
terie. Er konstatiert sachlich, dass es
in der Corona-Krise für Tausende
Künstler „um die nackte Existenz geht“.
Der Geschäftsführer des Bundesverbands
Freie Darstellende Künste vertritt etwa
2500 Künstler und Einrichtungen der frei-
en Szene, die anders als die Stadt- und
Staatstheater kaum institutionell abgesi-
chert sind. „Der größte Teil dieser Produk-
tionszusammenhänge ist durch die Coro-
na-Krise akut gefährdet“, hält er fest.
Ebenso verwundbar sind die Freiberuf-
ler, die mit Verträgen für einzelne Stücke
in Stadt- und Staatstheatern arbeiten –
Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner,
Videokünstler, DJs, Lichtdesigner, Drama-
tiker, Musiker. Anders als ihre fest ange-
stellten Kollegen werden sie nur bezahlt,
wenn sie proben oder spielen. Wegen Coro-
na abgesagte Premieren und Vorstellun-
gen bedeuten für sie: keine Auftritte, keine
Gage, keine Tantiemen.
Die Theater sind auf die Arbeit dieser
Künstler angewiesen. Die Ensembles wer-
den seit Jahren ausgedünnt, die fest ange-
stellte Belegschaft schrumpft. Ohne die
zahlreichen Gäste wären die Theater schon
lange nicht mehr arbeitsfähig. Bei erhöh-
tem Produktionsvolumen, also deutlich
mehr Premieren und Aufführungen, ist die
Zahl der Festangestellten an den Bühnen
im vergangenen Jahrzehnt um etwa ein
Drittel gesunken. Entsprechend mehr
Stückverträge wurden mit Gästen unter-
schrieben. Aber die freiberuflichen Künst-
ler, die mit ihrer Flexibilität bis zur Selbst-
ausbeutung das hochtourige Produzieren
am Laufen gehalten haben, sind jetzt
schutzlos und schlecht oder gar nicht abge-
sichert.


In der Corona-Krise spitzt sich das Exis-
tenzrisiko der Theater-Freiberufler zu.
Marc Grandmontagne, der Geschäftsfüh-
rer des Deutschen Bühnenvereins, fordert
für sie wie für die Bühnen insgesamt finan-
zielle Unterstützung, am besten „in einer
gemeinsamen Kraftanstrengung des Bun-
des und der Länder“ durch einen mög-
lichst schnell aufzulegenden Notfallfonds.
„Natürlich müssen wir mit den freiberufli-
chen Kolleginnen und Kollegen solidarisch
sein“, findet Grandmontagne.
Das sehen möglicherweise nicht alle Mit-
gliedstheater des Bühnenvereins so, zu-
mindest nicht, wenn es Geld kostet. Lisa
Jopt, Schauspielerin und die kämpferische
Vorsitzende des Ensemble-Netzwerks, ei-
ner Interessenvertretung der künstleri-
schen Theaterbeschäftigten, berichtet von
wenig solidarischen Praktiken einzelner
Bühnen. Ein großes, hoch subventionier-
tes Stadttheater in Nordrhein-Westfalen
beispielsweise wollte Gastschauspielern
für Vorstellungen, die wegen der Schlie-
ßung der Bühnen abgesagt wurden, nur
die Hälfte der vertraglich vereinbarten
Gage bezahlen. Angesichts zu erwartender
Einnahmeausfälle würden sie damit ausge-
rechnet bei den Schwächsten sparen.
„Die Träger, also Städte und Länder,
müssen die Theater in die Lage versetzen,
ihre Verpflichtung gegenüber den Freien
einzuhalten und ihre Gagen auch während
der Theaterschließung ohne Abzüge zu
bezahlen“, fordert Lisa Jopt. „Es gibt auch
moralische Verpflichtungen, nicht nur ju-
ristische.“
Nach Gesprächen und Briefwechseln,
unter anderem mit dem Ensemble-Netz-
werk, entschied sich der Intendant, die Ver-
träge seiner Gastkünstler ohne Abstriche
zu bezahlen. Aber weil Theater kurzfristig
planen und Spielpläne von Monat zu Mo-
nat erstellt werden, gilt dieser Gagen-An-
spruch an allen Bühnen nur für angesetz-
te, aber abgesagte Vorstellungen, nicht für
die komplette Spielzeit. Solange der Spiel-
betrieb ruht, werden die meisten Freiberuf-
ler spätestens von Mai an kein Geld mehr
bekommen.
Einer von ihnen ist der Hamburger
Schauspieler Jannik Nowak. Eigentlich ist
er gut im Geschäft. Er hat bundesweit an
Stadt- und Staatstheatern gespielt. Bis vor
Kurzem stand er in Produktionen am Deut-
schen Schauspielhaus Hamburg auf der
Bühne, unter anderem in Kay Voges’ Insze-
nierung „Die Stadt der Blinden“. Die be-
reits angekündigten Vorstellungen wer-
den ihm bezahlt. Wie es von Mai an weiter-


