Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samstag, 28. März 2020 GESELLSCHAFT 37


BESONDERE KENNZEICHEN


Die Unorthodoxe


Als «Tatort»-Kommissarin war Delia Mayer zu oft nur Dekoration. Je tzt spielt sie in der Netflix-Verfilmu ng «Unorthod ox».


Und setzt sich zum ersten Mal öffentlich mit ihren jüdischen Wurzeln auseinander.VON DANIELE MUSCIONICO


DieFrau, die bereitswartet, isterheb-
lich kleiner als imFernsehen. Doch das
is t nicht dasVerblüffendste an einem
Tr effen mit Delia Mayer.Die, par-
don, auffallend hübsche Musikerin und
Schauspielerin, die achtJahre lang den
Schweizer«Tatort» mit emotionsloser
Miene leider nur dekorierte, ist nach
warmer Begrüssung eine Frau von
höchster Betriebsamkeit. Denn kaum
sitzt man, steht man schon wieder auf
und zieht um in eine andere,leisere
Ecke.Und was tutFrau Mayer? Sie
schleppt sämtliche Stühle selber und
kümmert sich gleichzeitig um die Qua-
lität derTonbandaufnahme, mitder das
Gespräch festgehalten werden soll. Sie
fühlt sich verantwortlich für das Ge-
lingen auch dieses Gigs.
Weiss der Geier von Leutschenbach,
wer dieFigur von Liz Ritschard, der
Luzerner Schattenkommissarin an der
Seite von Stefan Gubser, zu verant-
worten hatte. Es erfordert nur wenige
Minuten in der Gegenwart der Schau-
spielerin, und klar ist: Die echte Mayer
ist der falschen Ritschard in puncto
Durchsetzungsvermögen um Köpfe
überlegen.


Botox? Nein danke!


Delia Mayeristeine Grenzgängerin.
ZwischenWiener Burgtheater, KKL
Luzern und«Tatort», zwischenJazz und
Pop. Sie denkt mit und mischt sich ein,
schreibt ihre eigenen Lieder. Sie kann
sehr vielVerschiedenes und will sich
selber bei allem treu bleiben. Ihrem
eigenenWeg,ihren Talenten und ge-
nauso ihremÄusseren.
Sie sei zu bockig, sagt Delia Mayer,
um gutgemeintenAufforderungen von
Maskenbildnern oder jüngerenKolle-
ginnen zu folgen und sich Botox spritzen
zu lassen. Auch das Elend der Kamera-
leute im Umgang mit ihr – «Dein Haar
sieht aus, als ob ich einen Lichtfehler ge-
macht hätte» – kümmert sie nicht:Ihren
Schopf zieren einzelne graue Strähnen,
c’est la vie. Und in Bezug auf anzügliche
Angebote für die Besetzungscouch–
selbstverständlichkennt auch sie diese –
glaubt man ihr aufsWort, dass sie Män-
nern stets dieselbe schlagende Antwort
erteilt:Türknallen.
Delia Mayer ist indenErzählun-
gen von sich selber halb Amazone und
halb Scheherazade.
Karrierefördernd ist ihrAutonomie-
bewusstsein freilich nur bedingt.Fast
schon tödlich für eine weiblicheLauf-
bahn im Showbusiness, imFilm- und
Theatergeschäft ist, dass die Mayer
in der Arbeitswelt gerne dieKlappe
aufreisst. Immerhin erkämpfte sie sich
damit beim«Tatort» das Privileg, mit
Redaktion,Regie undAutoren im Dia-
log zu sein über ihrRollenprofil. Doch
zu vieleKöche rührten den Brei, und
die Schauspielerinkonnte am Ende
nur noch abschmecken.


Freigeist und Rebellin


Für das Privileg, dasselbe Gehalt zu
bekommen wie ihr männlicherKol-
lege, reichte ihre Streitbarkeit aller-
dings nicht. So waren es auch prag-
matische Überlegungen, die sie an der
Rolle festhalten liessen. Sie ist allein-
erziehende Mutter einer15-jährigen
Tochter. Das Leben einerFreischaf-
fenden verbietet es offenbar, beruflich
allzu wählerisch zu sein.
Die Mayer ist einFreigeist und eine
Rebellin. Solche Qualifikationen trägt
sie stolz wie Orden. Sie weiss dabei
sehr wohl, dass sie eine fordernde und
damit unbequeme, herausfordernde
Kollegin sein kann. Anspruchsvoll, laut,
neugierig und dauerndin Bewegung:
«Aber so sind wir alle!», sagt sie. Die-
ses «wir» wiederholt sie imLaufe der
Unterhaltung gern. Delia Mayer denkt


