Samstag, 28. März 2020 WOCHENENDE 35
manche Paare einanderausgeliefert.
Sie können sich nicht ablenken durch
Arbeit,Sport oderFreunde. Im Moment
kann man sich nicht einmal mitKunst
und Kultur zerstreuen, jedenfalls nicht
mit jener, die physisch erfahrbar ist.
Kommt hinzu:Das Ende derPandemie
ist noch nicht richtig absehbar.
Warum halten esPaare nicht miteinan-
der aus?
In meiner Praxis bekomme ich vonPaa-
ren oft zu hören, dass man sich nicht
genug Zeit füreinander nimmt,dass man
sich nicht gesehen,gehört und letztlich
nicht mehr geliebt fühlt. Der Alltag ist
anspruchsvoll, dieTage sind ausgefüllt.
Plötzlich erlebt man sich für längere
Zeit auf engstemRaum. Manche mer-
ken, dass sie einander gar nicht so gerne
mögen. Für Paare, die auch bisher nicht
gut kommunizierten und sogar anTren-
nung dachten, verschärft sich die Krise.
Nun bedeutet ja nicht jeder Streit das Ende,
Paare sind sich immer wieder uneinig.Wie
müsste man vorgehen, damit man trotz-
dem gut über die Runden kommt?
Es gibt drei existenzielle Bedürfnisse,
die man im Moment besonders beach-
ten sollte. Da wäre einmalVerbunden-
heit:Verbundenheit mit demPartner ,
aber auch mit anderen Menschen. Denn
der Partner kann uns nicht alles geben,
was wir brauchen.
Was ist das zweiteBedürfnis?
Man sollte sich Tätigkeiten suchen, die
mitSinnverbundensindundunsErfolgs-
erlebnisse garantieren. Man nennt die-
sesBedürfnisKompetenzerfahrung.Man
bringtzumBeispielimHome-Officeend-
lich eineArbeit zu Ende oderräumt den
Kleiderschrankauf.Mantutirgendetwas,
hinter das man einen Punkt setzen kann
und das einen danach gut fühlen lässt.
Und drittens?
Autonomie. Um sie zu erfahren, sollte
man sich entsprechende Strukturen
schaffen. Wer nutztin derWohnung
welchenRaum zum Arbeiten?Wie und
wo kann man sich zurückziehen? Man
sollte den jetzigen Alltag, den man sel-
ber gestalten muss, strukturieren.Pau-
sen schaffen, kurz allein hinausgehen.
Allein das hilft,um die Zeit bestmöglich
zu gestalten und zu überstehen.
Manchmal dürfte auch diesesWissen
nicht mehrausrei chen, weil beide so an-
gespannt sind.Wie verhindert man, dass
ein Streit eskaliert?
Bei denPaaren in meiner Praxis ver-
suche ichdie 5:1-Regelzu etablieren.
Das ist eine bewährte paartherapeuti-
scheTechnik: Für jede Kritik am andern,
für jeden Streit und jede unangenehme
Interaktion sollte es mindestens fünf
angenehme Interaktionen geben.Das
kann ein liebevoller Blick sein, eine Um-
armung, ein Lob – irgendetwas, das die
Stimmung hebt.
Warum gerade fünf?
Der amerikanische Psychologe John
Gottman hat in Studien herausgefun-
den, dassglückliche Paare durchaus
st reiten, aber insgesamt liebevoll und
wertschätzend miteinanderkommuni-
zieren. Also hat er die 5:1-Formel auf-
gestellt. Und auf diesen grundsätzlich
freundlichen Umgang miteinander soll-
ten wir jetzt mehr denn je achten.
Was aber, wenn man es gerade nicht
schafft, den andern zu umarmen, man
jetzt einfach hinausgehen müsste, ins
Fitnesscenter oder einenFreund auf ein
Bier treffen, um runterzukommen – das
aber jetzt einfach nicht geht?