geht, weiß er nicht. Die Dreharbeiten für ei-
ne NDR-Produktion: abgebrochen. Die Auf-
tritte seiner BandAlbers Ahoi: abgesagt.
„Ich habe keine Ahnung, ob und wie ich
ab Mai Geld verdienen werde“, sagt No-
wak. Es klingt eher gefasst als panisch.
Überhaupt fällt derzeit bei Gesprächen mit
Schauspielern, Regisseuren, Intendanten,
Verbandsvertretern auf, wie betont solida-
risch sie argumentieren – nicht unbedingt
typisch für eine Branche voller Egoshoo-
ter. Allen ist wichtig, dass sämtlichen
Künstlern und Bühnen geholfen wird, un-
abhängig von Rechtsform, Genres und
Eigeninteressen. Keiner der Gesprächs-
partner verlangt Privilegien. Es gehe um
das Überleben der gesamten kulturellen In-
frastruktur, sagen sie. Und viele machen
sich Gedanken, wie sie der Gesellschaft in
der Krise etwas zurückgeben können, etwa
durch Gratisauftritte im Internet.

Bis die Bühnen wieder spielen können,
müssen Freiberufler von ihren Ersparnis-
sen leben. Aber „bei ihrem Verdienst ha-
ben die meisten keine Chance, Rücklagen
zu bilden“, sagt Lisa Jopt. Die Lage vieler
frei arbeitenden Theaterkünstler sei „ka-
tastrophal“, viele hätten „Existenzängste“.
Das Brutto-Durchschnittseinkommen der
rund 28000 freiberuflichen Schauspieler,
Bühnenbildner, Kabarettisten und Regis-
seure, die bei der Künstlersozialkasse ver-
sichert sind, lag 2018 bei 18 000 Euro, das
sind 1500 Euro im Monat. Bei den 53 000
Musikern ist es noch weniger: 14 600 Euro
im Jahresdurchschnitt. Da wird es schnell
eng, wenn für drei, vier Monate alle Einnah-
men ausbleiben. Auch die meisten Zweit-
jobs, mit denen sich viele über Wasser hal-
ten, indem sie unterrichten, kellnern oder
Kunstprojekte an Schulen entwickeln, fal-
len derzeit weg.
Das trifft auch erfolgreiche Regisseure.
Hans-Werner Kroesinger und die Autorin