nur selten in der erstenPerson Einzahl,
meistens argumentiert sie mit demVer-
antwortungsgefühl einerRudel-Mama.
«Ich definiere mich über dieBande»,
sagt sie. Und daskommt freilich nicht
von ungefähr.
Aufgewachsen ist sie in einemFami-
lien-«Biotop», das1967, als Delia Mayer
zurWelt kam, zufällig gerade Station
in Hongkong machte. Sie ist Mitglied
eines der illustreren,wenn nicht des
illustersten SchweizerFamilienunter-
nehmens im Bereich Musik:VaterVali,
Autodidakt, Mitgründer derHarlem
Ramblers, ist alsBanjo-Spieler und

Kontrabassistein internationaler Be-
griff; BruderJojo spielt Schlagzeug,
lebt in NewYork und tratmit Grös-
sen wie Dizzy Gillespie, Nina Simone
und Monty Alexander auf.
Dochnur wenige wissenvonDelias
Mutter, Myriam Mayer. Sie istkeine
starkeFrau, «sie ist eine sehr, sehr
starkeFrau», sagt dieTochter. Die
Mutterrockte zeitlebens dieFirma,
sie beschützte und versammelteeine
Herde, in der sich verschiedeneTem-
peramente trafen.
«Ich bin ein Konglomerat», sagt
Delia Mayer. Die Schauspielerin ist

aufgewachsen zwischen einerväterlich
schweizerischen Seite, die Berlin, Kata-
lonien,Frankreich und das Südtirol
mit in den Genpool brachte. Die müt-
terliche Seite stammte ausPolen und
Russland. Delia wuchs ineinemoffe-
nen und gastfreundlichen Haushalt auf,
in dem Nationen, Sprachen undKünste
in einer wilden Mischung nebenein-
ander lebten und sich gegenseitig be-
fruchteten. Man sprach zu Hause zwar
Schweizerdeutsch, doch Englisch lag
immer auch in der Luft, und von der
Mutter bekam sie Jiddisch ins Ohr.
Heute spricht sie sechs Sprachen.

Delia Mayer hat jüdischeWurzeln.
Das war bisher weder für sie persön-
lich noch in ihrer Arbeit etwas, womit
sie sich besonders auseinandersetzte.
Darüber sogar öffentlichreden?Wes-
halb? Sie hatte eine Mutter, die ihre
Gemeinde verliess, als sie sich in einen
Jazzmusiker verliebte, der mitReligion
nichts am Hut hatte.Dochplötzlich
ist alles anders. Mit einem Mal steht
ihre eigene Geschichte imRaum. Die
Wende begann mit dem Glück, in Maria
Schraders Netflix-Vierteiler «Unortho-
dox» eineRolle spielen zukönnen. Ge-
dreht wurde auf Jiddisch, Mayer war die
einzige Schweizer Schauspielerin in der
internationalen Produktion.

Die böse Schwiegermutter

«Unorthodox» folgt dem autobiografi-
schen Bericht derJüdin DeborahFeld-
man und ihremAusbruch aus der ultra-
orthodoxen, chassidischen Satmar-
Gemeinde inWilliamsburg,NewYork.
Das Buch hatte bei seinem Erscheinen
2016 umgehend die Bestsellerlisten ge-
stürmt, bereits drei Monatespäterwaren
über eine Million Exemplare verkauft.
Delia Mayer spielt die Schwiegermut-
ter der Hauptfigur Esty (Shira Haas),
die das Gebot der Unterwerfung der
Frauen unter die striktenRegeln der
Gemeinde eisern hochhält und vertei-
digt. Sie ist der Gegenpart zu Esty und
deren Emanzipation.
Die Begegnung mit derRegisseu-
rin Maria Schrader und dieAufgabe
derRolle haben Delia Mayer zu ihren
Wurzeln zurückgeführt.Vielleicht in
dieser Intensität sogar zum ersten Mal.
Ob damitetwas von ihrer Unruhe ge-
heilt wird? DieFolgen sind noch nicht
abzusehen.Sie selberahnt: Die Zu-
kunft war noch nie so offen wie jetzt.

Delia Mayer ist halbAmazone, halb Scheherazade. CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ

Delia Mayer


denkt nur selten in der


ersten Person Einzahl,


meistens argumentiert


sie mit dem


Verantwortungsgefühl


einer Rudel-Mama.

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