Es gibt eine weitereTechnik aus der
Paartherapie, zu der ich meinePaare an-
lei te:Wenn sie im Streit an einen Punkt
gelangen, an dem sie ihreWut nicht
mehr herunterregulierenkönnen, sol-
len sie ein Stoppwort sagen. Das Stopp-
wort haben sie vorab miteinander ausge-
macht, und es ist das Signal, zu streiten
aufzuhören und auseinanderzugehen,
bis sich beide abgekühlt haben.
Wie könnte so einWort lauten?
Werden Sie kreativ!Jedes Paar hat sein
eige nespersönlichesStoppwort,von«Ba-
hama» über «Socke» bis «Minztee» – ich
habe schonviele gehört.Falls dasPaar
Kinderhat,kannaucheinFamilienstopp-
worterfundenwerden,dasallesagendür-
fen, wenn sie den Stress nicht mehr aus-
halten.Sobald es fällt,so dieAbmachung,
gehensieauseinanderundtreffensicherst
zu einem vereinbarten Zeitpunkt wieder.
Im Moment ist das natürlich schwierig,
wenn alle in derWohnung festsitzen. So-
baldmansichineinanderverkrallt,solldie
Stoppwort-Technik einem aber erlauben,
den Streit zu unterbrechen. Der eine geht
dann vielleicht kurz hinaus, in denWald
oder einmal um den Block.
Warum ist derAustausch mit anderen
Menschen so wichtigfür eine Beziehung?
Man braucht auch Inspiration von aus-
sen,plattgesagt.Wennmanimmerzusam-
menhockt, lässt das die Flamme schnell
eingehen.Eigene Interessen undFreund-
schaften sind wichtig. Man muss das Ich
nähren,denn nicht alles, was der eine toll
findet, findet der andere ebenso toll. Nur
aus zwei Ich kann einWir entstehen.
Sie haben gesagt, auchPaare würden
Ihnen erzählen, sie fühlten sich einsam
in diesenTagen. Kann man trotz Ge-
sellschaft desPartners einsamersein als
üblich?
Natürlich. DerPartner mag der beste
Mann oder die besteFrau sein, den
oder die man sich vorstellen kann. Aber
er deckt eben nicht alles ab. Nehmen wir
ein e Frau, die an ihrem Mann schätzt,
dass er so stabil ist und sich durch nichts
aus derRuhe bringen lässt. Gleichzeitig
ist er nicht sehr einfühlsam und empa-
thisch,sodasssienormalerweisezuihrer
bestenFreundin geht,wenn sieKummer
hat,und sich von dieser in denArm neh-
men lässt.Das fällt jetzt weg, was ein Ge-
fühl der Einsamkeit bewirken kann.
Kann ein langes Skype-Gespräch mit
einemFreund, der Leseklub viaVideo
oder eine virtuelle Dinnerparty die Si-
tuation entspannen?
Es ist wichtig, dass wir inKontakt mit
anderen bleiben und kreativ sind. Be-
vor wir in die Depression versinken und
gar nichts mehr machen, würde ich sa-
gen: Natürlich, ruft alle an, skypt mitei-
nander,nehmtanOnline-Konzertenteil!
Alles, was uns mit anderen verbindet,ist
gut. Klar: Besser ist es immer noch, sich
in den Arm zu nehmen und zu küssen.
Aber das geht jetzt nicht. Umso mehr
sind solche virtuellen Begegnungen die
zweitbesteWahl.
Sind Kinder in derräumlichen Enge
eher ein Puffer, oder erhöhen sie das
Konfliktpotenzial?
Das ist total unterschiedlich. Manchen
Paaren geben die Kinder Sinn und eine
Struktur vor. Man sagt sich: Als Mut-
ter undVater tun wir alles, damit unsere
Kinder möglichst gelassen und fröhlich
durchdieseZeitkommen.Andere haben
so mit den eigenen Sorgen und Ängsten
zu kämpfen, dass die Kinder zur zusätz-
lichen Belastung werden und jedes Ge-
schrei an den Nerven zerrt.
Kann es auch eine Anpassung an die
Ausnahmesituation geben?