Regina Dura zählen seit vielen Jahren zu
den renommiertesten Dokumentartheater-
Machern des Landes. Derzeit verdienen
sie: nichts. Weil ihre Inszenierung am
Schauspiel Leipzig nicht gespielt wird, er-
halten sie keine Autoren-Tantiemen. Ob
die beiden Inszenierungen, die sie seit Mo-
naten vorbereiten, „Die Ermittlung“ an
der Berliner Volksbühne (geplante Premie-
re: Anfang Mai) und ein Stück über die
Nürnberger Prozesse am Schauspiel Nürn-
berg (geplanter Probenbeginn: Anfang Ju-
li), noch herauskommen werden, ist offen.
Ob und wann sie mit den Proben beginnen
können, wissen sie nicht.
Gleiches gilt für ihren Lehrauftrag im
Sommersemester an der Münchner Thea-
terhochschule August Everding und einen
Workshop bei den Bayerischen Theaterta-
gen. Ob ihre Auftraggeber ihnen ein Aus-
fallhonorar zahlen werden, ist eine Frage
der Kulanz. „Man bewegt sich auf dünnem
Eis“, sagt der Stoiker Kroesinger. Für die
nächsten Monate reichen ihre Ersparnisse.
Weitere Perspektiven: ungewiss.
Ein Aufruf an die Bundesregierung, all
diesen ungeschützten Kreativfreiberuf-
lern schnell und unbürokratisch zu helfen,
hat inzwischen mehr als 220 000 Unter-
zeichner. Unklar ist, ob das derzeit einen
Politiker interessiert. Klar ist aus Sicht von
Stephan Behrmann vom Bundesverband
Freie Darstellende Künste allerdings, dass
die bisherigen Hilfsmaßnahmen für die
Wirtschaft, also Kurzarbeitergeld, Steuer-
stundung und leichterer Zugang zu Kredi-
ten, die Nöte der Theaterfreiberufler nicht
lindern. Sie brauchen andere Formen der
Existenzsicherung.
Carena Schlewitt ist die Intendantin des
Dresdner Festspielhauses Hellerau, neben
dem Berliner HAU und der Hamburger
Kampnagel-Fabrik eine der wichtigsten
Spielstätten des Landes jenseits der Stadt-
und Staatstheater. Schlewitt und ihr Team
haben viel zu tun. Jedes geplante Gastspiel
muss abgewickelt, mit jeder der internatio-
nalen und deutschen Künstler und Compa-
gnien eine pragmatische, möglichst faire
Lösung gefunden werden. Ein Beispiel von

vielen aus Schlewitts Liste abgesagter Pro-
jekte: Eine Inszenierung der Gruppe „Thea-
trale Subversion“ aus Dresden hätte bei
den Sächsischen Theatertagen herauskom-
men und dann bei mehreren Gastspielen
an anderen deutschen Bühnen gezeigt wer-
den sollen. Das fällt aus ebenso wie die ge-
plante Kooperation mit einer Schule. „Ich
weiß nicht, wie der Wiedereinstieg ausse-
hen soll, wenn die Krise irgendwann vor-
bei ist“, sagt die Intendantin.

Schon weil niemand weiß, welche Reise-
beschränkungen in einigen Monaten gel-
ten, muss man den Betrieb vielleicht zu-
erst mit heimischen Gruppen beginnen.
Bis dahin bemüht sich Schlewitt, mit den
internationalen Kooperationspartnern im
Austausch zu bleiben. Eine Bühne wie Hel-
lerau wird das weltweite Netzwerk von
Künstlern, Compagnien, Produzenten
auch in Zukunft brauchen.
Aber diese Zukunft könnte mühsam
werden. Die Produktionen der freien Sze-
ne werden aus diversen Zuwendungstöp-
fen finanziert und müssen jeweils von Pro-
jekt zu Projekt oder von Jahr zu Jahr bean-
tragt werden. Zuwendungsbescheide erfol-
gen in der Regel unter Haushaltsvorbehalt.
Niemand weiß, wie die öffentlichen Haus-
halte von Bund, Ländern, Kommunen
nach der Krise aussehen, wie umfangreich
die Förder-Budgets ausfallen, wie groß der
politische Wille und der Spielraum zur Fi-
nanzierung von Performances und Tanz-
stücken jenseits der Stadttheater sein wer-
den. Aber wenn der Berliner Kultursenator
Klaus Lederer, ein großer Fan der freien
Szene, erklärt, sein Etat sei absehbar „über-
fordert von dem, was wir unbedingt leisten
müssen, etwa um landeseigene Einrichtun-
gen zu stabilisieren“, dann ahnt man, dass
es für die freie Szene eng werden kann.
Ästhetisch ist das gut gelaunte Boule-
vardtheater der Berliner Komödie am Kur-

fürstendamm weit entfernt von den Avant-
garde-Tanzstücken an Carena Schlewitts
Dresdner Festspielhaus. Die finanzielle
Notlage aber ist bei einem der größten
deutschen Privattheater mindestens so
groß wie in der freien Szene. Weil der Inten-
dant und Eigentümer Martin Wölffer
kaum Subventionen erhält, muss er seine
Tourneegastspiele und die Aufführungen
an Bühnen in Berlin und Hamburg fast
komplett aus den Kasseneinnahmen finan-
zieren. Derzeit kauft kein Mensch Theater-
karten, aber die Kosten laufen weiter.
„Wenn wir keine Einnahmen haben oder
kein kleines Wunder geschieht, müssen
wir in etwa zwei Monaten Insolvenz anmel-
den“, sagt Wölffer.
So geht es allen Privattheatern. Als am
Donnerstag Berlins Kultursenator Lederer
die Intendanten um Verständnis für seine
Entscheidung bat, den Spielbetrieb einzu-
stellen, sagte der Leiter einer Kabarettbüh-
ne einen Satz, den man nicht so schnell ver-
gisst: „Wenn wir jetzt schließen, machen
wir nie wieder auf.“
Betroffen wäre bei einer möglichen In-
solvenz der Wölffer-Bühnen ein Theaterbe-
trieb mit langer Tradition und hervorra-
gendem Ruf, einem Jahresumsatz von
zehn Millionen Euro, 120 Festangestellten
und etwa 400 freien Mitarbeitern. Eine
von ihnen ist die Regisseurin Katharina
Thalbach. Am 22. März hätte ihre Inszenie-
rung „Mord im Orientexpress“ im Schiller-
Theater herauskommen sollen. Kosten der
Wölffer-Produktion: eine Million Euro. Die
Hälfte der 40 000 Eintrittskarten für die
Vorstellungen bis Mai sind schon verkauft.
Dass Wölffer noch nicht bankrott ist, ver-
dankt er seinem Publikum. Die wenigsten
Kartenkäufer verlangten ihr Geld zurück.
Viele sind Stammgäste und wollen ihr Lieb-
lingstheater unterstützen. Sie schenkten
der Bühne den Kartenpreis.
Wölffer weiß nicht, wie es weitergeht.
Aber er möchte weitermachen und sein
Theater retten. „Vielleicht sind wir alle et-
was weniger egoistisch, wenn wir das zu-
sammen überstanden haben“, sagt der In-
tendant.

Der Künstler – ein Ukrainer – ist weltbe-
kannt, sein Werk wird in den großen Muse-
en der Welt gezeigt, bei internationalen
Ausstellungen und Biennalen. Zudem ge-
hört er nicht nur zum Programm zahlrei-
cher Galerien, seine Zeichnungen, Videofil-
me und Gemälde waren bislang auch auf
Auktionen gefragt. Doch in den Stunden, in
denen auf der ganzen Welt Galerien „vor-
übergehend“ schließen, Messen und Aukti-
onen zwischen Moskau und New York abge-
sagt oder verschoben werden, ist die Stim-
mung in der Berliner Wohnung ange-
spannt: Das Einkommen hat zum Unterhalt
gereicht, aber es gibt kaum Rücklagen. Wo-
von wird die Familie leben – in den nächs-
ten Wochen, in den kommenden Jahren?
Der junge Australier, der vor wenigen
Jahren nach Berlin gezogen ist, hat lange
um seine Aufenthaltsgenehmigung ge-


kämpft. Wer nicht aus Europa stammt, son-
dern beispielsweise aus Neuseeland oder
Ghana, muss für die Aufenthaltserlaubnis
ein Einkommen nachweisen, muss Rech-
nungen, Quittungen, Aufträge bis hin zu
Ausstellungseinladungen, Empfehlungs-
schreiben und Verträgen mit Galeristen
vorweisen. Ab und an war der Australier
kurz davor, nach England umzuziehen,
doch war die große, internationale Berli-
ner Szene ideal. Er konnte ausstellen und
nebenbei einen Roman veröffentlichen
und für ein Szene-Magazin schreiben.
Doch was wird aus dieser eng verwobe-
nen, internationalen Szene werden, wenn
der Kunstmarkt sich nicht schnell erholt?
Berlin war ja nicht nur der Ort, an dem man
günstig Atelierräume anmieten und Kura-
toren treffen konnte, dort fielen auch alle
paar Monate amerikanische, italienische