Ichdenkeschon,vorallem,wenneinEnde
in Si cht ist. Menschen finden aufgezwun-
geneVeränderungen meist nicht toll,aber
wirsindtrotzdemerstaunlichanpassungs-
fähig. Zuerst will man nicht wahrhaben,
dass man in seinerFreiheit eingeschränkt
ist,reagiert mitWiderstand undTrotz.Bis
man merkt, dass man mit seinemVerhal-
ten etwas dazu beitragen kann, damit die
Kurve der Ansteckungen abflacht. Man
erkennt,dass es auch eineForm vonFrei-
heit ist, Selbstverantwortung undVerant-
wortung für andere zu übernehmen.
WelchePaare überstehen diese beson-
dere Zeit denn nun am besten?
Paare mit krisenerprobten Beziehun-
gen werden die soziale Isolation aus-
halten. Die sagen sich: Das kriegen wir
hin. Sie haben vielleicht schon andere
Ausnahmesituationen bewältigt, was
das gegenseitige Commitment erhöht.
Ein starkes Gefühl derVerbundenheit
kann sogar die Intimität fördern, was
sich wiederum positiv auf die Sexuali-
tät auswirkt.
Man redetwenig über Leute, die mit
de r Selbstisolation ganz gut zurecht-
kommen,weil sie gerne für sich sind und
die Ruhe und Entschleunigung schätzen.
Klar, diese Menschen gibt es auch. Sie
schöpfen ihren Selbstwert aus sich her-
aus undkonnten ihreTage schon immer
gut selber gestalten,auch wenn nie-
mand die Strukturen vorgab. Anders ist
es für jene, die aus der Arbeit den gan-
zen Sinn beziehen und diese nun weg-
bricht.Langeweilekommt auf, sie lei-
den unter fehlendem Leistungsstolz und
fallen inein Loch. Allerdings kann die
Krise auch da eine Chance sein: Plötz-
lich hinterfragt man, wofür man bisher
eigentlich gelebt hat.
Sehen Sie in der Corona-Krise demnach
auch Gutes?
WirsindjetztunterUmständenmitFra-
gen konfrontiert,über die wir im getak-
tetenAlltag nicht nachdenken mussten.
ImHamsterradspürtmankeinVakuum.
Auf einmal hat man Zeit, herauszufin-
den, waseinem wichtigist im Leben.
Vielleicht stösst das sogar eineVerän-
derung an.
Wie verbringen Sie dieTage? Arbeiten
Sie noch?
Ich habe alle Sitzungen inVideo- und
Telefongespräche umgewandelt, so wie
es viele meinerKollegen zurzeit tun.Ich
finde dieseTherapieweise aber subopti-
mal, da vieles verloren geht.
Was geht verloren?
Die Verbundenheit im gemeinsamen
Raum, es fällt einTeil der feinenWahr-
nehmung weg. Am Telefon entfallen
Gesten, Blicke, die ganzeKörperspra-
che, die man mitdeutet, wenn man je-
mandem gegenübersitzt.Aber wenn ich
damit andere und mich selber schützen
kann, dann weiche ich gerne darauf aus.
Wobei ich mich sehr auf die Zeitfreue,
wenn ich wieder hinausgehen und den
Leuten in meiner Praxis persönlich be-
gegnen kann.
«Viele Leute berichtenvon Einsamkeit, sie fühlen sich getrennt, abgeschnitten von allem», sagt diePaartherapeutinSandra Konrad. KARINHOFER /NZZ
«Auf einmal hat man
Zeit, herauszufinden,
was ei nem wichtig ist
imLeben. Vielleicht
stösst das sogar e ine
Veränderung an.»
Psycholo gin
und Autorin
SandraKonrad, 45, ist sys-
temische Einzel-, Paar-
und Familientherapeu-
tin mit eigener Praxis in
Hamburg. Sie schreibt
auch Sachbücher, zuletzt
erschienen «Liebe machen» (2015) und
«Das beherrschte Geschlecht» (2017),
beide im Piper-Verlag.