und chinesische Sammler zu den gemein-
samen Vernissagen der Galerien ein – und
kauften. Derzeit sind die Galerien zu, der
Markt bedrückend still. Während in der
vergangenen Woche Kulturmanager wie
Daniel Hug von der Art Cologne und Maike
Cruse vom Gallery Weekend in Berlin noch
zuversichtlich in den Herbst blickten, stel-
len sich viele die Frage, was ist, wenn die
Rezession mit voller Wucht kommt.
Wie alle Selbständigen stehen auch
Künstler jetzt vor dem Nichts. Und es ist
vor allem die internationale Berliner Sze-
ne, auf die Deutschland so lange so stolz
war, die besonders betroffen sein wird.
New York war die Metropole der Avantgar-
de, in London kaufte ganz Europa ein, aber
Berlin war die Stadt der Künstler, Anzie-
hungspunkt für eine ganze Generation.
Was wird aus denen werden, die aus den

USA und Schottland, aus Spanien, Südame-
rika, Vietnam, Neuseeland und Nigeria ge-
kommen sind, die sich im WG-Zimmer
und mit Gelegenheitsjobs eingerichtet hat-
ten. Und für deren Überleben nicht nur ihr
Können im Atelier und dem Off-Space ent-
scheidend war, sondern auch ihre Fähigkei-
ten, sich im Ausländeramt zu behaupten.
Diese Künstler haben unendlich viel
zum Ruf nicht nur Berlins, sondern auch
Deutschlands beigetragen. Einem Land,
das nicht länger nur biedere Kulturnation
war, sondern mit „Berlin“ das angesagtes-
te Label zeitgenössischer Kunst besaß.
Es ist derzeit kaum abzusehen, wie viele
dieser „Berliner“ in dieser Krise nicht nur
ihr Einkommen und ihre Karriere verlie-
ren, sondern auch ihren Status in Deutsch-
land – und damit ihre künstlerische Hei-
mat. catrin lorch

Corona-KriseDeutschlands Kulturlandschaft ist bedroht


Hortet geistige


Nahrung!


Per Post oder Fahrrad: Buchläden
liefern auch nach Hause

Literatur
Olivier Guez erzählt von
den tragikomischen Abenteuern
eines liebestollen Mannes 11

Wissen
Schon mit acht Monaten
reagieren Babys
auf falsche Grammatik 16

 http://www.sz.de/kultur

DEFGH Nr. 66, Donnerstag, 19. März 2020 HF2 9


Die Komödie am Kurfürstendamm
hat Glück: Viele Stammkunden
verlangen ihr Geld nicht zurück

Kulturveranstaltungen


im Netz


„Ich habe keine Ahnung,


ob und wie ich ab


Mai Geld verdienen werde.“


Hohe Verluste


„Wenn wir jetzt schließen, machen wir nie wieder auf“:


Freie Theater und freischaffende Regisseure,


Schauspieler und Bühnenbildner fürchten um ihre Existenz


Vor dem Nichts


Die Sorge geht um in der internationalen Kunstszene Berlins. Auch der Aufenthaltsstatus vieler Künstler ist prekär


Viele Künstler unterrichten
oder kellnern. Auch
diese Zweitjobs fallen jetzt weg

FEUILLETON


Jahreshöhepunkt in der Stadt der Künst-
ler: Gallery Weekend.FOTO: IMAGO IMAGES/JOKO

Solange ein Stück im Spielplan steht, bekommen die Künstler Geld. Aber danach? Szene aus „Stadt der Blinden“ in Hamburg. FOTO: SCHAUSPIELHAUS HAMBURG, MARCEL URLAUB

HEUTE

Free download pdf